Fred Heller: Jazz-Dämmerung. (1921)

Was „Jazz“ und was Shimmy ist, braucht man keinen Tänzer mehr zu sagen. Und Nichttänzer sind, seit der Foxtrott mit zu einem Souper gehört, keine voll zu nehmenden Menschen. Wie können sie sich beispielsweise jetzt in einem Kurort, draußen in der Sommerfrische erholen, wenn sie nicht allabendlich oder doch ein-, zweimal in der Woche ein bißchen trotten und stepen! Die Beherrschung der modernen amerikanischen Tänze ist längst ein Teil der allgemeinen Bildung. Ein allgemein gebildeter Mensch hat sich also natürlich auch bereits den „Jazz“ und den „Shimmy“ zu eigen gemacht, diese beiden letzten Importe aus Amerika, oder er ist zumindest fest entschlossen, spätestens im Herbst seine bislang noch theoretischen Kenntnisse, sein Wissen um die Geheimnisse menschlicher Gelenke, in praktisches Können umzusetzen. Aber ob es dann nicht schon zu spät sein wird? Zuverlässige amerikanische Berichterstatter malen einen Tanzteufel an die Wand, der nicht mehr nach vorgeschriebenen Rhythmen die Schultern verstauchen, den Leib verkrümmen und die Gliedmaßen aus ihren Scharnieren heben will. In Amerika bereitet sich nichts geringeres als eine Reaktion vor! Eine Reaktion im amerikanischen Tanz ist aber eine europäische Angelegenheit. Deshalb kann nichts früh genug die Aufmerksamkeit der Alten Welt auf die drohenden Anzeichen jenseits des großen Teiches hingelenkt werden.

Miß Albertina Rasch, eine junge Wienerin, die sich als erste Tänzerin drüben am Century Opera House, der Jahrhundertoper in New-York, ihren Namen gemacht hat, ist kürzlich in Wien zum Besuch ihrer Angehörigen eingetroffen und hat ganz besorgniserregende Nachrichten mitgebracht. Worüber spräche man denn auch in Wien zuerst mit einer amerikanischen Tanzkünstlerin? Vielleicht erfährt man gar als erster von einem ganz neuen Tanz und hat dann das Glück, ihn sich gleich zeigen lassen zu können.

„Ich komme über Paris, ich weiß alles“, lächelt Miß Rasch. „Europa, du hast es nicht besser! mußte ich denken, als ich den begeisterten Tanzkult sah, und wie ich höre, steht Wien durchaus nicht zurück. Nein, es gibt keine neueren Tänze als den Jazz und den Shimmy. Kann es denn überhaupt in dieser Beziehung noch „Moderneres“ geben? Man hat sich drüben den ersten Niggertanz, den Cake Walk, von idyllischen Festlichkeiten der Neger in die Ballsäle geholt. Das war noch ein wirklicher Tanz, ganz neuartig für unsere Begriffe und trotz oder wegen seiner exotischen Reize auch nach ästhetischen Begriffen eine Bereicherung der Gesellschaftstänze. Aber dann hat man angefangen, die Niggertänze aus den Nachtlokalen von San Francisco und New-Orleans zu beziehen, südamerikanischer Einfluß machte sich bemerkbar, und so ist der Nachfolger des argentinisches Tango und der brasilianischen Matchiche der Foxtrott geworden, eine Kreuzung etwa von One Step und Matchiche. Der Foxtrott kam dem amerikanischen Tänzer sehr entgegen, der ein ungemein ausgeprägtes rhythmisches Gefühl, aber gar kein melodisches Empfinden hat, daher auch eine Art Walzer mit synkopischer Taktform statt des echten Walzers tanzt. Es gibt kaum einen Amerikaner, der nicht Foxtrott tanzt und man tanzt ihn von früh bis nachts, in den Vergnügungslokalen genau so wie mittags in den Restaurants. Und es wird heute noch genau so gern Foxtrott getanzt wie vor einem Jahr, obwohl inzwischen der Jazz und der Shimmy modern geworden sind. Mit dem Jazz, der aus New-Orleans und Chicago eingeschleppt wurde, mit diesen, schon durch die dazugehörige Musik der Jazz-Banden unerträglichen gymnastischen Uebungen zum Lärm und Geräusch der unglaublichsten Instrumente ist man bereits von dem, was man noch Tanz nennen kann, abgekommen; der Gipfel der Geschmacksverrohung war dann gleich die nächste Novität, der Shimmy, ein Tanz, der nur aus der allgemeinen Verrohung durch den Krieg zu erklären ist. Wie hätten auch Kulturmenschen sonst an etwas Gefallen finden können, das die Roheit des rohesten Afrika ausdrückt. Und auch dieser Tanz ist von Europa übernommen worden!“

„Es ist unser letzter Schrei!“ bemerkte ich.

„Daß das sogar in Wien möglich ist!“ staunte die Amerikanerin aus Wien. „Die überschlanke Amerikanerin darf sich vielleicht noch solche Körperbewegungen erlauben. Aber schon die Pariserin fand ich im Jazz unmöglich. Doch selbst in Amerika beginnt man bereits von den allerneuesten Tanzschöpfungen abzuschwenken, man tanzt Shimmy und Jazz immer seltener, der Geschmack fängt sich an, umzubilden. Das Naserümpfen und die abfälligen Bemerkungen werden drüben in letzter Zeit häufiger. Die Verrohung, die auch drüben der Krieg mit sich gebracht hat, geht sichtlich auch im allgemeinen zurück, und so wird man auch von den wilden modernen Tänzen allmählich wieder zu sanfteren, legereren Linien zurückkehren!“

„Und der uns allen heilige Foxtrott?“

„Keine Sorge, der wird sicherlich noch lange herrschen, wenn er nicht überhaupt schon zum sogenannten „ewigen“ Bestand der Tanzkarte zu zählen ist, wie der Two Step und die nur augenblicklich in Vergessenheit geratene „Washington Post“. Es existiert ja in Amerika eine veritable Foxtrottindustrie. Fast täglich kommt ein neuer Foxtrott heraus. Eigene Musikverleger befassen sich mit dem Vertrieb, die Noten werden weithin gratis verteilt und in zwei Wochen kann das ganze Land jeden neuen Foxtrott. Die erfolgreichsten Komponisten sind dabei fast durchweg russische Juden, so zum Beispiel der populärste, der sich Irving Berlin nennt. Edison und ihn kennt jeder Mensch.

In allem Unglück also doch ein Trost: wir haben den Foxtrott zumindest nicht umsonst gelernt, wenn wir im heurigen Winter vielleicht schon den Jazz und den Shimmy wieder vergessen müssen. Daß es um diese beiden Negerstämmlinge besonders schade sein würde, wird wohl am wenigsten in Wien behauptet werden, wo wir als „Ersatz“ immerhin und schlimmstenfalls noch den Walzer haben.“

In: Neues Wiener Journal, 22.7.1921, S. 5.

Leo Lania: Das junge Amerika (1923)

Was an literarischen Werken in den letzten Jahrzehnten aus Amerika den Weg nach Europa gefunden hat, konnte gewiß nicht die Behauptung rechtfertigen, es gäbe so etwas wie eine nationale amerikanische Literatur. Andererseits ist es jedoch ganz klar: dieser einzigartige Assimilationsprozeß, der aus jedem in die glühende Effe des amerikanischen Lebens geratenen Engländer, Deutsche, Tschechen in wenigen Jahren den Amerikaner schweißte und hämmerte, mußte auch in der Literatur sein Abbild finden. Und so bezeichnet auch der allen modernen amerikanischen Schriftstellern eigene Wesenszug – ihre innige Verwachsenheit mit der journalistischen Reportage – mehr als etwas formales, äußerliches; er drückt sich in der Technik dieser Literatur ebenso aus wie in ihrem Stil und – nicht zuletzt – in der Problemstellung und den künstlerischen Absichten der Autoren.

Mit dieser Feststellung soll gewiß kein Werturteil abgegeben werden. Für den deutschen Bürger, der von jeher aus der Not seiner politischen Unreife eine künstlerische Tugend gemacht hat, muß das ausdrücklich betont werden. In anderen Landen aber, wo die breiten Schichten des Volksganzen die künstlerischen Leistungen weniger genau zu registrieren und katalogisieren verstehen, sie dafür aber um so intensiver, zumindest unmittelbarer und innerlich freier empfinden, weist man den schaffenden Künstler keineswegs aus dem Kampfgetümmel der Parteien und sieht durchaus nicht seine Aufgabe darin, den Sorgen und Nöten seines Volkes entrückt, auf einem erhabenen Piedestal zu stehen, allwo er als Zierde der Nation dekorativ zu wirken berufen ist.

So ist denn auch – nicht trotz seiner starken, einseitigen Tendenz, sondern über sie hinaus – der und Europäern bisher noch nicht bekanntgewordene Amerikaner John dos Passos ein Dichter. Sicher, daß die Bedeutung seines vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienenen Romans („Die drei Soldaten“, Malik-Verlag, Berlin-Halensee) nicht in der politisch-erzieherischen Tendenz des Buches allein liegt. Gerade in seiner Unausgeglichenheit, dadurch, daß es technisch nicht jene vollendete Geschlossenheit der Sinclairschen Romane aufweist, vermittelt dies Werk sehr interessante Einblicke in die geistigen Strömungen der modernen amerikanischen Literatur und die Psyche des amerikanischen Menschen.

„Die drei Soldaten“ ist ein Kriegsbuch. Unwillkürlich denkt man an Barbusses „Feuer“, mit dem es in der Gesinnung und in Aufbau sehr vieles gemeinsam hat. Aber der Vergleich zeigt auch ganz scharf die Grenze, die diese beiden Kriegsbücher scheidet und die in Wahrheit die Trennungslinie zwischen dem Empfinden, der Sinnesart des alten Europäers und des jungen Amerikaners ist. Sonderbar: der Krieg erscheint in diesem amerikanischen Kriegsbuch nicht als das Wesentliche. Nicht der Schützengraben, nicht die Schlacht, nicht das Töten und Getötetwerden gibt dos Passos den Vorwurf zu seinen unerhört plastischen Bildern und aufwühlenden Schilderungen – der Kasernendrill, der militärische Zwang, die Unterjochung der Persönlichkeit durch Leutnantsregiment und Kadavergehorsam, das erscheint dem Amerikaner als das wahre Problem. Oder wie es Passos einen jungen Soldaten ausdrücken läßt: „Der Krieg wäre vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es nicht wegen des Militärs wäre!“ In der ganzen Primitivität dieses Ausrufes spiegelt sich der Geist und das Empfinden einer jungen unverbrauchten Rasse, die nicht die sein verästelten seelischen Hemmungen des Europäers kennt, deren Persönlichkeitsgefühl aber ebensowenig durch Generationen unterdrückt, verkümmert wurde. Und offenbar wird – für viele gewiß nicht überraschend –, daß auch dies eines jener aus dem Dünkel des Europäers abgeleiteten Märchen ist: je älter die Rasse, desto stärker und seiner ihre Sensibilität. Zumindest fehlt der Zusatz: desto stärker auch die Widerstandsfähigkeit, der seelische Panzer.

Die Fabel des Buches: mager und eigentlich auch nebensächlich. Ausbildungslager in Amerika – Einschiffung – Truppentransport nach Frankreich – Etappendienst hinter der Front. – Auf dem Vormarsch zur Stellung wird der eine der drei Soldaten, ein junger Musiker, verwundet, leicht verwundet, er kommt ins Spital – sein Anteil am Kriege ist eigentlich erschöpft, er wird nach Paris auf Studienurlaub entlassen – da ist auch schon der Waffenstillstand unterzeichnet. Nun wahrlich, glimpflicher hätte nicht bald einer davonkommen können, denkt man unwillkürlich. Aber auch die anderen Helden des Buches haben ein glückliches Los gezogen – stets reichliche Verpflegung, immer in der Etappe, immer unter Dach und Fach… aber just da setzt für Passos den Amerikaner das tragische Motiv ein: der Zwang. Gibt es, kann es etwas Unmenschlichere, Widernatürlicheres, Furchtbares geben als diesen? Daß der junge Musiker verhaftet wird, weil er von einer Patrouille ohne Paß betroffen wird, daß man ihn ohne Verhör strafweise in eine Arbeitskompagnie einreiht – daß so etwas möglich ist, erschein Passos als Höhepunkt der Tragik. Der Musiker desertiert – er könne um Entlassung einreichen, würde sie ohneweiters nach kurzer Zeit erhalten – er tut das nicht. Wieder eine Uniform anziehen? Wieder stramm stehen vor jedem Vorgesetzten? Wieder Soldat, Automat werden? Nein, nicht einmal für Stunden. So geht er zugrunde.

Wir Europäer, Deutsche, Franzosen, Italiener, Russen, wir haben in den letzten Jahren so unerhört vieles, so schreckliches – nein, nicht erlebt – über uns hinwegbrausen lassen, daß es wahrlich kein Wunder ist, wenn wir heute einfach nicht fähig sind, das zu empfinden, was Maeterlinck einst „ die Tragik des Alltags“ genannt hat. Hätten wir es im Kriege gekonnt, das Erleben hätte uns das Leben gekostet. Das Buch von dos Passos zeigt und Europäern, wie viel wir auszuhalten vermochten und – vermögen. 

Der deutsche Militarismus ist auf den weiten blutgedünkten Schlachtfeldern Frankreichs zusammengebrochen – sein Geist aber hat in einem nie geahnten Triumphzug Frankreich und die Tschechoslovakei, zwei Drittel von Europa und den wahren Sieger im Völkergemetzel, Amerika, erobert. Daß dieser junger amerikanische Militarismus nicht nur in seinem inneren Wesen, sondern in allen seinen Formen und Äußerlichkeiten nur ein Abklatsch des kontinentalen Leutnantsregiments mit allen seinen Brutalitäten, Scheußlichkeiten, Borniertheiten ist, das hat uns und vor allem den Amerikanern zuerst Sinclair gezeigt. Dos Passos ist – ich möchte beinahe sagen – nicht so jung, so unbekümmert, so absolut wie Sinclair – das macht, daß wir uns ihm verwandter fühlen als jenem. Und um so stärker beim Lesen dieses Buches von dem Entsetzen gepackt werden: „Tua res agitur“ (Es geht um dich!).  Auch wir sind dieser Hölle noch nicht entronnen.

In: Arbeiter-Zeitung, 30.8.1923, S. 5,

Hans Tietze: Sozialismus und moderne Kunst (1926)

Schon in der Fürsorge, die eine Zeit forschend und konservierend, erwerbend und erläuternd den Werken der alten Kunst widmet, ist sehr deutlich ein Stück ihres eigenen Kunstgefühls lebendig. In noch höherem Maße muß ein Stück ihrer ganzen Kulturgesinnung und Weltanschauung an ihrem Verhältnis zu der künstlerischen Produktion der Gegenwart zur Geltung kommen, denn wer mit dem Ganzen seiner geistigen Persönlichkeit modern eingestellt ist, wird es auch in seinem Verhältnis zur Kunst sein. Und von diesem Standpunkt der geistigen Einheit gewinnt die Frage nach dem Zusammenhang politischen und kulturellen Bekenntnisses, die in der Regel von zwei Seiten her negativ zu werden pflegt, erneutes Interesse […]. Gibt es eine sozialistische Kunst? Ist ein Bildwerk, weil es einen sozialistischen Führer, einen Proletarier, einen Hungeraufstand, die Opfer eines kapitalistischen Übergriffs zeigt, deshalb sozialistisch? Oder gibt es gewisse Stilrichtungen – die expressionistische, die konstruktivistische oder die neue Sachlichkeit – die in höherem Grade als andere sozialistischem Denken entsprechen? 

Vom Standpunkt, von dem wir diese Frage zu behandeln versuchen, scheint sie einer doppelten Erwägung zu bedürfen: einerseits, wie sich politische und soziale Umwälzungen überhaupt auf künstlerischem Gebiete auswirken, und andererseits, wie speziell die künstlerischen Probleme unserer Zeit sich zum Sozialismus verhalten. 

Jeder gesellschaftlichen Struktur entspricht wie eine wissenschaftliche auch eine künstlerische Auffassung; eine die Herrschaft gewinnende neue Schicht setzt notwendig ihr eigene an Stelle der entthronten alten Auffassung. Aber diese // vollzieht sich nicht mit einem Schlage; die Kunst hat – unabhängig von den Bedingungen, denen ihre letzte Stilstufe entsprang – der uns seit Kant zum Axiom gewordenen Autonomie des Ästhetischen entsprechend, ihr eigenes, gleichsam objektives Dasein; ihre ursprünglich in einer früheren sozialen Stufe wurzelnden Formen leben weiter, um so mehr, als die neu zur Herrschaft gelangte Gruppe zunächst mit ihrer politischen und sozialen Einrichtung vollauf beschäftigt ist und erst später zur kulturellen Ausgestaltung ihres Daseins gelangen wird […]. Aber es liegt im Wesen der Kunst wie in dem aller anderen ideellen Errungenschaften, daß zunächst einzelne vorwegnehmen, was in der breiten Masse gelegen, ihr aber noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Erst allmählich wird die neue maßgebend gewordene Schicht ihrer eigenen kulturellen Kraft inne und ihres neuen Ausdrucks fähig. 

In dieser Weise hat etwa das Bürgertum, der dritte Stand der Französischen Revolution, an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert  die kulturelle Führung an sich genommen; dabei hat es sich zunächst mit einem schwächlichen Absud der Kirchen- und Adelskunst begnügt und erst allmählich daraus seine eigene Kunstform gebildet, deren charakteristische Erscheinung, der Impressionismus, den Zusammenhang mit dem Liberalismus in politischer, mit dem Individualismus in sozialer, mit dem Kapitalismus in wirtschaftlicher, mit dem Materialismus in philosophischer Beziehung deutlich genug erkennen läßt.

Heute, hundert Jahre später, sind wir abermals überzeugt, an einer Wende zu stehen; der vierte Stand übernimmt in dieser oder jener Form die Herrschaft und mit der Herrschaft die kultureller Verantwortung vom dritten. Ganz wie dieser damals findet auch das Proletariat vorläufig mit den übernommenen Kulturformen sein Auslangen; noch glaubt radikale politische Gesinnung mit Geschmack an richtiger Bourgeoiskunst – und zumeist mit deren schwächlichsten Ablegern – vereinbar zu sein. Die Revolutionäre des Lebens empfangen ihre Kunst soweit sie sich überhaupt für sie interessieren, aus den Händen der Reaktionäre; fast möchte man sagen, daß sie sich glücklicherweise meist wenig dafür interessieren, denn in diesem Nichtinteresse liegt doch irgendwie die Erkenntnis, daß diese abgetakelte Kunst von gestern und vorgestern sinnlos geworden ist, daß all diese schalen Kulturhansel, die den durstigen Lippen des Volkes kredenzt werden, ihm weder Nahrung noch Genuß bieten können. 

Dieser Zustand ist für einen Übergang charakteristisch, der sich hier nicht anders vollzieht wie auf anderen Gebieten; nicht von heute auf morgen wird eine neue Kunst da sein, sondern allmählich wird die neue Kulturschicht so weit erstarken, daß sie eine ihrem innersten Bedürfnis angemessene Kunst hervorbringen wird. Sind Keime und Ansätze zu dieser neuen Kunst bereits heute vorhanden? 

In negativer Hinsicht werden wir des Zusammenhangs zwischen künstlerischem und politischem Leben deutlich gewahr; es ist kein Zufall, daß zur gleichen Zeit, in der die Kaiser und Könige gestürzt werden und die Wirtschaft in Umwälzung begriffen ist, auch die Kunst in Revolution steht, jahrhundertelang Anerkanntes umgestoßen wird, überall an Stelle des Alten Neues, Gewagtes, Unerhörtes sich durchsetzen möchte. Da und dort Ausfluß der gleichen revolutionären Gesinnung, die nicht mehr an die Heiligkeit der morschen staubigen Theatermöbel glaubt, die so lange zu imponieren vermochten, die, wie in das soziale und wirtschaftliche Leben, auch ins geistige und künstlerische frische Luftströme einführen will. Revolution – ob auf diesem oder jenem Gebiet – ist Ausdruck der gleichen Überzeugung, daß der Augenblick gekommen ist, den veränderten Kräften das Übergewicht über die beharrenden zu schaffen. Immer sind die Umstürzler in der Kunst Arm in Arm mit den politischen Revolutionären gegangen; die jungen Künstler haben auf dem „Berg“ des französischen Nationalkonvents am radikalsten gewettert und der Todfeind der akademischen Zöpfe in der Kunst, Gustave Courbet, hat in der Pariser Commune von 1871 eine große Rolle gespielt. Die Sowjetrepubliken Rußlands haben den künstlerischen Radikalismus offiziell gemacht, die // sozialistischen Stadtverwaltungen Deutschlands fördern systematisch moderne Kunst und selbst im sanften märzlichen Wien von 1848 hat es im Rahmen der allgemeinen eine künstlerische Revolution gegeben, der die Stadt das damals bahnbrechende Monumentalwerk der Altlerchfelderkirche verdankt. 

Dieses Zusammenspiel der radikalen Kunst mit der radikalen Politik rührt nicht nur davon her, daß die Künstler, mehr von Empfindungen als von Erwägungen geleitet, sich leicht und widerstandslos jedem Enthusiasmus in die Arme werfen; es kommt in tieferem Sinne auch daher, daß diese Art von Künstlern – die jeweiligen Modernen ihrer Zeit – auf ihrem Gebiet ebenso am Weg zur Zukunft bauen wie die politischen Neugestalter auf dem ihren. Aus diesem Gefühl der Verwandtschaft heraus haben die genialen politischen Begabungen häufig den Instinkt für die Kunst besessen, begriffen, daß es wichtig ist, diesen Gärstoff so gut wie jeden anderen den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Die Solidarität der Zukunftsgestalter führt politischen und künstlerischen Radikalismus zusammen.

Aber wieder muß ich fragen: Welche unter den zahlreichen Richtungen unserer Zeit ist es, die diesen Keim der Zukunft in sich trägt, was ist im Chaos unserer Kunst Verwesung des Gestrigen, was ist Gewähr des Morgigen? Nach dem allgemeinen geistigen Entwicklungsgang möchte man dieses in die Zukunft Deutende dort suchen, wo der Anschluß  an kollektives Denken und Fühlen gesucht wird, wo die Kunst den auf die Spitze getriebenen Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts preisgibt, um sich großen Gemeinschaften einzuordnen. In den Programmen vieler der neuesten Richtungen spielen seit Beginn des Jahrhunderts, also schon vor dem politischen Umsturz, Erwägungen dieser Art eine große, die größte Rolle; aller Konstruktivismus ist darauf aufgebaut, daß er die Willkür des Individuellen durch allgemeingültige Gesetzlichkeiten ersetzen will. Aber der Konstruktivismus läßt wie die anderen, sich überstürzenden und einander bekämpfenden Richtungen offensichtlich die breiten Massen ziemlich kalt; müßte nicht jener geniale Wurf, der den künstlerischen Messias verriete, blitzartig jeden Beschauer treffen; müßte nicht eine Richtung, die eine kollektivistische sein will, im Fühlen der Allgemeinheit unmittelbaren Widerhall finden? In einer Zeit des Übergangs und der Widersprüche, wie die unsere es ist, läßt sich auch in der Kunst eine solche Liebe auf den ersten Blick nicht erwarten; noch haben sich die jungen Künstler vom Gestern erst so weit gelöst, daß sie es verabscheuen und verleugnen, aber noch nicht, daß sie ihm Neues und Bleibendes entgegensetzen könnten. Gewiß empfinden die meisten und besten von ihnen tiefe Sehnsucht nach diesem Neuen; sie wollen heraus aus dem Individualismus, an dem sie leiden, aber er hängt unverlierbar an ihnen. Ja diese Gruppen und Grüppchen, in die sich die Kunst zerfasert, diese Schulen, die um einen einzigen Kaffeehaustisch gruppiert sind, diese „ismen“ für Genießer, Adepten und Eingeweihte, sind Blüten eines aufs äußerste gesteigerten Individualismus, sind letzte Raffinements einer absterbenden Schicht, Kunst für Modesalons und Snobisten. Aber jener Umwandlungsprozeß, von dem ich früher sprach, hat sich immer in dieser Weise vollzogen, daß die Dekadenten von gestern der Jugend von morgen den Weg bahnten! Voltaires und Rousseaus erstes Publikum waren Snobs, die in dieser ätzenden Zerstörung der eigenen Kulturessenz nur das witzige Raffinement wahrnahmen, aber nicht die positiven Zukunftswerte: Beaumarchais‘ Ausfälle gegen den Adel hat ein Parterre von Aristokraten bejubelt, und Goya ist als Hofmaler zum Revolutionär der europäischen Malerei des neunzehnten Jahrhunderts herangewachsen. Was Marx den Funktionswechsel nennt – daß der gleiche Prozeß, aus verschiedenem Gesichtswinkel gesehen, entgegengesetzte Bedeutung gewinnt – gilt auch hier: Verwesung ist Blüte, Tod ist Leben. Die modernen Richtungen zersetzen den Besitzstand der alten Kunst und bereiten die neue; vielleicht sind sie auch schon die neue, erst von dem Ziel aus, zu dem diese Entwicklung führen wird, können Wert und Bedeutung der ersten tastenden Schritte, einstmals beurteilt werden. Stehen wir an der Schwelle einer neuen Zeit, das heißt werden die Bewegungen, die heute in ihren Anfängen stecken, zum Siege führen, so werden auch die Revolutionäre in der Kunst dereinst zu jenen zählen, die zu der neuen Freiheit mitgewirkt haben, und die Enkel werden über unsere Blindheit staunen, die uns ihre Bedeutung verkennen und bezweifeln ließ. 

Die Frage der Qualität und des absoluten künstlerischen Wertes ist bei neuen Richtungen eine Sache der Zukunft; eine Sache der Gegenwart aber ist die all//gemeine Lebendigkeit, die revolutionäre Gesinnung. Sie zu fördern, sie als zu sich gehörig zu fühlen ist eine Pflicht eines Sozialismus, der mehr ist als eine parteipolitische Angelegenheit, der sich darüber hinaus immer wieder besinnt, daß er auch eine Weltanschauung ist. Dieser Weltanschauung ist Kunst eine Privatsache; gewiß – so gut wie die Religion. Aber so wie es trotzdem unvereinbar dünkt, daß einer, der ein überzeugter Sozialist ist, am Kirchenglauben festhielte, so unmöglich scheint es auch, daß ein echter Sozialist, sofern er überhaupt Sinn und Interesse für die Kunst hat, in seinem Verhältnis zu ihr konservativ wäre. Er kann nicht anders, als auch in der Kunst wie auf allen Gebieten den radikalsten Versuchen sympathisch gegenüberstehen.   

In: Der Kampf, H. 12/Dezember 1926, S. 545-548 (Auszüge).

Max Winter: Rundfahrt durchs rote Wien (1927)

Selbst dem, dem oft Gelegenheit gegeben war, in die einzelnen Gemeindebauten zu kommen und alle ihrer Einrichtungen kennenzulernen, selbst dem, der häufig bei Eröffnungen der neuen Bauwerke, die die Gemeinde Wien aufgeführt hat, als Gast anwesend sein konnte, ist es wie eine Offenbarung, so eine Reise durch das rote Wien, wie sie jetzt unsere Bildungsstelle ganz regelmäßig an allen Sonntagen veranstaltet. Es ist ein politischer Anschauungsunterricht ersten Ranges, der da geboten wird, und es ist nur zu bedauern, daß verhältnismäßig nur so wenige diesen so lehrreichen Kursus in praktischer politischer Verwaltung mitmachen können.

Am ersten Aprilsonntag hatte sich eine Ottakringer Sektion— die 21.— zu so einer Fahrt zusammengefunden. Beileibe nicht die ganze Sektion. 300 hatten sich zu der Teilnahme an der Fahrt gemeldet. Es konnten in den vier Autobussen aber nur 180 Teilnehmer verstaut werden. Über die Friedensbrücke führte der Weg von Ottakring nach dem Winarsky-Hof, dem ersten Ziel. Die breite Brücke und dieser vielverheißende Name! Ein technisch vollkommenes Werk, das eine breite Verbindungsstraße zwischen zwei volkreichen Bezirken darstellt, und dazu ein Name, der wie ein Bekenntnis klingt— beides flog durch die Wagen, die über die Brücke rollten.

Winarsky-Hof.

Zuerst der Saal. Er beginnt sich gerade zu einer Vorführung der Wahlfilme zu füllen. Erwartungsvolle Spannung auf den Gesichtern und freudiges „Freundschaft!“ zwischen Brigittenau und Ottakring. Einzelne Vertrauensmänner erkennen und begrüßen sich. Und der Führer der Gruppe, Sektionsleiter Wolf, sagt es ihnen, daß sich die Ottakringer einmal den Winarsky-Hof ansehen wollten. Die wichtigsten Hausvertrauensmänner sind zur Stelle und führen die vier Gruppen in die verschiedenen Teile des Hauses. Im eigentlichen Winarsky-Hof fesselt neben dem Saal die große Bücherei die Aufmerksamkeit. Und es entgeht den aufmerksamen Besuchern auch nicht die Kunde der neuen Sittlichkeit, die ihnen mit dieser Bücherei wird. Da sagt irgendwo an der Wand ein handgeschriebenes Plakat: „Jedem stehen die Bücherschätze umsonst offen; wer aber kann, soll freiwillig spenden.“ Auch so eine Bücherei hat Hunger. In Nebenräumen sehen wir, wie immer neue Werke zur Einreihung vorbereitet werden, schauen wir hinter die Kulissen einer großen Arbeiterbücherei. Im ersten Stock der große, schmucke Beratungssaal mit den bequemen Lehnstühlen, mit dem gediegenen großen Tisch in Hufeisenform. Das lachende Antlitz unseres Leopold Winarsky in schönem Rahmen darüber, des ersten sozialdemokratischen Gemeinderates der Brigittenau, dessen Andenken zu Ehren der Hof so benannt wurde. Auch der Entwurf zum Lassalle-Denkmal ist sonst hier an der Wand zu sehen, aber nun muß ihn der Sektionsvertrauensmann erst aus einem Berg von Flugschriftenballen, hinter denen er verborgen ist, hervorholen, um ihn uns zu zeigen. Der Sitzungssaal ist zum Arbeitszimmer geworden, zwanzig Menschen sind den ganzen Sonntag über hier tätig, wahrscheinlich noch viel mehr, in Schichten abwechselnd, die Wahlaufrufe zu kuvertieren und zu versenden. Hochbetrieb! Wir stören nicht länger und gehen weiter. Eine ins Freie mündende Gasse, oder besser ein Straßenhof, nimmt zwei Turn- und Spielplätze auf, auf denen sich die Jugend ungefährdet tummeln kann. Diese „Gasse“ trennt das Hauptgebäude des Winarsky-Hofes von dem zweiten Gebäude, dem Grundsteinblock. Die Spielplätze, über die wir eben schreiten, bekommen dadurch ein besonders schönes Aussehen, daß die beiden Häuserfronten, die auf sie niedersehen, von vielen kleinen Balkons unterbrochen sind. Blumenbalkons, die im Sommer ganz besonders herrlich sein mögen.

Und dann kommen wir in den großen Hof des Grundsteinblocks, der mit seinen strengen Linien jetzt im ersten Vorfrühling den Beschauer fast kalt anspricht, der aber in wenigen Monaten durchzogen sein wird von der Sohle bis zum Dachfirst von rotleuchtenden Linien, denn alle 16 Stiegenhäuser, die in den Hof münden, haben an ihren Fenstern grüne Blumenwannen angebracht, die, sobald nur die erste Sicherheit gegeben ist, daß der Frost den Blüten nicht mehr gefährlich wird, von der Stadtgärtnerei mit leuchtenden Blumen versorgt werden. Und jede Wohnung hat mindestens ein in den Hof mündendes Fenster mit einer solchen Blumenwanne. Im Mai schon setzt der edle Wetteifer zwischen den Bewohnern und der Stadtgärtnerei und unter den einzelnen Bewohnern ein, wer wohl sein Fenster am schönsten hat. Oh, sie sind so schönheitshungrig, diese Proletarier! Man muß ihnen nur Sonne und Luft geben und sie tun dann alles selber dazu, was nötig ist. In einzelnen Ecken des Grundsteinhofes sind amerikanische Reben gepflanzt, sie kriechen an dem Rauhbewurf hinauf. Sie sind gehegt und gepflegt von den Bewohnern. In wenigen Jahren werden sie ihr grünes Sommerkleid über den ganzen Innenhof breiten. In einer Ecke hat ein Straßenbahner mit Hilfe der ganzen Mieter des Hausblocks eine besondere Einrichtung zur Verschönerung geschaffen. Er hat ein kleines Alpinum gebaut mit Wegen, kleinen Almhütten— die Freude der Kinder— und einem wirklichen, sprudelnden, murmelnden Bach. Man braucht nur aufzudrehen und der Bach beginnt zu rinnen und berieselt die Ränder, an denen jetzt schon die Vorfrühlingsblüten wachsen, die im Wienerwald und auf den Höhen weiter draußen zu finden sind. Aber auch einige exotische Primeln, die kinderfaustgroße, kugelrunde violette Blütenballen austreiben, sind schon zu sehen. Anschauungsunterricht für die Kleinen. Sie werden der Natur so nähergebracht. Und die Naturfreunde im Haus kommen selten von einer Wanderung zurück, auf der sie nicht in ihrem Rucksack irgendein Pflänzlein geborgen hätten, das hier, mitten im proletarischen Wohnhof, zu neuem Leben erblühen soll.

Mutter Gemeinde.

In die Mitte des Hofes springt von dem Kindergarten weg im Halbkreis eine Pergola, ein italienischer Laubengang, der zur sommerlichen Zeit vom Grün des wilden Weines umsponnen ist, ein Laufgang zugleich für die Kinder, und in der Mitte im weiten Halbkreis der eigentliche Garten für die Kinder, die dahinter ihre herrlichen Räume haben mit den kleinen Montessori-Möbeln und Tischchen und Stühlchen und kleinen Kasten und dem vielen Spielzeug. Genau so wie es die große italienische Pädagogin wollte, genau so ist es hier zur Wirklichkeit geworden. Während die Mütter oben kochen, spielen unten im Hof, geleitet von kundigen Frauen, ihre Kinder förmlich unter den Augen der Mutter. Ein Blick zum Fenster hinaus, und die Mutter sieht unten ihr Kleines im frohen Kreise der Gleichaltrigen; wohl behütet von den Augen der Mutter Gemeinde.

Da entringen sich den Seelen der Frauen, die mit bei der Besichtigung sind, die ersten Seufzer. Wenn man nur auch so etwas haben könnte!

Im Haus hat sich auch ein Doktor der Krankenkasse niedergelassen. Er öffnet die Tür seiner Wohnung und ladet uns alle ein, wenn wir schon eine Wohnung besichtigen, seine anzusehen. Die Räume sind wohl niedrig, aber die Fenster sind hoch, so daß bis in den letzten Winkel hinein Licht und Sonne scheinen kann. Sie gewinnen etwas Trauliches, etwas Gemütliches, und der Doktor ist glücklich, daß er hier inmitten der Proletarier wohnen kann, und die Vertrauensmänner des Hauses erzählen uns, wie glücklich die Frauen sind, daß sie einen kundigen Mann im Hause wohnen haben, der — und das trifft hier zu— zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht, bereit ist, ihnen Hilfe zu leisten. Es ist ein Gefühl der Beruhigung, wenn man weiß, daß der Arzt immer gleich zur Stelle sein kann.

In der Ecke beim Alpinum ist die Badeanlage des Hauses. Sonntag vormittag. Alles vollbesetzt. Der Vorraum voll Wartender. Warme Wannen- und Duschbäder sind vorgesehen. Eine Männerabteilung, eine Frauenabteilung. Welche Wohltat! Welcher kulturelle Aufstieg, daß nun auch der Proletarier immer wieder sein Bad bereitfindet, daß Reinlichkeit kein Vorrecht mehr des Großbürgers ist, der es sich zahlen kann. Wenn die Gemeinde Hausherr ist, so kann auch der Proletarier sein Bad haben, so wie in der Kindergärtnerin auch das Proletarier//kind seine Gouvernante haben kann. Warum denn auch nicht! Soll denn wirklich alles ein Vorrecht der Besitzenden sein! Glücklich und zugleich von leisem Neidgefühl beseelt, gehen die Frauen und Männer weiter.

Sechzehn Stiegen hier im Grundsteinhof, zweiunddreißig Stiegen im eigentlichen Winarskv-Hof, insgesamt achtundvierzig, und alle zusammen bilden eine Wohnungsgemeinschaft, die sich einen Mieterausschuß mit drei Untergruppen eingesetzt hat, einen Verwaltungsausschuß, einen Ordnungsausschuß und einen Schlichtungsausschuß. Sie brauchen keinen Administrator, der für alles sorgt, diese Mieter verwalten sich selbst ihr Haus. Der Ordnungsausschutz findet demokratische Mittel, um eine allen genehme Ordnung herbeizuführen, peinlichste Reinlichkeit und Sauberkeit im ganzen Hause, an mehreren Stellen in den Höfen die Colonia-Kübel, in die Abfälle hineingeworfen werden können, nirgends liegen Papierln oder Obstschalen herum – und schließlich, wie sie einen Kurator und eine Polizei nicht brauchen, so brauchen sie auch kein Bezirksgericht. Der Schlichtungsausschuß ist das Gericht dieser kleinen Stadt, die sich da in der Stromstraße aufgetan hat, einer in alter Zeit von allen guten Geistern verlassenen Gegend, in die nun das neue Leben Einzug gehalten hat. Aus dem alten Männerheim gegenüber ist ein Heim für alte Männer geworden, ein Versorgungsheim der Stadt Wien, umgeben von einem schönen Garten, und auch das Entbindungsheim der Stadt Wien hat dort seinen Platz gefunden, die jüngste, reichen Segen bringende Mutter- und Frauenanstalt der Gemeinde Wien.

Aus dem Verkehrshindernis wird ein Verkehrsweg.

Mit herzlichem „Freundschaft!“ geht es weiter, hinüber über die große Floridsdorfer Brücke. Wieder ein Werk der roten Gemeinde. Ein Unfertiges hat die bürgerliche Verwaltung hier zurückgelassen, und erst die Tatkraft der roten Gemeinde hat diesen breiten schönen Weg über den Donaustrom geschlagen. Aus dem Verkehrshindernis von gestern ist heute ein Verkehrsweg geworden, der die Mutterstadt mit dem rasch wachsenden Teil jenseits der Donau verbindet. In raschem Fluge geht es hinüber, und ehe noch die Wagen vor dem Schlinger-Hof halten, sehen wir zur Linken wieder ein Werk der Gemeinde Wien, den Paul-Hock-Park, links von der Brünnerstraße, in den der alte Friedhof verwandelt wurde, der einst an diese Stelle war. Dem tapferen Vorkämpfer für die Freie Schule ein lebendes, unvergängliches Denkmal, der Bevölkerung eine Stätte der Erholung. Zur Rechten dann der Schlinger-Hof, ein neues Wahrzeichen von Floridsdorf. Ein Wahrzeichen der Tatkraft der sozialdemokratischen Gemeinde. Und vor dem Hofe der Markt. Er ist erst vor wenigen Wochen eröffnet worden.

Ist es wirklich gleichgültig, ob private Hausherren Häuser bauen oder die Gemeinde Wien? Nirgends wird einem der Unterschied so bewußt wie hier. Wenn man durch die auch gegen Regen geschützten, das heißt in den Mittelwegen überdachten Marktstände wandert, so fällt einem auf, daß der typische Marktgeruch hier nicht so stark auftritt. Der führende Marktinspektor sagt uns, daß das davon komme, weil die Marktkaufleute ihre Waren in den Kellern im Schlinger-Hof verstauen können. Die Gemeinde baut den Schlinger-Hof, die Gemeinde baut den Markt. Da weiß nun die Linke, was die Rechte tut, das Marktamt und das Wohnungsamt verständigen sich und es wird im Kellergeschoß des Schlinger-Hofes der Raum abgewonnen, um jedem zum Marktstand auch einen lüftbaren und gut gelüfteten Keller zu geben, in den der Marktkaufmann seine Waren mit Hilfe eines Aufzuges schaffen kann. Und an zwei Stellen dieser weiten Kellerräumlichkeiten sind auch große Waschbecken angebracht, in denen das Gemüse gewaschen werden kann. Vom gesundheitlichen und vom wirtschaftlichen Standpunkt bedeutet das einen Fortschritt. Die Ware ist einwandfrei und sie kann länger frisch erhalten werden. Es geht weniger Ware zugrunde. Je weniger Gemüse aber dem Händler zugrunde geht, desto billiger kann das Gemüse dann abgegeben werden. Hätten den Schlinger-Hof Wiener Hausherren gebaut und die Gemeinde hätte von ihnen verlangt, daß sie für die Marktkaufleute Keller einbauen sollen, so wäre dafür eine so hohe Miete begehrt worden, daß das Gemüse nicht verbilligt, sondern wahrscheinlich verteuert worden wäre. Letzten Endes hätten die Marktbudenbesitzer ihre Waren entweder täglich wieder nach Hause schleppen müssen, um sie zu Hause wieder gut aufbewahren zu können, oder sie hätten sie in ihren Buden nachtsüber aufstapeln müssen. Welcher Fortschritt das Heute! Auch Konfiskationsräume sind da und brauchbare Räume für das Marktamt und eine ideale Wage [!], in der irgendeine Manipulation zugunsten oder ungunsten der Parteien darum ausgeschlossen ist, weil die Feststellung des Gewichts völlig auf automatischem Wege vollzogen wird.

Und im Hofe des Riesengebäudes eine der schon berühmt gewordenen Waschküchen der städtischen Wohngebäude, eine Waschküche, wo die Hausfrau in vier Stunden reinigen kann, was eine fünfköpfige Familie in vierzehn Tagen an Wäsche braucht. Neuerdings Bewunderung und Neid derer, die das noch nicht mitbenützen können. Aber auch hier ist schon wieder ein Schritt nach vorwärts gemacht. So wie der Kindergarten nicht nur den Kindern des Hauses zur Verfügung steht, so ist auch diese Waschküche gegen eine ganz bescheidene Miete andern Proletarierfrauen zugänglich, die außerhalb des Hauses wohnen. Die Leistungsfähigkeit der Waschküchen kann dadurch auf das äußerste ausgenützt werden. In einer Viertelstunde ist die Wäsche in den Trockenkulissen trocken und nicht rußig. Ueber jedem Waschtrog gibt es zwei Auslaufhähne für heißes und kaltes Wasser, daneben steht ein Dampfkessel mit Zulauf für heißes Wasser und einem Hebel für den Ablauf des Schmutzwassers. Nirgends braucht die beim Waschen sonst so gequälte Frau schwere Lasten zu heben: Wasser oder nasse Wäsche; immer wieder kommen ihr mechanische Vorrichtungen zu Hilfe. Die elektrische Rolle, die Streudüse zum Wäscheeinspritzen und das elektrische Bügeleisen vervollkommnen die Einrichtung. Da ist es wirklich ein Vergnügen, zu waschen, keine Last mehr, kein Schrecken mehr!

Schlinger-Hof und Bretteldorf.

Und dann der Gegensatz!

Eine rasche Fahrt in das benachbarte Bretteldorf, das auf Überschwemmungsgebiet gestellt, von den Kleinbesitzern der Bretterhütten verteidigt wird wie ein Heiligtum, das aber doch eine gesundheitliche Gefahr, nicht nur für die Bewohner des Bretteldorfes, sondern für die ganze Stadt bedeutet. Wir sehen die Kehrichtabfuhr nach dem Coloniasystem, wir sehen, wie oben ein ganzer Wagen gestürzt wird und unten ein Tankwagen seinen Inhalt aufnimmt und wie dieser Tankwagen dann über die neue „Mistg’stetten“ dahinrollt und irgendwo seinen Inhalt entleert, der dann noch sortiert wird von seinem Unternehmer, der da unten den Abfall der Großstadt und proletarische Kraft auswertet. Eine Milliarde Pachtschilling zahlt der Mann für die Erlaubnis, den Abfall der Großstadt auswerten zu dürfen und trotzdem wird er noch ein schwerreicher Mann dabei. Aber die armen Menschen, die diese Arbeit zu leisten haben, wie hausen sie hier! Es ist ein schauriger Einblick, den wir im Vorüberfahren gewinnen, wenn wir in die kleinen Eisenbahnwaggons oder Wagen sehen, die da mitten im Mist, aber ohne Räder, gestellt sind und deren eine Wohnung für ein paar Menschen darstellt. Berge von Glasscherben, Kondensbüchsen sind da und dort aufgestapelt und von anderm Gerümpel. Der Pächter hat einen eigenen Schmelzofen, in dem die Kondensbüchsen und andern Metallgegenstände in Barren gegossen und dann wieder verkauft werden. Ein Großbetrieb, aufgebaut auf die Arbeitskraft wahrer Enterbter. Schaudernd schauen wir in dieses Leben. Und wie Befreiung scheint es uns allen, als der Führer das Zeichen zum Aufbruch gibt, nach der letzten Station, die wir vor uns haben, nach dem Amalienbad in Favoriten.

Auf dem Wege dahin begegnen wir in der Rasumofskygasse zwei Damen in Reithosen, die eine mit einer schwarzen Jockeimütze, die andre in schwarzem Schlapphut, beide in schwarzen Fräcken steckend, die eben auf ihren Pferden von dem Morgenritt in den Prater zurückkehren. Ein Blick in die andre Welt. in die Welt derer, die nur ihrer Pflege, nur ihrer Schönheit leben …

Verbrüderung Ottakring-Favoriten.

Ehe wir die herrlichen Hallen des Amalienbades betreten, das moderne „Tröpferlbad“ und das schöne Dampfbad besichtigen, laden uns noch die Vertrauensmänner eines städtischen Wohnbaues in der Bürgergasse in Favoriten zu kurzem Verweilen ein. Wir treten ein, sie empfangen uns in ihrem noch nicht völlig fertiggestellten Beratungssaal, aber was sich in dieser halben Stunde, die wir dort zubringen, abspielt, das ist ein herzerfreuendes Verbrüderungsfest zwischen den Proletariaten der beiden mächtigsten Wiener Proletarierbezirke, zwischen Favoriten und Ottakring. Im Nu ist aus der Exkursion eine Wählerversammlung geworden, in der ein Exkursionsteilnehmer den Gefühlen aller beredten Ausdruck gibt, den Gefühlen aller für die rote Gemeinde Wien auf der einen Seite, den Gefühlen aller aber auch gegen die Preßhelden der Einheitslistler, die begehren, daß alle diese Herrlichkeiten, die da in einem Vormittag geschaut werden konnten, erbaut werden sollen, indem sich die Gemeinde Wien dem internationalen Kapital tributpflichtig macht, ja nicht aus der eigenen Kraft, und die zugleich alles zu schön, alles zu luxuriös, finden. Für die Herren das schön verkachelte hygienische Bad, für das Proletariat das muffige Tröpferlbad, wie es einst war. Das ist die Meinung der Zeitungen der Einheitsfront von dem christlichsozialen Regierungsblatt bis zur „N. Fr. Pr.“.

Und dann geht es wirklich ins Amalienbad. Wir schauen den Zauber, den da die Gemeinde Wien wieder geschaffen hat, für das Proletariat geschaffen hat, damit auch das Proletariat seinem Körper in Gesundheit und Schönheit zugleich dienen könne.

***

Dann geht es wieder nach Hause in die alten Wohnungen und ein Stück Unzufriedenheit in dem Herzen zieht nun mit ein. Dabei aber belebt jeden Einzelnen der große Gedanke: Das, was wir heute geschaut haben, den kleinen Ausschnitt aus dem großen Wirken der sozialdemokratischen Gemeinde der letzten vier Jahre, das ist alles noch ein bescheidener Anfang, es soll noch viel mehr, es soll noch viel Schöneres kommen: 30.000 neue Wohnungen, Spielplätze und Bäder, und für Kinder und Mütter, alles was nötig ist, Krippen, Heime, Kliniken, und für die Kranken und Alten alles, und für die Hausgehilfinnen Heime und dazu Parks und schöne staubfreie Straßen für alle, und vieles andre, alles, alles will die rote Gemeinde leisten, wenn sie getragen ist, von dem Vertrauen des roten Wien. Möge der 24. April ein Tag des Segens werden für diese Stadt, für unser aller geliebtes Wien.

In: Arbeiter-Zeitung, 17. April 1927, S. 19-21

Käthe Leichter: Die beste Abwehr (1933)

„Diese deutsche Erfahrung hat vor allem gezeigt, daß die furchtbarsten und schwersten Opfer, die eine Arbeiterklasse im Kampf gegen den Faschismus bringen muß, immer noch leichter sind als die Opfer, die ein widerstandsloses Niedergeworfenwerden der Arbeiterklasse auferlegt.“

Otto Bauer auf der Internationalen Sozialistischen Konferenz.

Die deutsche Katastrophe hat der Arbeiterklasse der ganzen Welt die Verpflichtung auferlegt, ihre Taktik zu überprüfen. Dabei kann es sich nicht nur darum handeln, festzustellen, ob dieser oder jener Zeitpunkt versäumt, diese oder jene Situation richtig genutzt, diese oder jene Entscheidung falsch war, ob hier die Führer und dort die Massen es an Initiative oder Tatkraft haben fehlen lassen. Diese jetzt so häufige Methode der kritischen

Auseinandersetzung sieht die Erscheinungsformen, aber nicht die tieferen Ursachen für die Überrumpelung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus. Nur wenn wir gewissenhaft prüfen, ob die Gründe manchen Versagens nicht tiefer zurückliegen, ob die Perspektive, die die Arbeiterbewegung innerhalb der bürgerlichen Demokratie der Nachkriegsjahre geleitet hat, auch die sein konnte, die uns zum Kampfe gegen den Faschismus befähigt, nur wenn wir

daraus die nötigen Konsequenzen ziehen, wird uns jene innere Umstellung gelingen, die der Augenblick erfordert. Denn dadurch, daß die Konterrevolution nicht überall gleichzeitig, nicht überall mit einem Schlag als hundertprozentiger Faschismus auftritt, ist der Arbeiterbewegung, die in anderen Ländern vom Faschismus bedroht ist, eine Frist gegeben, von deren richtiger Nutzung es abhängen wird, ob der entscheidende Gegenangriff erfolgreich abgewehrt werden kann. Selbstkritik also, nicht um in nachträglicher Selbstzerfaserung nicht wieder Gutzumachendes festzustellen, sondern um jene gefährliche Lähmung zu vermeiden, von der wir heute wissen, daß sie auch das Schicksal einer großen,

mächtigen Arbeiterklasse sein kann, und um jene Aktionsfähigkeit zu gewinnen, die allein den Faschismus erfolgreich abwehren kann.

Dazu scheint es aber vor allem notwendig, der sozialistischen Bewegung den Glauben an die Automatik, an die Unabwendbarkeit wirtschaftlichen und geschichtlichen Geschehens zu nehmen, der sie in diesen letzten Jahrzehnten nur allzusehr beherrschte. […] //

Der Überschätzung der Automatik des wirtschaftlichen Lebens in einer Zeit, in der die Automatik der kapitalistischen Wirtschaft zerstört ist, entspricht der Glaube an den demokratischen Automatismus in einer Zeit, in // der die Demokratie vom Klassengegner gesprengt ist. Man kann der österreichischen Sozialdemokratie gewiß nicht den Vorwurf machen, daß sie diese Situation nicht vorausgesehen habe. Kein anderes sozialistisches Programm hat die Sprengung der Demokratie mit solcher Klarheit vorausgesehen wie das Linzer Programm der österreichischen Sozialdemokratie, in dem nicht etwa als Möglichkeit, sondern als sicher festgestellt wurde: „Die Bourgeoisie wird nicht freiwillig ihre Machtstellung räumen.“ Und doch wissen wir heute, daß in seiner Konzeption der Machteroberung eine Lücke klafft. Daß die Staatsmacht mit Gewalt zu erobern sei[n] wird nur defensiv, nur für den Fall zugegeben, daß alle Anstrengungen, in die Wehrmacht des Staates einzudringen, mit demokratischen Mitteln die Staatsmacht zu erobern, gescheitert sein sollten. Aber wissen wir nicht aus der Erfahrung dieser letzten Jahre, daß nicht nur wir unsere Strategie der Revolution, daß auch die Bourgeoisie ihre wohlfundierte Strategie der Gegenrevolution hat? Nur in Zeiten, in denen die Arbeiterklasse geschwächt ist, geschwächt durch politische Selbstzerfleischung wie in Italien, geschwächt vor allem durch die Krise, durch die verminderte Möglichkeit der Anwendung gewerkschaftlicher Kampfmittel, geschwächt durch politisch ungünstige internationale Konstellationen, wird die Bourgeoisie die Demokratie sprengen. Der Gegner weiß sehr gut, wann die politische Konjunktur für ihn günstig ist —, und nur dann wird er, durch keinerlei ideologische Bindungen gehemmt, an die Aufrichtung der bürgerlichen Diktatur gehen. Ja, er wird es sogar mit Sicherheit nur dann tun, wenn er nicht nur über illegale Kampftruppen, sondern auch über Teile des Staatsapparats verfügt, kurz, wenn ihm die Chance des Sieges winkt. Indem wir so unseren Entscheidungskampf auf den Zeitpunkt verlegen, in dem der Gegner die Demokratie sprengt, verlegen wir ihn von selbst auf einen Augenblick, in dem wir ökonomisch, international und innerpolitisch die Schwächeren sind, die Gefahr, den Kürzeren zu ziehen, also sehr groß ist. 

Kein Zweifel, daß heute, da sie in großen Teilen Mitteleuropas zerstört ist, die Demokratie erst vielen erstrebenswert erscheint. Und doch, wenn uns heute so oft die Wiedereroberung dieser Demokratie als Hauptaufgabe gestellt wird – das, so fühlen viele in der Partei, war nicht der Sinn des Linzer Programms, daß wir, wenn der Gegner den Boden der Demokratie gesprengt hat, ob der entschwundenen Demokratie klagen, statt ihm auf den Boden zu folgen, den er uns durch die Sprengung der Demokratie aufzwingt. Freilich haben wir dabei an eine andere ökonomische und internationale Situation gedacht, aber das war ja eben die Illusion. Solange wir unsere Taktik als Defensivtaktik auf den Angriff des Gegners aufbauen, werden wir notwendig in einen Zirkel geraten, der uns einmal nicht kämpfen läßt, weil der Gegner uns nicht genügend provoziert, das andere Mal, weil er uns zu erfolgreich angreift. […]//

Sehr treffend hat der Belgier Spaak auf der Internationalen Konferenz gesagt: „Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß eine Partei, die jahrelang festgelegt ist auf die Regeln und Methoden des rein demokratischen Kampfes, mit einem Schlage, wenn der Faschismus kommt, sich umstellen kann auf gewaltsame Abwehr im illegalen Kampf.“ Die Schwierigkeiten dieses Umstellungsprozesses haben wir in den letzten Monaten erfahren.

So entsteht ein optimistischer Fatalismus, der ebenso gefährlich sein kann wie der pessimistische. Der da fatalistisch glaubt, der Faschismus sei unabwendbar, wird gewiß nicht die Kraft aufbringen, ihm entgegenzutreten. Aber auch der da meint, Faschismus, das sei nur eine Form der Reaktion wie vieles andere, das alles habe es schon gegeben und sei doch nicht so schlimm, man müsse nur abwarten, bis wieder „unsere Zeit“ kommt, wer also auf die Selbstzersetzung und Selbstauflösung des Faschismus hofft, ohne daß die Arbeiterklasse in Aktion zu treten brauche, oder gegen andere Formen der Konterrevolution abgestumpft wird, weil sie doch keinen hundertprozentigen Faschismus darstelle, begeht mit seinem fatalistischen Optimismus, der alles von den Ereignissen und nichts von der Kraft der Arbeiterklasse erhofft, diese Arbeiterklasse aber dadurch als handelnden Faktor gewissermaßen aus dem Gang der Entwicklung ausschaltet, einen ebenso schweren Fehler wie der, der den Faschismus für unabwendbar hält. Der ökonomische Determinismus, der nur fragt, was diese Krise bedeutet, und nicht, wie man sie auswerten kann, findet hier seinen ideologischen Überbau in einem politischen Fatalismus, der fasziniert auf das Kommen wie auf das Verschwinden des Faschismus wartet, ohne die Frage so zu stellen: Was tut die Arbeiterklasse, um den Faschismus gar nicht erst groß werden zu lassen oder ihn, „wenn er dennoch ausbrechen sollte“, zu stürzen)?

Ist es Geringschätzung der Demokratie, wenn ihre bloße Zurückeroberung mit ihren Freiheitsrechten, ihrem Parlamentarismus wenig Leidenschaften auslöst? Gewiß lernen Tausende erst heute den Wert der Demokratie schätzen. Als Zustand wäre sie freilich hundertmal erwünschter als die faschistische Diktatur. Was aber enttäuscht hat, ist die Dynamik der demokratischen Entwicklung. Daß auch die bürgerliche Demokratie für uns arbeitet, schien uns nach unserer marxistischen Überzeugung sicher: infolge des Zunehmens der Lohnarbeiterschaft, der Proletarisierung immer größerer Schichten, die auf dem freien Boden der Demokratie nun auch zu uns stoßen mußten. Aber auch hier ist die Entwicklung nicht so automatisch, nicht so mechanisch verlaufen. Die Proletarisierung ist in ungeheurem Ausmaß eingetreten, aber nicht in der Form der Zunahme der Lohnarbeiterschaft, sondern im Gegenteil: durch Hinausschleudern immer größerer Massen aus dem Produktionsprozeß, durch Deklassierung von Mittelschichten, aber nicht zu Lohnarbeitern, sondern zu Paupers. Nicht die Vereinheitlichung, sondern die Ökonomische Zerklüftung des Proletariats war die Folge von Nachkriegszeit, Rationalisierung und Weltwirtschaftskrise. Hier sind Schichtungen entstanden, die durchaus nicht automatisch die Scharen unserer Bewegung vergrößert, sondern im Gegenteil dem Faschismus die Möglichkeit geboten haben, mit pseudosozialistischer Phraseologie in die Arbeiterklasse, in ihre Randschichten nach oben wie nach unten, einzudringen. Gewiß wäre auch das nicht ohne Versäumnisse von unserer Seite so leicht gewesen. Wir haben in einem Zeitpunkt, in dem die Krise schon weit fortgeschritten war, noch immer im wesentlichen die Politik der beschäftigten Arbeiter gemacht, um deren Löhne, um deren Rechte im Betrieb, um deren Sozialpolitik vor allem gerungen wurde. Freilich kann man auch gerade da der österreichischen Bewegung nicht den Vorwurf machen, daß sie das Problem nicht gesehen hat. Der Gewinnung der Mittelschichten, dem Kampf um die Arbeitslosenversicherung hat ein Großteil unserer Energie in den letzten Jahren// gegolten. Aber wir haben dabei beide psychologisch nicht richtig eingeschätzt. Wir waren überzeugt, daß die Mittelschichten so eng mit der kapitalistischen Ordnung verknüpft sind, daß wir zu ihnen im wesentlichen mit Forderungen kamen, die ihnen den Bestand der kapitalistischen Wirtschaft zusicherten —, und haben dabei ihren bei Deklassierten besonders affekthaften Antikapitalismus übersehen. Wir haben die Arbeitslosen von vornherein für so revolutionär gehalten, daß wir geradezu fürchteten, ihre revolutionären Leidenschaften loszulösen und uns darauf verließen, daß unser parlamentarischer Kampf um ihre Unterstützung sie ohnehin an uns fesseln würde – aber dieser parlamentarische Kampf wurde immer unfruchtbarer, mußte Verschlechterungen in Kauf nehmen, für die wir verantwortlich gemacht wurden. Langandauernde Arbeitslosigkeit aber – das wissen wir heute – revolutioniert nicht immer, sie schafft nur allzu leicht Resignation.

Auch hier waren sozialistische Leidenschaften zu wecken. Wo wir es versäumten, trat Indifferenz ein, der beste Boden für den Faschismus. So kann die Demokratie, wenn nicht richtig ausgenützt, sehr wohl auch mit zunehmender Proletarisierung nicht eine automatische Vergrößerung der sozialistischen Reihen, sondern im Gegenteil den „Feind von innen“, den „Faschismus“, der sich auf die Randschichten der Arbeiterbewegung stützt, erzeugen. Nicht die Demokratie, aber die in den meisten Ländern miterlebte Dynamik der bürgerlichen Demokratie, in der die Kapitalisten bemüht sind, so bald wir stärker werden, ihre Geldmittel zum Aufzüchten einer faschistischen Massenbewegung, die den Marxismus niederkämpfen soll, zu verwenden, in der sich also letzten Endes die Demokratie gegen uns auswirkt, ist in schlechtem Ansehen bei der Arbeiterschaft. Und sie ist es um so mehr in der heutigen Zeit, in der es so klar ersichtlich ist, daß der Gegner weit größere Machtmittel und viel geringere Hemmungen zur Verfälschung der Demokratie in seinem Sinne hat. Ist es denkbar, ihm diese einmal angewendeten und bis zum Faschismus gesteigerten Machtmittel ohne stärksten Gegendruck zu entwinden, ist es überhaupt denkbar, daß, wenn sich die Arbeiterschaft aus der furchtbaren Umklammerung der faschistischen Gefahr befreit haben wird, sie nach den bisherigen Erfahrungen ihren Unterdrückern Freiheit und Muße geben wird, sich wieder zu sammeln und das Spiel von vorne anzufangen?

So entsteht in der Arbeiterklasse der leidenschaftliche Wunsch, als Endziel unseres Kampfes mit dem Faschismus, nicht wieder die bürgerliche Demokratie, sondern die sozialistische Machteroberung zu sehen. So entsteht aber auch der starke Drang, diese Macht nicht nur zu erobern, sondern auch durch eine „Erziehungsdiktatur“ (Aufhäuser) als Weg zur sozialistischen Demokratie gesichert zu wissen. Es ist ein Schritt vorwärts, wenn Bauer im Kampf und auf der internationalen Konferenz die Ansicht vertreten hat, daß die Demokratie, um die gekämpft werden soll, eine sozialistische, eine ökonomisch fundierte Demokratie sein muß. Aber das allein genügt nicht. Es gilt, die geänderte ökonomische Grundlage, es gilt die neue Staatsform gegen die unvermeidbaren Gegenaktionen der Bourgeoisie zu sichern, die Macht mit diktatorischen Mitteln zu behaupten, um vor Rückschlägen gesichert zu sein und zu verhindern, daß die Machtergreifung durch das Proletariat eine bloße Fortsetzung der „Schaukelpolitik“ in der bürgerlichen Demokratie scheint, in der auch eine sozialistische Regierung unfehlbar wieder von einer bürgerlichen abgelöst wird, weil der Gegenagitation gegen die sozialistische Regierung freier Spielraum gelassen und erst spät die Frage aufgeworfen wird, warum die Arbeiterschaft so „großherzig und gnädig. in der Stunde ihres Sieges mit demselben Gegner umgegangen ist“. (Bauer auf der Internationalen Konferenz.)

In der Augustnummer des Kampf wendet Bauer gegen dieses Bekenntnis zur Diktatur im wesentlichen ein, daß es uns bei der Erfassung der Mittelschichten hinderlich sein könnte. Aber eindrucksvoll weist einige Seiten weiter Dan nach), daß wir diese Schichten psychologisch falsch// beurteilt haben, daß sie weit eher mit offener sozialistischer Agitation zu gewinnen waren, als mit vorsichtigen Parolen. Und hat uns nicht Hitlers Aufstieg gelehrt, daß gerade der rücksichtslose Machtwillen die ungeschminkte Betonung der Diktatur bei diesen herumgeworfenen Anlehnung an eine starke Macht suchenden Schichten, vielleicht am stärksten wirkt? Wenn wir vor uns selbst entschlossen sind, diese Diktatur nur soweit sie unbedingt notwendig ist und nur als Überleitung zur sozialistischen Demokratie zu gebrauchen, innerhalb der Arbeiterbewegung auch in der Diktatur die Selbstbestimmung zu wahren, wenn wir vor allem nicht selber die Diktatur mit einem Schreckensregime identifizieren und etwa wie Karl Kautsky”) zu einer Gegenüberstellung von Humanität und Bestialität kommen, so können wir getrost diesen Weg als den unseren verkünden. In den heute von Zweifeln erschütterten Massen unserer Mitglieder und unserer Anhänger wird es unzweifelhaft das Gefühl stärken, daß nicht so leicht wieder „eine Revolution zugrunde gehen kann“ und daß ein neuer Umsturz in Mitteleuropa kein neues 1918 bedeutet.

Und wähnen wir doch selber nicht, daß uns der Gegner wegen unseres Wortradikalismus haßt! „Austrobolschewiken“ sind wir in den Augen des Österreichischen Bürgertums nicht wegen des Linzer Programms und etwaiger kräftiger Worte in Reden und Leitartikeln, sondern wegen des Mieterschutzes, der Breitner-Steuern, der Betriebsräte und der sozialen Lasten. Unsere revolutionären Worte hätten sie wenig gestört, unsere Reformen, die den Profit und den Machtbereich des Unternehmers im Betrieb eingeschränkt haben, haben ihre Nervosität geweckt. Auch die vorsichtigste Programmformulierung und Schreibweise hat die deutsche Sozialdemokratie nicht vor dem Haß der Gegner schützen können, den gerade ihre reformistische Tagespolitik in der Schaffung eines neuen Arbeitsrechtes und in der Verwaltung Preußens geweckt hat. Wollten wir auf die Gegenagitation Rücksicht nehmen, so müßten wir nicht auf unsere sozialistische Zielsetzung, sondern in Wirklichkeit auf unsere Tagespolitik verzichten. Und tatsächlich sehen wir ja auch, daß der erste Angriff des Faschismus überall vor allem diese sozialen Errungenschaften beseitigt. So ist heute der Reformismus in eine Sackgasse geraten. Rät er uns, was in allen Ländern der Fall ist, um der sozialen Institutionen, um der tatsächlichen Werte, um all dessen willen, was die Arbeiterschaft bei der Auseinandersetzung mit dem Gegner zu verlieren hätte, still zu halten und den großen Einsatz nicht zu wagen, so ist das nach den nbisherigen Erfahrungen gerade der sicherste Weg, diese Errungenschaften aufzuopfern. Denn schrittweise, aber zielbewußt, baut heute die Gegenrevolution Sozialpolitik und Sozialversicherung, Selbstbestimmungsrecht im Betrieb und Mitbestimmungsrecht der Gewerkschaften, Gemeindeautonomie und soziale Wohnungspolitik ab. Die Einrichtungen und Werte, die heute vielfach die Arbeiterschaft in ihren Kampfmöglichkeiten hemmen, weil ihr Verlust gefürchtet wird, gehen, so bald der Gegner unseren Gegenangriff nicht mehr fürchtet, am sichersten verloren. „Die Zwecke der Defensivaktion selber können nur noch durch eine Offensivaktion erreicht werden“, sagt de Mahn, „Das Prinzip der Demokratie verbietet es, ein absoluter Demokrat zu bleiben“, Irlen. Ebensogut könnte man sagen, daß die Reformen nur mehr mit revolutionären Mitteln behauptet werden können und daß gerade ihre Erhaltung verbieten müßte, Reformist zu sein. Nicht wenn wir auf die loyale Zusammenarbeit mit dem Gegner bauen, sondern nur wenn er uns fürchtet, wird sein Angriff auf unsere sozialen Positionen ausbleiben.

Wenn man dem Feind unmittelbar gegenübersteht, ist es notwendig, rücksich[t]slos zu fragen, wo Lücken in den eigenen Reihen sind. Für den Sozialismus bedeute das heute manche innere Umstellung, schmerzhaft für die, die von der geruhsamen Entwicklung der ersten Nachkriegsjahre schwer wegfinden, hoffnungsvoll für die, die in sozialistischer Selbstzufriedenheit und Erstarrung immer die größte Gefahr, in dem ständigen Ringen um den rechten Weg die //sicherste Gewähr für den Sozialismus gesehen haben. In Deutschland muß sich heute diese Regeneration des Sozialismus unter der furchtbaren Niederdrückung durch den Faschismus vollziehen. Sorgen wir dafür, daß sie uns nicht erst vom Faschismus aufgezwungen werde, sondern uns im Gegenteil befähigt, ihn abzuwehren.

In: Der Kampf, H. 11 (November) 1933, S. 446-452 (Auszüge)

O.M. Fontana: Werden der Dichtung. Versuch einer Selbstanalyse (1929)

Die neuere, wieder aus Spezialfertigkeiten und Einzelwissen zu einer geistigen Zusammenfassung strebende Medizin hat für das rätselhaft Bestimmende und Beharrende im Menschen den Ausdruck: Tiefenperson gefunden. Was macht nun den Dichter? Daß diese Tiefenperson, die im sogenannt normalen Menschen taubstumm bleibt, im Dichter zu hören und zu reden vermag. Wie diese Tiefenperson wird und ist, ergibt sich aus der Konstitution des Individuums und ist aus ihr wissenschaftlich eindeutig abzuleiten. Aber unableitbar, ein Geheimnis – warum die Tiefenperson in jenem taubstumm bleibt, in diesem hört und spricht. Auch so: ich (oder mir lieber: ein anderer) vermag zu sagen, aus welchen Lebensvorgängen heraus, kurz: wie ich dichte und in welcher Weise dieses Gedichtete dem

Ganzen meiner Person entspricht. Aber warum ich dichte, gerade ich in der Reihe meiner Ahnen – wer kann das sagen, besonders im Westen der Kultur, wo jeder glaubt, glauben muß, mit ihm beginne das Leben neu.

Soviel über die Gründe des Dichtens, über sein Geheimnis. Seinen Erscheinungen läßt sich mehr und auch mehr an der Oberfläche Liegen­des abgewinnen. Etwa die Frage: was ist zuerst beim Dichten da – das Gesicht eines Menschen oder seine Seele? Ich kann darauf nur ant­worten: je nachdem, einmal ist es dieses, das andere Mal jenes. Ein Gesicht, dem ich begegne, vermag mich zu verstören und tagelang zu be­schäftigen. Es geht in mir unter, um in neuer Form, mir unbewußt, wieder zu erstehen. So entstand mein Roman Erweckung. Begegnung eines Verlorenen war seine erste Keimzelle. Einen seelischen, einen geistigen Inhalt bis an sein Ende durchzugehen – ich weiß weniges, was für mich verlockender ist. So wurde der Roman, an dem ich jetzt arbeite und der Weiter leben heißt. Er wurde aus der Erkenntnis und dem Durchdenken jener Situation und jenes Lebens­inhalts, die mich und meine Gefährten des Schick­sals bestimmten und bestimmen: unsere Jugend und unser Mannestum.

Wie aber Darstellung immer Gestalt werden muß – das ist der Kampf des Dichters. Ein langer zäher Krieg, in dem große Siege oder Durchbrüche sehr selten sind, in dem es um ein kleines Grabenstück Welt oder Mensch geht. Ich möchte sagen: an seinen inneren Niederlagen wächst der Dichter. Er wird von ihnen nicht er­drückt, er muß sie überwinden. Das gibt ihm Kraft der Erneuerung, das ist seine Wintererde. Dichter ohne diese Inneren Niederlagen gehören jenem Jungentypus an, in dem der Frühlingssaft dichtet und der mit 35 Jahren vertrocknet, erledigt ist.

Wie einer Gestalt, einer Vision, einer Er­kenntnis Welt zuwächst, wie sich dieses Absolute der Tiefenperson mit der Vielfalt der Er­scheinungen mengt, die wir beglückt Leben nennen – das ist das Erlebnis des Dichters. Und auch: wie das von ihm Gedichtete Eigenleben gewinnt, wie sein fiktiver Mensch irgendwohin zu gehen beginnt, wo ihn der Dichter überrascht wiederfindet, und wie eine Idee sich zu ihrer letzten Konsequenz durchringt und den Dichter mit sich reißt. Das sind Dinge, die der Dichter mit sich selbst auszutragen hat, die den Betrachter nicht küm­mern, die aber über Glück oder Unglück, über Gelingen oder Mißlingen eines Werkes ent­scheiden.

Der Kampf des Dichters geht nach zwei Fronten, nach einer geistig inhaltlichen und nach einer formalen. Das Gehörte und Geschaute muß nicht nur Leben bekommen, es muß auch die Grenzen des Lebens erhalten, in denen es jenseits des Chaos, der Anarchie sich erfüllen kann. Ich glaube nicht, was sehr viele und sehr anerkannte Dichter glauben, es gebe feste Formen, in die alles gegossen werden könne. Es genüge zum Bei­spiel in der Epik bei A zu beginnen, um in der Reihe des Alphabets notwendig Z zu erreichen. Ich glaube, daß jedes Leben anders ist und daß darum jeder Roman, jede Geschichte anders sein muß. Ein Baumblatt ist ein Baumblatt, aber jedes ist anders gewachsen. Von innen her. Auch die Form einer Dichtung kann nur vom Inhalt her bestimmt sein. Ich habe darum in meiner

Erweckung dem Aufbrechen verhärteten Menschenseins die knappe große Sinnbildlichkeit

zu geben versucht, die jener ewige innere Vorgang beansprucht. Ich habe in dem Roman von der Insel Elephantine (Katastrophe am Nil) eine Gesellschaft innerhalb ihres Zusammenbruchs an­schauen wollen und sie darum in eine flackernde, nervöse Bilderfolge gestellt. Ich habe in dem Roman Gefangene der Erde den Weg eines Menschen, der den der Menschheit wiederholt, den Weg von der Schönheit des Barbarentums über den Zwiespalt der Zivilisation bis zur Schönheit seelischer Menschhaftigkeit durchschreiten wollen. Wie konnte ich den anders erzählen, als indem ich di« Stationen dieses Wegs, die Unbefriedigung, das Sucherische bis zur letzten Mündung immer wieder und in vielen Spielarten sichtbar machte!

Wann ist eine Dichtung fertig? Ich glaube: nie. Wie die Erde, die Welt, der Mensch ja auch nie fertig ist. Nur die schlechte Dichtung ist fertig. Der Schöpfung fehlt immer der i-Punkt. (Der Wahn, ihn setzen zu können, macht alles Menschenwerk so glückhaft und tragisch zugleich.) Die Schöpfung ist niemals und nirgendwo Kalli­graphie. Die Dichtung sollte es auch nie sein wollen. Wenigstens ich hüte mich davor. Ich glaube: die Dichtung, die wirklich Dichtung ist, bleibt immer im feurig flüssigen Zustand. Nur das erhält sie am Leben, nur das läßt die späte­ren Zeiten zu ihr wiederkehren und, sich in ihr spiegelnd, sich selber wiederfinden. Darum ist nicht der Staub der Bibliotheken, nicht die Literaturkritik oder Professorengeschichte, nicht die Klassikerausgabe jüngstes Gericht des Dichters und der Dichtung, sondern nur das Leben selber, das der Dichter, so er einer ist, immer will und

bis an seinen Grund erlebt. Nichts scheint mir lächerlicher als der Versuch, für „gesammelte

Werke“ zu schreiben.

Ich liebe die Zeit, weil ich in ihr schwebe wie eine winzige Mücke im Licht. Ich liebe die ewigen Dinge, weil sie allein dem Menschen die Kraft zum Höchsten geben: zu lieben. Im Ersten und im Letzten glaube ich, nicht das Individuelle macht den Dichter groß und gültig, sondern das Anonyme.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 16.4.1929, S. 5.

Otto Neurath: Weltanschauung und Marxismus. (1931)

Ist der Marxismus selbst eine Weltanschauung (stützt er sich auf eine ganz bestimmte Philosophie) oder ist er mit deren Lehren verschiedener philosophischer Systeme vereinbar?

Diese Frage setzt stillschweigend voraus, daß es neben wissenschaftlichen Aussagen noch andere sinnvolle gäbe, die mit ihnen sinnvoll verknüpft werden können, die „philosophischen“ oder „weltanschaulichen“. Diese Annahme ist falsch. Es gibt neben der Wissenschaft keine sinnvollen Sätze philosophischer Systeme. Der Marxismus ist als Wissenschaft weder auf eine bestimmte philosophische Grundlegung angewiesen noch hat es einen Sinn, zu fragen, ob er mit verschiedenen Weltanschauungen vereinbar ist.

Es ist insbesondere dem „Wiener Kreis“ um Schlick und Carnap zu verdanken, daß der Nachweis erbracht wurde, man könne nur Scheinsätze neben den Sätzen der Wissenschaft formulieren. Ohne diesen Nachweis hier im einzelnen zu führen, seien seine Grundgedanken kurz dargelegt. 

Unter Wissenschaft wird hier ein System von Formulierungen verstanden, das uns die Möglichkeit gibt, Voraussagen über bestimmte Vorgänge zu machen. 

Nur solche Voraussagen werden zugelassen, von denen man angeben kann, wie sie bestätigt oder widerlegt werden können. Sagen wir zum Beispiel schönes Wetter voraus, so müssen wir angeben können, was für Kontrollaussagen der Wetterwarten einlaufen müßten, damit die Voraussage als bestätigt gelten soll. 

Um zu den Voraussagen zu gelangen, werden die vorhandenen Beobachtungsaussagen gesammelt, Aussagen über Regen und Temperatur, über Luftdruck und // Feuchtigkeit, bis man über Gesetze verfügt (Vorgang der Induktion), die uns die Möglichkeiten geben, durch geeignete Verknüpfungen von Korrelationen Voraussagen zu machen, die dann durch Kontrollaussagen (in A hat es geregnet, in B war Sonne usw.) überprüft werden. […]

Nicht immer kann man über Einzelvorgänge Voraussagen machen, manchmal nur über Gruppen von Vorgängen. Man kann etwa mit genügender Genauigkeit die Sterblichkeit einer Bevölkerung im nächsten Jahr voraussagen, nicht aber, ob ein bestimmter Mensch im nächsten Jahre sterben wird (Statistische Voraussagen).

Die wissenschaftliche Sprache wird so eingerichtet, daß die Beobachtungsaussagen durch Aussagen über eine einheitliche Ordnung ersetzt werden können. In allen wissenschaftlichen Aussagen wird angegeben, wann und wo sich etwas ereignet, wobei die Aussagen eines Blinden, der taub ist, eines Tauben, der blind ist, den gleichen Wortlaut haben. An die Stelle der Worte „periodisch auftretendes Hell und Dunkel“ und der den gleichen Vorgang beschreibenden Worte: „periodisch auftretendes Laut und Leise“ (wenn zum Beispiel ein Blinder mit Hilfe eines Telephons und einer Selenzelle Lichtvorgänge wahrnimmt) tritt eine gemeinsame Formulierung, in der die periodische Schwingung mit ihren sonstigen Eigenschaften ausgedrückt wird; so wie man etwa von einem „Würfel“ spricht, gleichgültig, ob man ein Sehender oder ein Tastender ist. Diese gemeinsame Sprache, die allen Sinnen, allen Menschen gleich gerecht wird, ist die Einheitssprache der Wissenschaft; ist „intersubjektiv“ und „intersensual“.

Am vollkommensten ist diese Sprache in der Physik ausgebildet worden. Sie für alle Disziplinen auszubauen, ist Aufgabe des Physikalismus. Er begründet die Einheitswissenschaft mit ihrem Schatz von Gesetzen, die alle so formuliert werden, das jedes mit jedem kombiniert werden kann. Will man zum Beispiel voraussagen, wie sich ein Volksstamm bei Gewitter benehmen werde, so muß man ebenso die Gesetze des Gewitters wie der Soziologie kennen. Es gibt zwar Gesetze einzelner Wissenschaften, die man aus der Einheitswissenschaft herausschneiden kann, man kann aber nicht jede Voraussage einer bestimmten Wissenschaft zuweisen. 

Die physikalische Einheitssprache der Einheitswissenschaft bemüht man sich so aufzubauen, daß Scheinsätze von vornherein ausgeschlossen werden. Eine Rechenmaschine läßt nicht zu, daß man Rot mit fünf multipliziert oder die Tugend aufs Quadrat erhebt. Aber unsere Sprache erlaubt, daß man von einem „Nachbar ohne Nachbar“ spricht, von einem „Sohn, der nie Vater oder Mutter gehabt“. Daß das sinnleere Begriffe sind, sieht man freilich leicht ein, Aber viele Menschen hängen an Begriffen, wie: „Kategorischer Imperativ“, und sehen nicht ohne weiteres ein, daß das eine sinnleere Wortverbindung ist. […] Eine gut gebaute wissenschaftliche Sprache verfügt über eine Syntax, die Scheinsätze, zum Beispiel über das „Nichts, das nichtet“ (Heidegger), von vornherein unmöglich macht. 

Die Ausschaltung der Scheinsätze ist sehr wichtig. Aber die dann noch übrigbleibenden Aussagen, die grundsätzlich durch Beobachtungs-// aussagen kontrolliert werden können, können noch immer falsch sein! Die gesamten Sätze primitiver Magie zum Beispiel sind irdisch, durchaus durch Beobachtungsaussagen kontrollierbar, und doch sind nur wenige davon in unserem Wissenschaftssystem wiederzufinden. Das gleiche gilt von astrologischen und anderen Behauptungen. Es bedarf ganz anderer Mittel, um zu zeigen, daß eine durch Beobachtungsaussagen grundsätzlich kontrollierbare Behauptung nicht zutrifft.

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Beschreibt man das Verhalten des Einzelmenschen im Individualbehaviorismus, so beschreibt der Sozialbehaviorismus in der empirischen Soziologie das Verhalten von Gruppen, die miteinander durch Reize verbunden sind. Menschengruppen werden ebenso wie Ameisenhaufen untersucht. Metaphysiker, wie Sombart, möchten freilich die Lehre von den Menschenhaufen in eine grundsätzlich andere Wissenschaftskategorie wie die Lehre von

den Ameisenhaufen verweisen, weil es bei den Menschengruppen ein „Verstehen“ gebe. Es läßt sich zeigen, daß alles, was damit gemeint sein kann, sich auf räumlich-zeitliche Ordnung zurückführen läßt, so daß der Monismus des Physikalismus ungebrochen ist.

[…]

Für die empirische Soziologie ist zum Beispiel die Lehre vom Staat eine Lehre von Soldaten, Richtern, Bürgern, Bauern usw. mit ihren Telephonen, Straßen, Häusern, Gefängnissen, Gesetzbüchern usw. Die Nationalökonomie ist eine Lehre von den Beziehungen zwischen Gesellschaftsordnung und Lebenslagenverteilung.

Der Marxismus ist in diesem Sinne empirische Soziologie. Wer als Marxist nach Korrelationen zwischen den einzelnen soziologischen Vorgängen sucht, bedarf keiner philosophischen Grundlegung. Man mache Voraussagen über das Eintreten von Krisen, Revolutionen, Kriegen, über die Lebenslagenverhältnisse einzelner Klassen! Die marxistische Einstellung zeigt sich darin, welche Korrelationen angenommen werden. Man hebt gewisse Vorgänge als „Überbau“ hervor und stellt fest, wie ihr Auftreten mit bestimmten Vorgängen der Produktionsordnung „Unterbau“ zusammenhängt. Der Marxist wird ganz besonders darauf achten, alle wissenschaftlichen Formulierungen, also auch die eigenen, als Überbau in Abhängigkeit vom Unterbau zu sehen, das heißt, er wird erwarten, daß gewisse Theorien erst dann auftreten, wenn soziale Umwälzungen im Gange sind. Er wird daher von der Umgestaltung der Gesellschaftsordnung Änderung der theoretischen Aussagen erhoffen.

Andererseits ist die Theorie als physikalistisches Gebilde nicht nur Symptom für bestimmte Änderungen der Lebensordnung, sondern selbst ein Faktor dieser Umgestaltung. So ändert man durch Verbreitung bestimmter Lehren die Ordnung, und schafft so neue Grundlagen für den Ausbau der Theorie. So ist im Marxismus Theorie und Praxis— beides als räumlich-zeitliches Gebilde— aufs engste miteinander verbunden. Die bürgerliche Lehre vom „neutralen“ Gelehrten, der „von außen her“ den Ablauf der Ereignisse studiere, fällt damit weg.

Es ist bemerkenswert, daß Marx und Engels, auch darin ihrer Zeit weit vorauseilend, die vielfach metaphysisch gefärbte Sprache ihrer Umgebung dazu verwendeten, um zu modernen Wendungen vorzustoßen, die vielfach geradezu an den Behaviorismus heranführen. (Deutsche Ideologie): „Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. Der »Geist« hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie »behaftet« zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz, der Sprache, auftritt. Die Sprache ist das praktische auch für andere, also auch für mich selbst existierende wirkliche Bewußtsein.“

Wer die Traditionen des Empirismus hochhält und sich daran erinnert, daß die Materialisten die hier angedeutete Lehre vorbereiteten, wird sie als „Materialismus“ bezeichnen. Wer sich davor scheut, weil die Kirche den Materialismus verfemte, das Bürgertum ihn verachtet, oder wer sich davor scheut, weil die älteren Materialisten, am Mechanismus festhaltend, nicht ohne gelegentliche metaphysische Exkurse einen Standpunkt vertraten, der gerade der beschwingten geschichtlichen Auffassung des Marxismus Hemmungen bereitete, wird die neutralere Bezeichnung „Physikalismus“ vorziehen.

Marxismus als Wissenschaft macht sinnvolle Voraussagen und enthält sich aller Scheinsätze, er hat daher weder positiv noch negativ mit den Scheinsätzen der Philosophen etwas zu tun, mögen sie wie immer formuliert sein. Um den historischen Anschluß zu gewinnen, mag die Beschäftigung mit philosophischen Lehrmeinungen sehr nützlich sein, aber wenn man einmal unter diesem Gesichtspunkt sich weltanschaulichen Studien zuwendet, ist die Erforschung der Theologie wichtiger, weil sie historisch großen Einfluß ausgeübt hat und ausübt und weil die gesamte idealistische Philosophie abgeschwächte Theologie ist.

Diese völlige Trennung von Marxismus und Weltanschauung sagt aber noch gar nichts darüber, wie sich ein Marxist, der in der Arbeiterbewegung wirkt, nun zu konkreten Vertretern weltanschaulicher Scheinsätze innerhalb der Arbeiterbewegung zu verhalten hat, wie zu den Vertretern der Weltanschauungen außerhalb der Bewegung. Die Arbeiterbewegung faßt Menschen gleicher Klasseneinstellung zusammen. Sie ist darauf aus, bestimmtes klassenkämpferisches Verhalten wichtig zu nehmen, und ist an sich weltanschaulichen Einzelneigungen gegenüber eher tolerant. Es ist geradezu ein Element bürgerlicher Taktik, die weltanschaulichen Unterschiede innerhalb der Arbeiterklasse zu betonen, um so die Klassenfront zu sprengen. Anders freilich steht die Sache, wenn die religiöse Gemeinschaft gleichzeitig politische, antiproletarische Gemeinschaft ist. Aber auch dann sind die marxistisch geschulten Freidenker nicht der unmarxistischen Anschauung, daß durch Aufklärung allzuviel zu erreichen sei, sie begnügen sich vielmehr meist damit, die Glaubenslosen zu sammeln und nur zu verhindern, daß die Kinder wieder von Jugend an einer sehr oft antiproletarisch verwerteten religiösen Erziehung ausgesetzt sind. Auch die idealistischen Philosophen treten vielfach, wenn auch unbewußt, als Werkzeuge antiproletarischer Mächte auf und können zu einer Bekämpfung im Interesse proletarischer Entfaltung herausfordern.

Innerhalb der Arbeiterpädagogik kann die Toleranz gegenüber idealistischer Philosophie manchmal dazu führen, daß die Jugend bürgerlicher‘ Ideologie näher gebracht wird, als durch die Zeitumstände ohnehin geschieht. Aber das sind Einzelprobleme, deren Beantwortung durch die Situation des Klassenkampfes bedingt ist, nicht aber durch die theoretische Einsicht, daß der Marxismus als Wissenschaft mit Weltanschauung weder positiv noch negativ irgend etwas zu tun hat.

In: Der Kampf 10 (1931), S. 447-451.

Else Feldmann: Umherziehende Kinder. (1919)

Ein grauenhaftes Schauspiel kann man jeden Nachmittag in der Kärntnerstraße und am Ring sehen. Eine Völkerwanderung von Kindern zieht aus Favoriten, Meidling, Ottakring, Hernals, der Brigittenau und andern Gegenden in die Innere Stadt ein.

Die Kinder verdienen durch Bettel und Prostitution vierzig bis fünfzig Kronen täglich: aber sie kaufen sich keine Stiefel oder Kleider, sie betteln sich kleine Vermögen zusammen;

aber sie werden nach wie vor zerrissen und barfuß herumlaufen; die Lumpen sind ein notwendiges Requisit ihres Geschäftes, und sie werden sich davor hüten, sie abzulegen.

Jetzt erst kommt alles angeschwommen, was die viereinhalb Jahre Morden aus Völkern gemacht haben. 

Wie eine Karikatur, wie ein Verhängnis, gegen das es nichts gibt, sind die Kinderhorden anzusehen, die in keine Schule gehen, sondern mit ihren Geschwistern und Kameraden ausziehen, Geld zu suchen. Die Mütter – Väter gibt es fast keine – haben die Jahre hindurch alle Demütigungen und Erniedrigungen ertragen. Sie mußten sich auf der Straße anstellen, um die paar Kronen für den Kopf ihrer Männer; mit diesem Gelde mußten sie sich weiter die Nacht hindurch auf dem kalten Pflaster, um das bißchen elender Nahrung herumwälzen; der kleine Greisler konnte sie nach Belieben hinauswerfen; der Kohlenhändler konnte ihnen nach Laune Kohle verkaufen oder auch nicht. Die Mütter sahen langsam ihre Kinder in langen, elenden und verschärften Leiden zugrunde gehen. Zuerst kam die Vernachlässigung des Körpers. Ich habe Arbeiterfrauen gesehen, die ihre Kinder jede Woche zweimal badeten. Sie hätten sich lieber die Finger weggehackt, ehe sie sich von der Nachbarin hätten nachsagen lassen, ihre Kinder wären schmutzig. Dieselben Mütter mußten es ertragen, daß in dem kalten Winter, wo man keine Kohlen, kein Licht, keine Seife hatte, die Kinder infolge Unreinlichkeit massenhaft an Hautausschlägen (Scabies) erkrankten.

Durchschnittlich jedes zweite Kind hatte Scabies, und da diese Krankheit sehr leicht übertragbar ist, auch auf Erwachsene, kam es zu einer Epidemie, von der nur deshalb nicht viel in der Öffentlichkeit verlautete, weil sie ja nicht lebensgefährlich, bloß eine Pein mehr für die Armen war.

Dann war noch da das Hungern und mit ihm der moralische und sittliche Verfall der Kinder; das Stehlen, Eingesperrtsein der Jugendlichen, die Prostitution der jugendlichen Mädchen aus Not. In den Syphilisspitälern gibt es in einem Jahr tausende junge Mädchen und Burschen, darunter erschreckend viele unter vierzehn Jahren. Das Asylspital hat einen ständigen Belag von über vierhundert jugendlichen Prostituierten. Man bedenke, was das allein für die Fortpflanzung heißt. Es sei nicht zu verkennen, daß, aus der Not heraus, einige ganz gute Einrichtungen geschaffen wurden; besonders drei wären lobend hervorzuheben: die Jugendgerichtshilfe, die Tagesheimstätten und die Waldschule. Aber ist dies mehr, als ein Tropfen auf einem heißen Stein? Es ist und bleibt bei allem guten und besten Willen ein armseliges, bejammernswertes Dilettantentum der Kinder- und Jugendfürsorge.

Wer hat daran ein Interesse, daß die Kinder nicht verkommen, sondern tüchtige und brauchbare Menschen werden? Vor allem doch der Staat. Wie darf also der Staat die Kinderfürsorge zum größten Teil noch immer der privaten Wohltätigkeit überlassen? Bürgerliche Frauen, freiwillige Kräfte, und wenn sie das Muster von Frauen wären, taugen im allgemeinen nicht dazu. Nur geschulte, herangebildete Pädagogen, Menschen mit Herz und Verstand, staatlich angestellte, gut bezahlte – damit sie den Idealismus nicht verlieren – mit Pflichtgefühl und sozialer Einsicht, die besten Menschen, die wir haben, müssen herangezogen werden zur Kinder- und Jugendfürsorge, und niemals Frauen, die einem einsamen Tag, leeren Stunden entrinnen möchten! //

Denn dabei kann nur wieder etwas Halbes herauskommen, und die Halbheiten sind es, die uns zugrunde gerichtet und auf den Bettelstab gebracht haben; wir müssen für immer mit ihnen aufräumen.

Es ist vollkommen sinn- und Zwecklos, wenn unsere Politiker jedes Selbstbewußtsein verlieren und wie trostlose Melancholiker, wie Hysterische sich zusammensetzen und über unseren Untergang jammern.

In den Tagen des August 1914 hörte man von allen Leuten: wir müssen den Krieg haben; alle Klassen, reich und arm, jung und alt, Mann und Frau schrien sich gegenseitig zu: wir müssen Krieg haben! Hurra, der Krieg! Literaten, Künstler, Poeten, Philosophen, die etwas auf sich hielten, sie alle schrien: Hurra den Krieg! Die Sozialdemokratie schrie: Hurra, in den Krieg! — Vergessen waren die treuen Gelöbnisse, vergessen waren die Brüder in Frankreich, in England, in Rußland, die arbeitenden Menschen aller Länder, die Brüder eines Gedankens, einer Seele.

Und so schreien sie heute: Wir sind ein unglückliches Land, wir sind bankrott, wir müssen uns beugen, wir müssen uns am allertiefsten erniedrigen, wir müssen den letzten Rest Ehrgefühl preisgeben.

Nein, es ist nicht wahr; wir müssen uns nicht beugen und erniedrigen, oder wenn wir es müssen, dann können wir es sozusagen praktisch, aber ideell müssen wir es nicht. Auf unseren Idealismus, auf unser Menschensein dürfen wir nicht verzichten. Gewiß, wir müssen essen, und wir müssen uns dieses Essen durch Demütigung verdienen. Aber nicht allein vom Essen können wir leben, wir brauchen noch andere Güter, wir brauchen die Idee, wir brauchen das Menschentum, wir brauchen Begabung, Tüchtigkeit, den Keim des Guten und Wahren im Volke.

Wenn unsere Regierung aber zusieht oder sich blind stellt, wie die Kinder, durch die Verhältnisse böse und schlecht geworden, durch Not und Entbehrung bestialisch und verbrecherisch, zerrissen und zerlumpt durch vornehme Straßen ziehen, um Geld zu suchen, so kann sich diese Regierung die Folgen selbst zuschreiben, wenn in wenigen Jahren ein Geschlecht von Verbrechern herangewachsen sein wird. Wenn sie in einigen Jahren – statt jetzt die Kinder zu sammeln und Baracken und Waldschulen zu errichten, wo nur ein freies Plätzchen ist – die Zuchthäuser, die Korrektionsanstalten, die Spitäler werden hinstellen müssen.

Die Mütter, die jede Liebe, jede Scham, jeden Stolz in diesen Jahren des Leidens und Duldens verloren haben, schicken heute selbst ihre Kinder auf die Straße, damit sie betteln; der reiche Erlös lockt auch die anderen an; es werden immer mehr und mehr, die ausziehen, einer Heuschreckenplage vergleichbar. Schaue einem solchen Kind, das dich anbettelt, in das Gesicht, und du wirst erschrecken, wenn du zu sehen verstehst. Sie fühlen sich wie erlöst. Sie sind unbändig frei, glücklich, seit sie auf die Straße gehen und Geld bekommen, ohne zu arbeiten – aber langsam fault alles, was bisher noch rein und kindlich in ihnen war; langsam zerfrißt wie von einer Säure alles, was noch menschlich in ihnen war. Ärger als der Krieg, als die Verstümmelten, Verkrüppelten, Blinden sind die bettelnden Kinder der Straße; sie sind wie freigelassene Wahnsinnige mit ihren entsetzlichen Trieben, die in den Kellerwohnungen bei den Ratten Keime in sich ausgenommen haben, die sich vor dem Grand Hotel entwickeln und in kurzer Zeit zu einem erschreckenden Bild von Riesengröße gestaltet haben werden.

Die Regierung muß ein Mittel finden, Kinder vom Hausieren mit Blumen und anderen Dingen, Betteln und Zeitungskolportage zu entfernen. Eine Regierung muß die Macht und Kraft haben, etwas so Entsetzliches, wie es die umherziehenden Kinder sind, sofort abzustellen, will sie nicht warten, bis diese ihr über den Kopf wachsen.

In: Neues Wiener Journal, 25.5.1919, S. 8-9.

Hermann Bahr: Amerika, du hast es besser! (1921)

Gern wird der Goethespruch zitiert: 

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte, 
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit. 
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Aber klingts nicht eigentlich höchst seltsam und befremdend in Goethes Mund gerade, des allem Vulkanischen abgesinnten, nur ‚ruhiger Bildung‘ vertrauenden, im Grunde stets bedächtig konservativen Mannes, der nicht aufhört, allem ‚Sansculottischen‘ ingrimmig zu widerstreben und der Überhebung spottet, die so gern, ‚ganz original‘ und ‚Autochtone‘ wäre, nicht ahnend, daß jeder, wer es auch sei, doch immer, wie er sich auch wehren mag, selber auch schon ‚Überlieferung‘ ist? Der alte Herr, sonst so feierlich, sich den Forderungen „lebendiger Zeit“ leidenschaftlich unwirsch verschließend, selber „unnützes Erinnern“ mit zur Vergangenheit abgewendeter Andacht ehrfürchtig hegend, wie kommt er auf einmal zu so jugendlich dreist auf die Gegenwart dringender Vermessenheit, wenn er sie freilich gleich selber, wie vor den eigenen Worten, bevor sie noch ganz ausgesprochen, erschreckend, schon halb wieder zurücknimmt, indem er sie, sich zu den „Kindern“ wendend, bloß auf das „Dichten“ einzuschränken scheint?

Er kam dazu durch Nachsinnen über „wunderbare Verhältnis des inneren produktiven Sinns zu dem praktisch äußeren Tun“: der Dichter, der sich, nach unmittelbarem Ausdruck seiner Erinnerung ringend, dabei fortwährend durch „unnützes Erinnern“ an Überlieferung gestört fühlt, indem ihm Überlieferung Fremdes in sein Eigenes mischt, der Dichter ist es, der in dieser Qual aufschreit, und mit den „Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten“, vor denen er die Kinder beim Dichten durch ein gut Geschick bewahrt wissen möchte, meint er, was wir höflicher die „literarische Tradition“ zu nennen gewohnt sind. 

Zwar als Einfall, als erster Gedanke, taucht der Neid auf, Amerika, das es so viel besser hat als das abendliche Geschlecht von Erben, schon acht Jahre vor dem Gedicht auf. Im Nachlasse Goethes ist ein Foliobogen gefunden worden, überschrieben „Aufblühender Vulkanismus“, datiert vom September 1819, da hat er notiert: „Eines verjährten Neptunisten Schlußbekenntnis.  Abschied von der Geologie….Nordamerikaner glücklich, keine Basalte zu haben, keine Ahnen und keinen klassischen Boden“; er hätte das eigentlich auch nennen können: Eines verjährten Klassizisten Schlußbekenntnis! Aber zunächst blieb das noch jahrelang ein bloßes Aperçu, zum Gedicht ward’s ihm erst 1827, da fälltes im Briefwechsel mit Zelter auf einmal gereift vom Baume seiner künstlerischen Erkenntnis. Dieser Briefwechsel ist ja überhaupt ein einziges langes Zwiegespräch von der Kunst, in das nur immer wieder Tageswünsche, Tagessorgen wunderlich hineinrufen. Um jene Zeit ist eben Georg Zelter der letzte Sohn des tapferen Musikanten, gestorben, und den Vater bohrt der Schmerz noch tiefer ins Studium der griechischen Tragiker, er liest hintereinander die beiden Ödipus des Äschylos Sieben vor Theben und Antigone, die Schutzflehenden und den Agamemnon, liest dazu noch auch den Aristoteles wieder und, vielleicht selber im Stillen verwundert über die nie versagende tröstende Kraft der Alten, ruft er dann aus: In Summa (wenn ich dich und mich selber verstehe), aller Zweck der Kunst ist die Kunst selber, so auch das Kunstwerk.“ Und als Kommentar zu diesem so bedenklich artistisch klingenden Satz gibt ihm nun Goethe die Antwort: „Ich sagte neulich: Il faut croire à la simplicité, zu deutsch: Man muß an die Einfalt, an das Einfache, an das urständig Produktive glauben, wenn man den rechten Weg gewinnen will. Dieses ist aber nicht jedem gegeben: Wir werden in einem künstlichen Zustande geboren und es ist durchaus leichter, diesen immer mehr zu bekünsteln, als zu dem Einfachen zurückzukehren.“ Das faßt Zelter hinwieder sogleich in der vollen Bedeutung auf und erläutert, was Goethe allgemein aussprach, nun an einem besonderen Fall, an // seinem geliebten Johann Sebastian Bach, dessen „Originalität“, so bewundernswert in ihrer unerforschlichen Fülle, dennoch habe „dem Einflusse der Franzosen, namentlich des Couperin, nicht entgehen können“. Das Thema des „unnützen Erinnerns“ ist damit angeschlagen […]

Hat es denn nun aber Amerika wirklich besser?

Was Goethe damals an Amerika besang, davon hat es damals selbst noch lange keinen Gebrauch gemacht: denn Walt Whitman war ja damals erst ein Bub von acht Jahren und bis zu seinen Leaves of grass, die 1855 erschienen, hat Amerika ganz einfach unserem Kontinent, dem alten, nur immer schön brav nachgedichtet und seine Kinder blieben keineswegs durch ein gut Geschick bewahrt vor Ritter-, Räuber und Gespenstergeschichten, denn bis zu en Leaves of grass war alle Dichtung Amerikas nichts als aufgewärmtes Englisch, von ergreifender Schönheit zuweilen, doch ohne jeden Hauch des „urständig Produktiven“, im Grunde durchaus nur aufgeschwappte Diktion Englands und überhaupt bloß englischer Schaum ohne jeden eigenen Gehalt, ohne Spur eines amerikanischen Grundelements. Dieses fuhr erst aus jenem gewaltigen

One’s Self I sing – a single separate Person
Yet utter the word Democratic, the word En masse,

mit dem die Leaves of grass anheben, aus jenem zu den Sternen aufjauchzenden Ausbruch: 

Of Life immens in passion, pulse and power, 
Cheerful – for freest action form’d, under the laws divine,
The Modern Man I sing

mit einem solchen Donnerschlag in die Welt, daß man meinen möchte, Goethe selbst in seinem merlinisch leuchtenden Grab müsse noch freudig erschreckter erstaunend aufgehorcht haben, denn einen Urlaut des urständig Produktiven von solcher Urgewalt hatte ja das Abendland seit den Zeiten des Volksepos nicht mehr vernommen. Welchen Gebrauch aber hat Amerika selber von Walt Whiteman gemacht? 

Zunächst eigentlich gar keinen. Emerson, der freilich dieses „Ungetüm, ein Ungetüm von nie gesehener Art,mit schrecklichen Augen und Büffelkraft, aber unleugbar ameri-// kanisch“ sogleich in seiner ungeheuren Schönheit erkannte, wurde daheim kaum gehört, und nur unter dem Druck der wachsenden Bewunderung in England entschloß sich Amerika, seinem ersten Dichter schließlich wenigstens ein grandioses Leichenbegängnis zu bereiten. Dann aber blieb es lange drüben wieder still, während in England, Frankreich und Deutschland Macht und Ruhm der »Grashalme« mit jedem Jahre mehr verlauteten. In England warben so mächtige Fürsprecher wie Rosetti, Swinburne und Buchanan für ihn, den Deutschen ward er 1868 durch einen schallenden Ruf Freiligraths in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ bekannt, die erste deutsche Übersetzung der Grashalme erschien freilich erst 1889 bei dem guten alten Schabelitz in  Zürich, der Hebamme jeder literarischen Verwegenheit um jene Zeit, und ebenso seit den achtziger Jahren wirkt Whitman auch auf Frankreich, ein Franzose ists, Léon Bazalgette, dem wir das tiefste Buch über Whitman verdanken: der erste Teil, Walt Whitman, L’homme et soin Œuvre, ist schon 1908, der zweite, ,Le Poème Evangile de Walt Whitman, eben jetzt erschienen, beide im Verlag des Mercure de France.  War aber in Amerika selbst keine Wirkung Walts vernehmlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß, als ich vor bald zwanzig Jahren in einer rheinischen Stadt über Whitman sprach, nach meinem Vortrag eine junge Amerikanerin von rauschender Schönheit und heute noch in meiner Erinnerung fortleuchtenden Augen auf mich los stürzte, stürmisch begeistert, mir enthusiastisch dankend, dann aber auf einmal zutraulich treuherzig fragend, ob es denn. eigentlich diesen Dichter auch ,,wirklich« gegeben, ob er nicht bloß von mir erfunden, denn sie habe daheim den Namen noch nie gehört, und es könnte ja sein, daß ich mir nur einen Spaß gemacht und ein lustiger »Swindler«, oh, ein sehr angenehmer!, wäre.

Von Whitman vernahm die Welt zum erstenmal den Urlaut Amerikas (denn Edgar Poe war von einer Höhe der Einsamkeit, in der jede Spur der eigenen Zeit wie des eigenen Stammes verlischt, sozusagen das absolute Nichtsalsgenie, fast unheimlich in seiner völligen Isoliertheit von allen zeitlichen wie persönlichen Zügen), von Whitman empfing Amerika sich selbst, mit den Leaves of grass ward die Dichtung Amerikas geboren, es konnte jetzt eine Kunst ohne jeden „Schaum“, von allen Einwirkungen fremder „Diktion“ frei, nirgends  „bekünstelt“, in unschuldiger Selbstherrlichkeit erwachsen. Ist sie’s? Aus unserer Ferne läßt sich jedenfalls keine gewahren. Die sichtlichen Dichter der Völker sind allerdings ja nicht immer die wahrhaftigen; diese kommen oft erst lange nach ihrer Zeit zum Vorschein, sie sind ihr zu weit voraus: wieviel wissen denn heute, ob in fünfzig Jahren Brezina der größte Dichter unserer Zeit sein wird? Unter den sichtlichen Dichtern Amerikas von heute, die Claire Goll uns jetzt in ihrer Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik Die neue Welt (S. Fischer Verlag, Berlin, 1921) bringt, fand ich keinen, der bewiese, daß es Amerika wirklich besser hat. Man spürt freilich die Wirkung Whitmans sehr, aber so sehr, daß nun auch aus ihr wieder nur ein „Schaum“, eine bald jedermann geläufige „Diktion“ wird, und wenn sie sich mit Whitman „bekünsteln“, ist das Natur?, wenn man ihnen den Zwang, den sein gewaltiges Vorbild ausübt, anmerkt, ist das Freiheit? Und man wird sehr nachdenklich, wenn man bemerkt, daß die schönsten Stücke dieser Sammlung Volkslieder von Indianern sind: sie schlagen an Unmittelbarkeit der Eingebung und an Gewalt des Ausdrucks alle Künste der „gebildeten“ Dichter, und wo von diesen einer einmal einen bezwingenden Ton hat, stellt sich heraus, daß es im Grunde der Ton Whitmans oder von Indianern ist. „Die heiligen Lieder,“ erzählt Claire Goll von den Indianern „darf nur der singen, dem sie von Geistern mitgeteilt wurden.“ Ja das wär’s eben offenbar! Aber in Ländern mit Literaturen, scheint’s, teilen die Geister nichts mehr mit, die Geister verstummen und darin hat es jetzt auch Amerika nicht mehr besser!

In: Neue Freie Presse, 4.12.1921, S. 1-3.

Roda Roda: Zwei Planeten. (1923)

Die Interviewer kamen und gingen wieder. Jeder redete zu mir. Und ob ich nickte oder verneinte – ganz gleich – jeder schrieb, was er selbst gesagt hatte, als meine Meinung nieder. Nachdem der zwölfte Interviewer gegangen war, trat eine kleine Pause ein. Ich wartete unruhig auf den dreizehnten. Vergebens, er blieb aus. Da beschloß ich, mich selbst zu interviewen. Ich habe es nun schon so oft mitgemacht – ich weiß, wie man es anstellt.

Herr Roda, sind Sie schon lange in Amerika? 

Drei Monate, Mister… Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden; ich weiß nur, daß darin etliche lange – oa – vorkommen. 

Wollen Sie noch eine Zeitlang bleiben?

Bis ich mich unmöglich gemacht habe. Also etwa fünf Wochen, schätze ich. So lange hat man mich bisher noch überall geduldet.

Gefällt Ihnen Amerika? 

Wie originell Sie fragen! Es geht mir hier wie dem türkischen Eulenspiegel Naßreddin. Er lag zu Bett und schlief. Da träumte ihm, sein Nachbar zahle ihm neun Groschen auf die Hand. „Gib mit auch den zehnten,“ bat Naßreddin. Der Nachbar weigerte sich und sie stritten. In der Erregung des Streits erwachte Naßreddin und fand seine Hand leer. Rasch schloß er die Augen wieder: „Laß sein, Nachbar, ich begnüge mich schon mit neun Groschen.“ – Auch mir scheint Amerika wie ein schöner Traum. Ich fürchte zu erwachen und wieder in Europa zu sein. 

Demnach befinden Sie sich in Amerika sehr wohl? 

Es ist ein grundsätzlicher Irrtum der Geographie und eine Pedanterie unsrer europäischen Schulmeister, Amerika einen andern Erdteil zu nennen. Amerika ist ein anderer Planet. Eure Technik, euer Optimismus, eure Arbeitskraft – schön und großartig. Ich glaube auch wenn ihr Dummheiten macht, müssen es kapitale Dummheiten sein. 

Oh!

Widersprechen Sie nicht! Alles ist imposant. Schon die Einwohnerzahlt von New York: 20 Millionen. 

Wie kommen Sie zu dieser Ziffer? 

Durch Addition natürlich. Es war ein Italiener bei mir der sagte, es gäbe hier 20% Italiener, anderthalb Milliionen. Ein Jude gab anderthalb Millionen Juden an. Dann Deutsche, Russen, Skandinavier, Franzosen, Tschechen, Südslaven, Rumänen… von allen gibt es hier mir als in irgendeiner Stadt Europas. Wenn Sie alles zusammenrechnen, finden Sie, daß New York über 300 Prozent Einwohner hat, insgesamt 20 Millionen.

Einige New Yorker sind doch auch hier geboren. 

Die hatte ich vergessen. Dann geht die Rechnung noch höher. Hier reicht eben alles in den Himmel – nicht nur die Paläste. Es ist hier ein Schlaraffenland. Candys, Candys aller Ecken, und immer neue Läden entstehen; in längstens drei Jahren wird New York eine einzige Konditorei sein. – Dies Land verblüfft mich immer mehr. Ihr habt Elevators, die fahren; die Zentralheizung gibt Wärme – Wunder für einen Europäer. – Ich weiß mich hier gar nicht zu benehmen. Man gibt mir einen zugeschnürten Packen in die Hand; ich versuche die Schnur zu zerreißen, wie man das bei uns immer mit zwei Fingern macht; zu meinem Erstaunen aber reißt die Schnur nicht; da zücke ich mein Messer, und es zeigt sich, daß die amerikanische Schnur härter ist als das Messer. – Eurer Leder kommt aus der Gerberei; unseres aus der Papierfabrik. Eure Butter kommt vom Land. Eure Kartoffel sind nicht faul. Und ihr habt Fleisch, das man schneiden kann. Die Milch hier ist durchsichtig. Ihr habt Kaffee aus Bohnen. Wenn Schnee in New York fällt, ist er schwarz: nicht einmal der Schnee in Amerika ist wie bei uns. – Was ihr Verkehr nennt, hieße bei uns schon Panik. – So elegant wie bei euch die Tippmamsellen sind bei uns nur die aktiven Prinzessinnen – und Sie wissen, daß die meisten Prinzessinnen nicht mehr aktiv sind. – Es ist wahr, manches bei euch mutet uns sonderbar an. Ihr alle seid polizeilich gar nicht gemeldet, und eure Polizisten tragen keine Waffe; der Kirchturm ist das niedrigste Gebäude der Stadt; dafür treibt die Kirche Lichtreklame; man zündet Licht nicht an, um zu sehe, sondern um beachtet zu werden; der drahtlose Telegraph ist das Spielzeug eurer Kinder; die Kinder befehlen; der Vater kocht und putzt der Frau die Stiefel. – Amerika ist das Land, wo man liegend rasiert wird, stehend ißt und von der Tagesarbeit ausruht, indem man stundenlang einem kleinen Ball nachläuft. Man behält hier in der Eisenbahn den Hut auf und nimmt ihn im Fahrstuhl ab; elf Greise entblößen die Häupter, wenn ein zehnjähriges weibliches Rotznäschen in den Fahrstuhl tritt. Dafür gibt es hier auf der Straße keine Hunde, Sperlinge und Kinderwagen; bei uns genießen die Hunde öffentliche Freiheiten, die keinem Menschen zustehen. – Komisch ist euer Wetter: ihr habt von Jänner bis Juni April. Auch in Venedig ist es naß; dort gibt es aber Gondeln.

Sie sprachen von Dummheiten. Meinten Sie die Prohibition? 

Habt ihr Prohibition? Verzeihen Sie – ich bin erst drei Monate im Land – da hatte ich es noch nicht bemerkt.

In Deutschland trinkt man wohl immer noch viel? 

Meist Tee. Man macht Tee bei uns, indem man Heu in lauwarmem Wasser wäscht.

Demnach eine neue Industrie? 

Ja, manche Industrien in Deutschland blühen. Es erzeugt zum Beispiel unsre Reichsdruckerei mehr Banknoten als irgendeine Anstalt auf Erden. In der vorigen Woche entstanden soviel Banknoten, daß man nur ein Band aus ihnen zu bilden brauchte, und man konnte es um die ganze Erde wickeln. In dieser Woche ist der Rekord gebrochen wurden; die Banknotenerzeugung reichte dreimal um den Mond. Eine achtunggebietende Leistung. Da kommt ihr nicht mit. 

Sie haben darum auch die große Teuerung in Deutschland. 

In New York ist alles viel teurer. Ein Mantel kostet hier neunzig Dollar. Das sind zwölf 

Millionen Dollar…Dafür kaufe ich mir in Deutschland ein Landhaus, nehme eine Hypothek darauf und schaffe mir aus der Hypothek einen Mantel an. – Allerdings steigen bei uns die Preise von Tag zu Tag. Ich habe eine interessante Erfindung gemacht. Bisher mußte ein Kaufmann bei uns einen Mantel ins Schaufenster hängen und infolge des sinkenden Markkurses den Preis stündlich ändern. Wie viel Mühe macht das bei soviel Mänteln! Ich habe nun eine Uhr konstruiert, die den Preis angibt und selbständig jede Stunde um 10.000 Mark hinaufspringt. Ein Mantel, der heute 240 Tausend Mark kostet, kostet morgen das Doppelte. 

Schweres Leben in Deutschland. 

Verschieden schwer – je nach Ständen. Wer von seinen Kapitalzinsen zehren muß, hungert, // das ist klar – denn die Kaufkraft des Geldes sinkt ja so sehr. Anders die Arbeiter: sie hungern, weil ihre Löhne nicht Schritt halten mit der Markentwertung. Bei dieser Sachlage können die Intelligenzberufe unmöglich gedeihen. Die Dichter, zum Beispiel … es kostet das einfache Bespannen einer Leier mit fünf Saiten schon fünfzigtausend Mark; das kann sich ein Dichter nicht leisten. Darum gibt es auch keine weichen Gefühle mehr in Deutschland. – Am besten haben es noch die Ärzte. Zwar gehen sie müßig, weil niemand Zeit hat, krank zu sein – doch die Ärzte verkürzen sich das Warten auf Patienten sehr angenehm, indem sie einander telephonisch nach ihrem Befinden befragen – in der Hoffnung, eine Todesnachricht zu hören – wodurch sich der Konkurrenzkampf etwas mildern würde. 

Eure Staatsmänner?  

Wir sind bereit, euch 10 davon zu schicken, wenn ihr uns im Austausch dafür ihr Gewicht in Speck und weißen Bohnen gebt. Graf Lerchenfeld wiegt 160 Pfund.

Sind auch die Rechtsanwälte brotlos?

Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Scheidung der Kriegsehen. Man plant jetzt ein Gesetz, das die erste Ehe jedes Menschen überhaupt für ungültig erklären soll. Es wäre eine große Zeitersparnis für die Gerichte. 

Und nach diesem Europa wollen Sie zurückkehren?

Gern – ich habe ja meine Familie dort. Ich bin achtzehn Jahre verheiratet – unsere Ehe ist die älteste Künstlerehe der Welt. Und ich beabsichtige, die Ehe fortzusetzen. Wie meine Frau im Augenblick darüber denkt, weiß ich allerdings nicht: ihr Kabel von gestern abend war noch sehr zärtlich. 

Sie leben in München?

Ganz richtig. Einstweilen sind die Franzosen noch nicht da. Die Franzosen wollen, wie man hört, aus dem Ruhrgebiet zunächst nach Berlin vorstoßen, um es zu besetzen, und hierauf nach Wladiwostok weitergehen. Dann kommt wohl ihr Amerikaner daran. Das kann noch Monate dauern. Marschall Foch soll sich mit dem Einmarsch in New York nicht beeilen – sonst kommt er mit seinen Truppen hier im Hochsommer an, wo alle besseren Menschen in den Seebädern sind. 

Der Interviewer sieht nach der Uhr. Ich merke, ich habe seine Geduld erschöpft und drücke ihm zum Abschied warm die Hand.

„Mein Herr“, sage ich ihm, „Sie können ruhig behaupten, eine Stunde mit dem größten Satiriker Deutschlands verplaudert zu haben. Meine Kollegen sind nämlich zur Zeit so beschäftigt mit Selbstanbetung, daß sie meine Überhebung gar nicht merken werden.“

In: Prager Tagblatt, 12.8. 1923, S. 3-4.