Wellesz, Egon

geb. als Egon Joseph Wellesz am 21.10.1885 in Wien – gest. am 9.11.1974 in Oxford, GB; Komponist, Musikhistoriker und Musikkritiker, Exilant

E. W. wuchs als Sohn jüdischer Eltern in Wien auf, wo er das Gymnasium besuchte und 1904 an der Universität das Studium der Rechtswissenschaften begann, bereits im zweiten Semester aber an die philosophische Fakultät wechselte, weil er sich für Musik und Musikgeschichte interessierte und Lehrveranstaltungen von Guido Adler besuchte. 1908 promovierte er mit einer Arbeit über Giuseppe Bonno (1711-88). Im selben Jahr trat er aus der israelit. Kultusgemeinde aus, heiratete die spätere Kunsthistorikerin Emmy Stross u. begann im Zuge eines Venedig-Aufenthalts sich intensiv mit der venezian. Oper, insbes. mit dem Werk von Francesco Cavalli (1602-76), zu beschäftigen. Diese Studien flossen 1913 in seine Habilitationsschrift Cavalli und der Stil der venetianischen Oper von 1640-1660 ein. Seit 1911 lehrte W. an der Univ. Wien, aber auch anderen Einrichtungen wie z.B. am Neuen Wiener Konservatorium, an der Urania sowie an der Musikhochschule Mannheim. Er war mit Kokoschka und Loos gut bekannt, mit Alban Berg u. Anton Webern befreundet, musikalisch von Bruckner und Mahler beeinflusst, bevor er sich Schönberg zuwandte.

Vom Ersten Weltkrieg blieb er wegen Untauglichkeit verschont, konnte seine Dozentenstelle behalten u. widmete sich der Erforschung der gregorianischen u. byzantinischen Musik. 1917 ließ er sich katholisch taufen u. ab 1919 verf. er Musikkritiken für die Ztg. Der neue Tag, z.B. über Mahler, Schönberg, Satie u.a.m. Seine Bemühungen, die Nachfolge von R. Wallaschek an der Univ. Wien anzutreten, scheiterten trotz Unterstürtzung durch G. Adler. Zudem zählte W. von Beginn, d.h. von 1919 an, zum Mitarbeiterkreis der Zs. Musikblätter des Anbruch; sein erster Beitr. widmete sich der Frau ohne Schattenvon J. Strauß. In diesem Zshg. ist auch seine eigene kompositor. Tätigkeit sowie das Interesse an Neuer Musik zu sehen. W. verfasste bereits 1921 die erste größere Schönberg-Würdigung u. zählte 1923 zu den Mitbegründern der IGNM. Neben seinen musikhistor. Interessen, die er in den 1920er Jahren mit Schwerpunkten auf die Kirchenmusik sowie die byzantin. Musik fortsetzte u. 1931 in die Monumenta Musicae Byzantinae einmündeten, sind. v.a seine Ballette u. Opern nach Textvorlagen von J. Wassermann (Prinzessin Girnara, 1919, Überarb. 1928), St. George (Erinna) u. H.v. Hofmannsthal (Achilles auf SkyrosAlkestisBacchantinnen) zu erwähnen. 1922 nahm W. an den Int. Kammermusikaufführung in Salzburg teil u. wurde, mit kontrov. Einschätzungen, als Schönberg-Schüler wahrgenommen, skeptisch in der Wiener Zeitung, als im Prager Tagblatt. Ende Nov. 1924 kam in Berlin sein Tanzspiel Die Nächtlichen zur Aufführung, die W. in diesem Genre bekannt machte u.a. bei Tänzerinnen wie G. Bodenwieser. Auch die UA der Alkestis in Mannheim habe, so die Kritiker „außerordentliche Wirkung“ (NWJ, 3.4.1924) erzielt bzw. sei als Weg ins „völlige Neuland“ (A. Orel, WZ) anzusehen. Am Internat. Kammermusikfest 1924 war W. neben Hindemith, Milhaud, Satie, Strawinsky u.a. ebf. vertreten. Seit 1925 hielt W. auch Radio-Vorträge zu musikgeschichtl. Themen, 1926 wirkte er an der von P. Stefan hg. Bestandsaufnahme Tanz in dieser Zeit mit. Neben Cizek, Freud, Musil, Polgar u.a. fand sich auch W. auf der Wahlempfehlungsliste für die Sozialdemokr. Partei vom 20.4.1927 unter dem Motto Eine Kundgebung des geistigen Wien. In der Publikation der Deutschen Theaterausstellung 1927 (Die vierte Wand; Magdeburg) befasste sich S. Kayser mit dem Werk von E. W., das ihm als „eine der stärksten musikdramatischen Begabungen der Gegenwart“ erschien. Im selben Jahr wurde das Singspiel Scherz, List und Rache (nach der Vorlage von J.W. Goethe) in Stuttgart uraufgeführt u. am 13.6.1930 als Sendespiel in Radio Wien ausgestrahlt. Zum Abschluss der offiz. Schubert-Feiern (1928) wurden unter den zahlr. Beiträgen auch eine Cello-Suite von W. uraufgeführt. Im Mai 1929 wurde W. in den Vorstand der Genossenschaft dramatischer Schriftsteller und Komponisten gewählt u. zum 1.8.1929 per Dekret zum Außerord. Professor an der Univ. Wien nach langem Widerstand durch den Nachfolger G. Adlers, d.h. Robert Lach (der ab 1933 Mitglied der NSDAP werden sollte), ernannt. Im Rahmen der Berliner Kunstwochen im Juni 1930 kam es zu einer Neuauff. der Alkestis sowie zur UA des indian. Tanzdramas Die Opferung des Gefangenen. Im selben Jahr ersch. auch das vielbeacht. Werk Die neue Instrumentation. 1932 nahm W. am Kongress für Orientalische Musik in Kairo teil, wurde am 10.5. 1932 an der Univ. Oxford zum Ehrendoktor der Musik promoviert, ferner zum Ehrenmitglied der Musical Association ernannt u. gestaltete im Okt. dess. Jahres die Rundfunkbearb. seiner hocherfolgr. Alkestis-Oper mit.

Nach der NS-Machtergreifung in Deutschland konnte W. dort vorerst einige Zeit noch weiter veröffentlichen, insbes. seine Studien zur byzantin. Musik, wie Beitr. in der Zeitschrift für Musikwissenschaft 1933-35 dokumentieren. 1936-37 konzentriert sich W.s. öffentl. Präsenz vorwiegend auf Radiobeiträge (Radio Wien); gemeins. mit Joseph Marx stand er auch dem Österreichischen Komponistenbund vor. Vor seinem Entschluss, nach Großbritannien zu emigrieren, feierte er noch mit der Vertonung der Sonette der Elizabeth Barret-Browning am 2. 2. 1938 sowie beim Abendkonzert der Wiener Philharmoniker unter Bruno Walter am 20.2.1938 mit seiner Komposition Prosperos Beschwörung beachtliche Resonanz. Nach der Prospero-Aufführung in Amsterdam kehrte W., von Freunden gewarnt, nicht mehr nach Wien zurück. In England wurde er zwar 1939 zum Fellow am Lincoln College in Oxford ernannt, aber im Sommer trotzdem (wie viele österr. Exilanten) monatelang als „enemy alien“ auf der Isle of Man interniert. Ab 1943 begann er wieder zu komponieren u. widmete sich nun vorwiegend der Symphonie (insges. neun), Kammermusik u. geistl. Liedern. Trotz mehrerer Ehrungen und Auszeichnungen seit den 1950er Jahren, darunter 1961 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis, kam für W. eine Remigration nach Österreich nicht mehr in Frage.


Quellen und Dokumente

Erik Satie. Ein musikalisches Porträt. In: Der neue Tag, 4.4.1920, S. 17; Max Graf: Internationale Kammermusik. In: Prager Tagblatt, 11.8.1922, S. 1f., E. Kollinen: „Die Nächtlichen.“ Eine Wellesz-Uraufführung in der Berliner Staatsoper. In: Neues Wiener Abendblatt, 11.12.1924, S. 4, Alfred Orel: Ein neuer Weg der Oper? Hofmannsthal-Wellesz‘ Alkestis. In: Beilage der Wiener Zeitung, 19.4.1924, S. 8, Anzeige zu: Paul Stefan: Tanz in dieser Zeit (mit Beiträgen von E. W.). In: Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel 15/1926, S. 106, Getrud Bodenwieser: Der Tanz des. In: Die Bühne 2 (1925), H. 17, S. 34, N.N.: Kundgebung des geistigen Wien. In: Arbeiter-Zeitung, 20.4.1927, S. 1, Paul A. Pisk: E. W. In: Radio Wien, 18.1.1929, S. 264f., Kr.: Philharmonisches Konzert. In: Neues Wiener Tagblatt, 22.2.1938, S. 11.

Interview anlässlich des 85. Geburtstags (1970, online verfügbar).

Bibliographie auf egonwellesz.at.

Literatur

H.F. Redlich: Egon Wellesz. In: Musical Quarterly 1 (1940), 65-75; H. Krones: Rudolf Réti, Egon Wellesz und die Gründung der IGNM. In: Österr. Musikzeitschrift 37 (1982), 606-610; Ders.: Gustav Mahler – Arnold Schönberg – Egon Wellesz. Zur Entwicklung der Harmonik im frühen 20. Jahrhundert. In: Nachrichten zur Mahler-Forschung 43 (2000), 12-22; H. Heher: Egon Wellesz: Komponist, Byzantinist, Musikwissenschaftler. Ausstellung 30.3.-5.5. 2000 Aula der Österr. Akademie der Wissenschaften (2000); N. M. Wanek: Egon Wellesz in Selbstzeugnissen. Der Briefnachlass in der Österr. Nationalbibliothek (2010).

Michael Haas (2014): E. W. (1885 -1974) the Forgotten Modernist (online verfügbar).

Nina-Maria Wanek: E. W. In: Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen (Hg.): Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (2006, online verfügbar). Eintrag bei Universal Edition.

(PHK)