Hans Tietze: Die Krise der Gegenwartskunst. (1931)

Von Krisen in der Kunst ist oft die Rede gewesen. Jedesmal, wenn eine Generation ihre Leistungsfähigkeit erschöpft hatte und eine neue mit unterirdisch lang vorbereiteter Opposition hervor­trat, gab es im Faden der Kunstentwicklung einen Knoten, der sich dem nachsichtigen Blick der unmittelbar Interessierten zu einer richtigen Revolution vergrößerte; immer wenn wir nicht weiter können, glauben wir, daß die Kunst zu Ende ist. Als an der Jahrhundertwende der letzte müde Wellenschlag des Impres­sionismus verebbte, schien ein neues Kapitel anzuheben; Expres­sionismus, Kubismus, Futurismus, die die geheimsten Triebkräfte drei großer europäischer Nationen, des deutschen, französischen, italienischen Volks, in eine künstlerische Formel spannten, prokla­mierten ihr Lebensrecht; der elementare Ausbruch dreier in ihrem Grundwesen verschiedener, dennoch in ihrer Leugnung alles Vorangegangenen einmütiger Ausdrucksweisen rechtfertigte die neue Kunst als die Sprache der dem Krieg geweihten Generation.

Auf jene erschütternde Kundgebung, mit der die Kunst das angstvoll gehütete Ereignis der nahenden Katastrophe voraus­ahnend herausschrie, ist tiefe Ernüchterung vieler Einzelner und der Allgemeinheit gefolgt; jener von ungeheurer Ergriffenheit zuckende Taumel will nun als ein Feuerwerk erscheinen, in dem eine von ihren Wurzeln gerissene Kunst ihre letzten Lebenskräfte verbrannte. Als Reaktion gegen die geflissentliche Unsachlichkeit von gestern ist eine nicht minder gewollte Sachlichkeit als Aus­druck einer Ermüdung entstanden, an der Erschöpfung und schöpferische Pause in unberechenbarem Verhältnis Anteil haben. In dieser Metamorphose macht die Plötzlichkeit stutzen, mit der die Kunst aus dem Extrem der Unverständlichkeit ins Extrem der Verständlichkeit taumelt. Das Gefühl, das sie, um sich zu retten, sich preisgibt, beherrscht nicht nur die Ästheten von gestern, für die eine Kunst ohne Dunkel und Heimlichkeit immer eine banale bleibt; auch unverbrauchterer Instinkt erwartet von der Kunst, daß sie ausspreche, was die Allgemeinheit braucht und wünscht, aber selbst nicht weiß. Das Opfer künstlerischer Feinfühligkeit, das die neue Sachlichkeit gebracht hat, hat die Kunst nicht po­pulärer gemacht; es hat sich nichts geändert, als daß es eine Kunst­richtung mehr gibt.//

Damit ist aber der Kern der heutigen Krise der Kunst nicht getroffen; nicht wie diese sein soll, sondern ob sie sein kann, ist brennend geworden. Der wirtschaftliche Zusammenbruch hat alle Schleier von dem Zustand gerissen, in den sie durch ihre ausschließliche Ästhetisierung im Lauf von Jahrhunderten ge­raten war: zur Befriedigung eines ideellen und materiellen Luxus­bedürfnisses. Solange nun die Wirtschaft über Überschüsse ver­fügte, kamen diese den an sich unnötigen künstlerischen oder wissenschaftlichen Zwecken — denn die Selbstzwecklichkeit der Wissenschaft hat sich ganz parallel zum l’art pour l’art entwickelt — zugute. Was zulässiges Wohlleben gewesen war, ist dann — wie manches andere — unerlaubter Luxus geworden; die Kunst, die als gesellschaftliches Tun von den überschüssigen Energien gespeist wird, die sich nicht im nackten Lebenskampf verbrauchen, sie stirbt ab, wenn diese Kräfte versiegen.

Wir haben hundertmal darüber gesprochen, wieso diese tief­gehende Entfremdung zwischen Kunst und Allgemeinheit ent­standen ist; wir wissen, daß die soziale Umschichtung, die außer­halb der bisherigen Tradition stehende Kreise zu Macht und Ein­fluß erhob, dabei ebenso mitgewirkt hat wie die Veränderung der Produktion aus einer handwerklichen in eine maschinelle oder das Vordringen materieller Gesinnung auf allen Gebieten. Alle diese, seit dem Ende des XVIII. Jahrhunderts ausschlaggebend gewordenen Faktoren haben mitgeholfen, aber sie sind gegenüber der Hauptursache, der Tendenz der Kunst zur Selbständigkeit und Selbstherrlichkeit, sekundär. Kunst wurde in langen Jahrhunder­ten europäischer Geschichte in engstem Zusammenhang mit dem religiösen Leben erzeugt; als Schmuck des Gotteshauses, als Be­lehrung der Gemeinde, als Bestätigung und Bekräftigung herr­schender Gläubigkeit. Daneben und später, um dem Glanz des Fürsten zu dienen, um patriotische oder humanitäre — in beiden Fällen soziale — Empfindungen zu fördern, um das Andenken bestimmter Personen festzuhalten oder um Kenntnisse zu ver­mitteln; um der Bildung, dem Schmucktrieb der Erotik zu dienen. Die dieses Bündel von Zwecken zusammenfassende Tendenz zum Ästhetischen hat sich nachmals emanzipiert. Die Kunst wurde eine selbstherrliche Weltdeutung, sie setzte ihren Ehrgeiz mehr als in die Erfüllung jener anderen Zwecke in die Lösung der im engsten Sinn des Wortes künstlerischen Probleme; sie wurde Selbstzweck und geriet dadurch immer mehr in eine glänzende und schließlich verderbliche Isolierung.

Dadurch hat die Kunst die feste äußere Bindung verloren, von der sie sonst ihre Stütze erhielt; sie war ein bürgerliches Hand­werk und ist eine Mission geworden. Der äußere Beruf des Künst­lers hat sich in eine innere Berufung umgewandelt, seit in seinem Tun nur mehr das Schöpferische galt; man hat ihn zum Hüter des der Menschheit geschenkten prometheischen Funkens gemacht// und ihm dadurch den Sparherd bürgerlichen Daseins verwehrt. Seine Ausbildung, seine Produktionsweise, seine ganze soziale Existenz ist auf ein Künstlertum zurechtgeschnitten, das verein­zelten Genies entspricht, aber den Durchschnitt zugrunde richtet; „alles oder nichts“, auf dem seine Wirksamkeit beruht, ist seine Glorie und sein Todesurteil. Denn eigentlich hat in der heutigen Auffassung der Kunst, jeder, der nicht das Höchste erreicht, seine Existenz verfehlt. Dies gilt auch im materiellen Sinn. Da der Künstler nicht für Auftraggeber arbeitet, sondern für Sammler, sich nicht an die Allgemeinheit wendet, sondern an die Kenner, eine Erfüllung außerkünstlerischer Zwecke als Prostitution emp­findet, ist seine wirtschaftliche Basis zu schmal geworden. Er hat als Abnehmer nur die verschwindende Minderzahl jener, die im Kunstwerk nichts suchen als ästhetische Befriedigung, während er dem unvergleichlich größeren Kreis jener völlig entfremdet ist, die vom Kunstwerk in der ästhetischen Form die Erfüllung ganz anderer Bedürfnisse erwarten.

Kunst ist genialer Eingebung entwachsende Schöpfung und die professionelle Ausübung bestimmter Tätigkeiten; Künstler ist der einsame Deuter der tiefsten Geheimnisse und der Hersteller von irgendwelchen Bildern, Plastiken und graphischen Blättern — wie von Abendlektüre und musikalischer Unterhaltung. In einen Begriff faßt die Armut der Sprache zusammen, was in Art und Rang von Grund aus verschieden ist. Die ästhetische Terminologie unterscheidet zwar gelegentlich zwischen „Hochkunst“ und „Niederkunst“, aber diese Scheidung ist zu schwach, im Sprach- und Denkgebrauch verfließen im Namen der Kunst: Kunst und Nichtkunst, polare Gegensätze, die unendliche Übergänge ver­binden. Im Verschwimmenlassen dieser Grenzen liegt der Grund des Chaos, in dem wir stecken; wir vergewaltigen die Kunst mit den Maßstäben der Hochkunst, aber auch diese mit den Maßstäben jener.

Und hier könnte der Punkt sein, von dem aus sich die letzte Wandlung in der Kunst grundsätzlich anders darstellte als frühere; vielleicht ist die fragwürdige Primitivität der neuen Mode doch ein Symptom tieferer Umkehr; schließlich haben doch die falschen Schäferinnen der Eremitagen die Herrschaft der echten Fisch­weiber vorbereitet. Die Radikalen an der Jahrhundertwende hatten um der Selbstherrlichkeit der Kunst willen alle Tradition des Sehens und Gestaltens über Bord geworfen; die Modernen von heute unterwerfen sich der solidesten Tradition, geben aber die besondere Mission der Kunst preis. Sie wollen etwas machen, was so aussieht wie die Kunst von früher, aber doch nicht Kunst mit dem Anspruch des Selbstzwecks ist. Dieser Prozeß ist gewiß kein bewußter, da zuviel vom Gestern noch ins Heute hereinhängt, aber er enthält ein in die Zukunft weisendes Element. //

Der Künstler wird, wofern er überhaupt weiter bestehen soll, auf die Ausnahmestellung, die ihm das neunzehnte Jahrhundert als trügerischen Ersatz für seine geminderte Bedeutung im sozialen Leben zuerkannt hat, verzichten und versuchen, seine Tätigkeit wieder zu einer als notwendig empfundenen zu machen. Er wird nicht mehr an dem prahlerischen Begriff eines dem Göttlichen sich nähernden Schöpfertums, der an den vereinzelten Genies höchsten Banges gebildet worden ist, zu schmarotzen brauchen, sondern im Rahmen anderer menschlicher Verrichtungen der seinigen nach­gehen; ein Handwerker, der die Bedürfnisse seines Publikums an­erkennt und befriedigt, ein notwendiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Daß er dabei vielleicht das meteorhaft unerrechen­bare Genie sei, das eine ganze Menschheit zu bereichern vermag, wird immer noch die heimliche Sehnsucht bleiben, die sein Tun befeuert, aber es wird nicht mehr die stillschweigende Voraus­setzung seines Daseins bilden, deren Nichterfüllung ihn ins Nichts des Überflüssigen stößt.

Die Krise der Gegenwartskunst ist möglicherweise ein Ansatz, aus der gespannten und übergespannten Situation hinauszufinden, in die unsere nur ästhetische Einstellung die Kunst gebracht hat. Diese soll wieder ein Handwerk werden, nicht so sehr in ihrer Technik wie in ihrer Gesinnung; eine Produktion, die sich wie jede andere an dem Bedarf des Konsumenten regelt; eine Tätig­keit, die der Raschheit und Beweglichkeit unseres Daseins entspricht, deren Ergebnisse sich in der Regel mit dem Tag ver­brauchen, für den sie entstanden und aus der, ausnahmsweise, ein oder das andere Mal das große Kunstwerk herauswachsen mag. Durch all dieses ein Tun, das auch wieder seine verlorene wirt­schaftliche Grundlage zurückgewinnen könnte.

In: Das Tage-Buch, H. 28/ 1931, S. 1103-1105.

Dr. J[osefine] W[idmar]: Tanz und Spiel in der Mittelschule. Allerhand Bedenklichkeiten. (1928)

Der Beginn des neuen Schuljahres bedeutet in vieler Hinsicht ein denkwürdiges Datum in der Entwicklung der österreichischen Mittelschule: Die Durchführungsbe­stimmungen für die neuen Lehrpläne unserer Mittel­schulen, die im Juni dieses Jahres bekanntgegeben wurden, umschließen tatsächlich für die studierende Jugend ein neues Bildungsprogramm. Auf den Erfahrungsgrundlagen alterprobter Bildungsgüter auf­gebaut, ragt die neue Mittelschule stolz und zukunftsfroh in das Neuland pädagogischer und didaktischer Errungenschaften hinein, mit denen die Erziehungs­wissenschaft aller Länder in den letzten Jahren bereichert wurde. Im Vordergrund unter den pädagogischen Reformgedanken der neuen Mittelschule steht die starke Hervorhebung der körperlichen Erziehung. In einer kürzlich erschienenen Verlautbarung des Unterrichts­ministeriums wurde ausdrücklich auf jenen Teil der neuen Lehrpläne hingewiesen, die sich mit den nunmehr

obligatorisch gewordenen Leibesübungen an den Mittelschulen befassen. Die jungen Mittelschüler und Mittelschülerinnen werden in Hinkunft zu der Erlernung von Schwimmen, Ski- und Schlittschuhlaufen, zu rhythmischem Turnen und Tanzspielen ebenso verpflichtet sein wie zu der Einprägung lateinischer Vokabeln und geometrischer Formeln. Zweifellos steht Österreich mit dieser Neueinführung beispielgebend unter den übrigen mitteleuropäischen Ländern da.

Es ist nun interessant, daß gerade dieser Programm­punkt der neuen Lehrpläne in vielen Eltern- und Pädagogenkreisen, die sonst dem Reformwerk des Unterrichtsministeriums mit Anerkennung und Interesse gegenüberstehen, mit einer gewissen Zurückhaltung auf­genommen wird. Namentlich aus den Bundesländern werden Bedenken und Zweifel laut: Es wird da die Befürchtung geäußert, die stärkere Betonung körperlicher Bildungswerte könnte die schon ohnehin stark gefährdeten geistigen Bildungsgüter an der Mittelschule noch mehr in den Hintergrund rücken, die Mittelschule zu einer Sport- und Unterhaltungsstätte herabdrücken. Mit unangebrach­ter Schärfe wurde sogar von „Harlekinaden“ und Tanzkränzchen an den Mittelschulen gesprochen.

Der letzte Grund dieser sachlich keineswegs gerechtfertigten Ablehnung gegen diesen Programmpunkt der neuen Mittelschule liegt wohl in dem Mißtrauen, das man auf dem Lande allen Wiener Schulerneuerungsbestrebungen ohne Unterschied entgegenbringt. Die maß­losen, nur von politischer Zielstrebigkeit diktierten Experimente der roten Schulreformer, der Raubbau, der gerade von dieser Seite an dem Bildungserbe unserer Mittelschulen getrieben wurde, hat dieses Mißtrauen gesät. Aber es darf nicht übersehen werden, daß gerade das Reformwerk des Unterrichtsministeriums diesem verderblichen Experimentieren und der Politisierung der Mittelschule ein Ziel gesetzt und ihre aus den Zeitverhältnissen gebotene Weiterentwicklung in fest um­schriebene Bahnen gelenkt hat.

Dieser Weiterentwicklung gehört nun sicherlich auch die stärkere Beachtung der Sport- und Bewegungspflege im Lehrplan der mittleren Bildungsanstalten. Es ist voll­kommen unrichtig und zwecklos, das Streben nach körper­licher Ertüchtigung und Leistungsfähigkeit, wie sie Sport und Spiel in der freien Natur gewähren, in Bausch und Bogen zu verdammen und in scharfen Gegensatz zu geistiger und seelischer Bildung zu stellen. Sport im weitesten Sinne ist heute ein Erfordernis des modernen Lebens geworden, auf das die Jugend nicht mehr verzichten kann und will. Er stellt den nötigen Ausgleich zu den immer mannigfaltiger und schwieriger sich gestal­tenden Aufgaben des Arbeitslebens dar, das erhöhte Spannkraft und Nervenstärke verlangt. Es ist Aufgabe aller Volkserzieher, darüber zu wachen, daß diese an sich gesunden Bestrebungen nicht in Rekordpsychosen und in  einen unsittlichen rein materialistischen Körperkult aus­arten, wie leider heute vielfach die Ansätze dazu vorhanden sind. Wenn die Schule den Sport und die Körperpflege in ihr Bildungsprogramm aufnimmt und in vernünftige Bahnen leitet, so leistet sie damit eins sehr zweckmäßige Vorbeugearbeit und gräbt zahlreichen Ausschreitungen von vornherein den Boden ab. Haben die jungen Leute von der Schule aus Gelegenheit zu schwimmen, zu rodeln, Skilaufen unter der Leitung und Überwachung eines tüchtigen Lehrers, so haben sie es nicht notwendig, diese Künste in Kursen und Gesellschaften zu betreiben, die, wie jedermann weiß, oft von nichts weniger als er­zieherischem Einfluß auf das Seelenleben der Mädchen und Jünglinge sind. Und wenn in Zukunft in unseren Mittelschulen die Weisen der alten lieben Tiroler und Kärntner Volkstänze und die Melodien Mozarts und Schuberts aufklingen und die jungen Menschen zum rhythmischen Gestalten und Bewegen einladen, so ist dies wohl ein Teil höchst notwendiger künstlerischer Jugenderziehung, das beste Gegen­mittel gegen die hemmungslose Hingabe an Jimmy, Jazz und Niggertänze! Vergessen wir es nicht, daß dieser Kulturschande von einer Gesellschaft Raum gegeben wurde, die, allzu einseitig intellektuell gebildet, ihr kein Bewußtsein bodenständiger Sport- und Bewegungskultur entgegenzusetzen hatte. In dieser Hinsicht ist eine schulgemäße maßvolle Sportbildung unserer Jugend nur zu begrüßen.

Es ist wohl auch nicht zu befürchten, daß die körper­lichen Übungen an den Mittelschulen eine Gefahr für den Lerneifer der Schüler und Studienresultate darstellen.

Dafür bürgt die ganze Anlage der neuen Lehrpläne, die die Erwerbung und Einübung von Wissensgütern in allen Lehrfächern auf das genaueste und strengste regelt. Übrigens sind die Grundsätze für eine moderne Körper­bildung, wie sie durch die Lehrpläne nunmehr gesetzlich normiert erscheinen, schon seit längerer Zeit an vielen Knaben- und Mädchenmittelschulen geübt worden, ohne daß irgend eine Schädigung des Bildungsniveaus be­merkbar geworden wäre.

In diesem Zusammenhang sei auch an die alten Militärakademien und k. u. k. Kadettenschulen der ehe­maligen Monarchie hingewiesen. Niemand wird heute diesen Anstalten überstürzten Reformeifer und revolutionäre Schulden vorwerfen. Dennoch hatten sie in ihrem Lehrplan Tanzen und Anstandslehre aufgenommen aus der vernünftigen Erkenntnis heraus, daß für jeden jungen Menschen, der einmal auch zu der bescheidensten Führer­rolle berufen ist, Beherrschung des Körpers und seiner Bewegungen notwendig ist. Umso weniger darf man es der modernen Mittelschule verargen, wenn sie diese alte Erkenntnis weiterführt. Sie öffnet damit nur die Bahn zur zeitgemäßen Erfüllung des alten humanistischen Bildungsideals, das Plato in seiner Politeia für die Ertüchtigung der Jugend. aufstellte.

Eltern und Kinder können mit aller Beruhigung dem Beginn des neuen Schuljahres entgegensehen. Die jungen Leute werden bald erkennen, daß trotz Ski, Tanzen und Rodeln das Gymnasium eine ebenso ernste und vielfordernde Lehr- und Lernschule geblieben ist wie bisher. Die Eltern aber werden sich freuen, daß ihre Kinder Sport und Spiel unter Schutz und Leitung der Schule betreiben und nicht auf abseitigen Nebenwegen!

In: Die Reichspost, 4.9.1928, S. 6.

Alfred Stern: Geschlechtsmoral in Ziffern. (1928)

Wir sterben aus!

Nicht als Notschrei ist der Ruf „Wir sterben aus!“ gedacht und nicht als Anklage die Feststellung, die neue Gesellschaftsmoral sei die Ursache dieses drohenden Aussterbens. Es handelt sich vielmehr nur um eine völlig wertungsfreie wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen. An Gewicht gewinnen diese freilich dadurch, daß ein Nationalökonom vom Range des Berliner Hochschulprofessors, Geheimrat Dr. Julius Wolf, sie uns gleichsam mathematisch, mit den Ziffern des Statistikers beweist und diese Beweise gegen den Widerstand seiner Fachkollegen, insbesondere Lujo Brentanos, erfolgreich durchsetzt.

Während die Volkszahl Chinas noch in diesem Jahrhundert die erste Milliarde erreichen dürfte, sind die Geburtenziffern Europas und Amerikas in den letzten zwei Jahrzehnten auf die Hälfte gesunken. „Unabwendbar geht das Breitenwachstum der Völker abendländischer Kultur seinem Ende entgegen,“ so schließt Wolf aus den unerbittlichen Ziffern. Da die Annahme, die Geschlechtstüchtigkeit der modernen Menschheit sei gesunken, angesichts der kurzen Zeiträume, innerhalb welcher der Geburtenrückgang sich vollzogen hat, unhaltbar ist, kann nur die neue Geschlechtsmoral der zivilisierten Völker schuldtragend sein.

In seinem eben erschienen Buche „Die neuen Sexualmoral und das Geburtenproblem unserer Tage“[i] sucht Wolf diese Zusammenhänge an der Hand eines imposanten Zahlenmaterials zu begründen.

Was ist die neue Geschlechtsmoral?

Die neue Geschlechtsmoral manifestiert sich – nach Wolf – vor allem in einer bewußten Regelung der Zeugung. Der Gelehrte unterscheidet da drei Entwicklungsstufen der Zeugungswillens. Auf der ersten Stufe ist die Stellungnahme zu unerwünschten Folgen eine nachträgliche. Man behilft sich mit Aussetzen oder Tötung der Neugeborenen (z.B. in der Antike). Auf der zweiten Stufe gilt jede Eindämmung der natürlichen Folgen des

Geschlechtsverkehrs als schweres Verbrechen. Sie werden blindlings zugelassen – die Zeugung ist hier eine natur- und gottergebene. An deren Stelle tritt – auf der dritten Stufe – ein bewußter, individueller Zeugungswille oder Zeugungswiderwille, der die Kinderzahl persönlichen ökonomischen, ästhetischen, kulturellen Bedürfnissen anpaßt und dies durch planmäßige Verhütung oder willkürliche Beseitigung der Schwangerschaft erreicht.

Erst durch diese Rationisierung der Zeugung wird die Geschlechtsliebe eine „freie, von nichts mehr beschwerte Liebe, eine Liebe zur bloßen Lebenssteigerung der Liebenden“. Die „verwandelte Frau“ will nicht mehr die Sklavin des Hauses, sondern die Kameradin des Mannes sein und „mit der Kameradin seines Lebens will er verantwortungsbewußt, dabei auch dessen bewußt, was er der beiderseitigen Liebe und ihrer Erhaltung schuldet“, zeugen. Diese neue Geschlechtsmoral hat natürlich zuerst die wohlhabenden Schichten erfaßt, deren Kulturniveau bereits früher ein höheres war. Aber erst in dem Augenblicke, da die Masse mit der alten Geschlechtsmoral zu brechen begann, nahm der Geburtenrückgang, statistisch deutlich sichtbar, seinen Anfang.

Wolf weist nach, daß die Geburtenziffern nicht sanken, sondern sich eher erhöhten, so lange der soziale Aufstieg des Arbeiters nur ein materieller blieb. Erst der ungeheure kulturelle Aufschwung, den das Proletariat in den letzten Jahrzehnten nahm, führte zu einem rapiden Absinken der Geburtenziffern. Der intellektualisierte Arbeiter hatte eben die neue Geschlechtsmoral sich zu Eigen gemacht!

600.000 Abtreibungen im Jahr!

Es wäre verkehrt, zu meinen, die primäre Ursache für den Geburtenrückgang liege in der wachsenden technischen Vervollkommnung und Verbreitung der Vorbeugungsmittel. Diese sind nämlich erst eine Folge der neuen Geschlechtsmoral und der aus ihr erwachsenden Bedürfnisse. Dasselbe gilt auch von der Zunahme der Fruchtabtreibung. Wie man weiß, ist diese ja in Deutschland gesetzlich strenge verboten und darum auch sehr kostspielig. Trotzdem erreicht die Zahl der Abtreibungen im Deutschen Reiche pro Jahr mehr als 600.000 – eine Ziffer, die der Bevölkerungszahl Roms gleichkommt! Für Berlin wurde festgestellt, daß von hundert Frauen, die empfangen, vierzig die Schwangerschaft unterbrechen, davon aber nur 5% aus natürlichen Ursachen.

Sowjetrussische Geschlechtsmoral.

In Rußland dagegen ist die Fruchtabtreibung vollkommen freigegen und wird sogar in staatlichen Kliniken für Unbemittelte gratis vorgenommen. Trotzdem übersteigt die Geburtenzahl des Russischen Reiches – Wolf zählt Rußland nicht mehr zum Abendland, sondern zum Osten – die deutsche um ein Vielfaches, und die russische Bevölkerungszunahme beträgt pro Jahr nicht weniger als 2.5 bis 3.3 Millionen Menschen. Das Gros der russischen Bevölkerung macht eben von der erlaubten und kostenlosen Fruchtabtreibung nur geringen Gebrauch, da es noch nicht im Bann der neuen Geschlechtsmoral steht.

Durch sein Verbot erreicht Deutschland nur eine Bevölkerungsabnahme. Denn pro Jahr sterben dort bis zu vierzigtausend Frauen an stümperhaften Eingriffen und hunderttausende nehmen dauernden gesundheitlichen Schaden. Dagegen behauptet die russische Statistik – unter 300.000 von Ärzten vorgenommenen Eingriffen komme nicht ein einziger Todesfall vor.

Berlin und Wien – die Scheidungszentren Europas.

Ein Moment, das für den Geburtenrückgang zweifellos von gewissem Einfluß ist, aber auch durchaus dem extrem individualistischen Erscheinungskomplex der neuen Sexualmoral angehört, ist die Zunahme der Ehescheidungen. Aus einer diesbezüglichen, verblüffend interessanten Statistik Wolfs geht hervor, daß im Jahr 1926 Berlin mit seinen 7332 Scheidungen an der Spitze Europas marschierte. In Berlin allein lassen sich pro Jahr zweieinhalbmal so viel Personen scheiden wie in ganz England.

Paris, das sogenannte „Sündenbabel“, wird dagegen von den Autoren seiner frivolen Scheidungsschwänke anscheinend arg verleumdet. Denn mit seinen 4191 Scheidungen bei annähernd gleicher Bevölkerungszahl, bleibt es hinter Berlin weit zurück. Dagegen wies Wien, dessen Bevölkerungsziffer weniger als die Hälfte der Pariser beträgt, bereits im Jahr 1925 3241 Scheidungen auf, also relativ viel mehr als Paris. Selbstverständlich werden all diese Zahlen durch die Amerikas weit in den Schatten gestellt. Der Bevölkerungsziffer nach müßte die Anzahl der Scheidungen in den Vereinigten Staaten etwa zweieinhalbmal so groß sein wie die Deutschlands. In Wirklichkeit ist sie achtmal so groß. Diese Labilität der Ehe, die mit der Übertreibung des Frauenkultus in Amerika zusammenhängt, hat eine Scheu vor Kindern zur Folge. Nicht zuletzt diesem Umstande dürfte es daher zuzuschreiben sein, daß die Vereinigten Staaten zu den Ländern niedrigsten Geburtenüberschusses zählen. Amerikas Überschußziffer wird beispielsweise von der Österreichs um fast 70 Prozent übertroffen.

Deutschlands Fruchtbarkeit geringer als die Frankreichs.

Der Laie, der Wolfs Buch liest, wird vor Erstaunen kaum sich fassen, wie interessant manchmal Statistiken sein können! Wer hätte etwa gedacht, daß die französische Nachwuchsziffer (d.i. die Zahl der das erste Lebensjahr vollendenden Kinder auf 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren), die deutschen heute bereits um 4 Prozent übersteigt. Österreichs Nachwuchsziffer steht heute um 10% höher als die Deutschlands. In der kurzen Zeit von 1900 bis 1924 ist Deutschlands Fruchtbarkeit um 50% gesunken. Es hat heute die niedrigste Fruchtbarkeitsziffer von allen Ländern Europas. Trotzdem Österreich mit 160 Geburten auf 1000 verheiratete Frauen pro Jahr ein gutes Stück vor Deutschland steht, dessen Fruchtbarkeit mit 138 das europäische Minimum darstellt, ist unsere Republik gegenüber anderen Ländern dennoch ungünstig daran. Zwischen Wien und Berlin besteht in Hinsicht des Geburtenrückganges kaum mehr ein Unterschied. In Berlin sank die Geburtenziffer von 1911 bis 1926 von 20.8 auf 11, in Wien von 19.9 auf 12.2.

Wir gehen unter – aber wir sind zivilisiert.

Es ist uns ein schwacher Trost, daß wir uns auch damit als eines der stärkst zivilisierten Völker erweisen. Denn nach Wolf setzt das Durchdringen der neuen Sexualmoral einen hohen Grad von Intellektualität der Bevölkerung voraus. Als Beweis hierfür kann auch die Tatsache gelten, daß die weniger zivilisierten Länder vom Geburtenrückgang viel weniger betroffen wurden. Der gering zivilisierte Osten verdankt seine riesige Bevölkerungszunahme hauptsächlich dem Verharren in der teils religiös bedingten traditionellen Geschlechtsmoral. Wir beendigen die Lektüre von Wolfs Buch eigentlich mit dem Eindruck, die höchstzivilisierten Völker stünden dem Untergang am nächsten.

Wenn es Wolf gelungen ist, einen so tiefen Blick in den Mechanismus und die Motive der Bevölkerungsbewegung zu tun, so ist dies vor allem dem Umstande zuzuschreiben, daß er es wagte, das Geburtenproblem einmal nicht bloß unter dem Gesichtswinkel eine Spezialwissenschaft zu betrachten. Der Gelehrte Wolf verschmäht es nicht, auch vom praktischen Leben und dessen Niederschlag in der schönen Literatur zu lernen und erobert der Psychologie ein großes Stück neuen Bodens im Reiche der Nationalökonomie. Hier wird sie nun ebenso heimisch werden, wie sie in der Rechtswissenschaft geworden ist. Wolfs Buch ist in einem Stil von messerscharfer Logik abgefaßt, von unerbittlicher Zwangsläufigkeit in den Schlußfolgerungen, von starker Apercus und ästhetischen Wendungen. Julius Wolf beweist damit, daß Anmut der Darstellung die Würde der Wissenschaft nicht verletzen muß.

Dr. Alfred Stern.

In: Der Morgen. 5.11.1928, S. 5.


[i] Bei Gustav Fischer, Jena 1928.

Artur Ernst Rutra: Das Weltbild meiner Generation (1928)

Im folgenden versucht Artur Ernst Rutra, der Autor der Tragödie Vom Kronprinzen, deren Erstaufführung im Burgtheater bevorsteht, die Grundlagen aufzuzeigen, auf denen das Weltbild der Generation zwischen Dreißig und Vierzig sich aufbaut, und die zugleich der geistige Hintergrund sind, vor dem sein Werk sich abspielt.

Natürlich liegen alle Hintergründe eines Werkes, das Bestimmtes zu sagen sich vornimmt, in dem Weltbild beschlossen, das sich in dessen Urheber in den Jahren und Jahrzehnten gebildet hat, die er sehend, denkend und leidend erlebt hat. Sie liegen hier, im besonderen Falle, im Blickfeld einer bestimmten Generation, der Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen, in deren Mitte ich stehe, von der ich im allgemeinen sprechen zu dürfen glaube, wie selbstverständlich ein jeder aus ihr, der sich geistig mit der Zeit auseinandersetzt. Ich bin mir dessen bewußt, daß meine Betrachtung nur einen Ausschnitt aus einer mannigfaltigen darstellen kann, aber ich glaube, daß viele zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sein müssen.

Nach einer Zeit von zehn Jahren alter Welt, die mit dem Kriegswahnkollaps ihr Leben beschloß, und nach zehn Jahren des Zusammenbruchs und verfluchter Aufbauarbeit suchen wir uns Rechenschaft zu geben über diese zwei Jahrzehnte, die gerade in unserem Leben deutlichere Spuren eingezeichnet haben, als in irgend einem anderen gegenwärtigen vor oder nach uns. Die Jugend, die nachkommt, hat es leichter, und die heutige gerade, die sich manifestiert, macht es sich zuweilen, wenn auch hoffentlich nicht in ihren gültigen Vertretern, besonders leicht; sie operiert bereits mit dem Vorwurf an die Adresse der Alten und nimmt bedenkenlos die alten Formen auf, um sich nicht besser zu bewähren, als es den gescholtenen Vorfahren gegeben war. Eine merkwürdig alte Jugend mit zuweilen vergreisten, gewiß jedoch fertiggestellten Zügen, sehr bewußt, aber auch sehr geschickt, ohne Elan, doch von unleugbarem Talent in der Verwaltung des Sprachguts, ohne Einfälle – aber auch ohne Einfalt. Ein Geschlecht von Mechanikern und Konstrukteuren, das stolz darauf ist; es mögen die Vordringlichen sein, die es eilig hatten, denn es tauchen bereits die Anzeichen auf, daß andere, verantwortungsbewußtere, sie abzulösen sich anschicken. Die Generation vor uns: die einen haben es schwerer, weit schwerer als wir, und werden sich nie mit dem Verlorengegangenen abfinden können, oder sie haben so viel Boden unter ihren Füßen hinübergerettet, daß sie unangefochten und unbekümmert darauf stehen können. Sie sehen die Abgründe, die sich aufgetan haben, aber ihr Blick ist elastisch genug, darüber hinwegturnen zu können, oder er kehrt befriedigt zu sich selbst zurück. Vereinzelte Gipfel sind da, um die es gewittert, und solche, auf denen es der Sonne gut geht, die sie bescheint.

             In jeder Reihe von Generationen ist immer eine, die vom Fluch des Wissens getroffen ist. Sie hat nicht Gott, noch Götzenbild, sie hat nicht einmal sich selbst. Die eine, die es diesmal im Ablauf der Folgen ist, ist das Geschlecht des Krieges. Was ihr blieb von sich selbst, ist das Geschenk einer furchtbaren Gnade, die ihrem Leben das Mal von Toten auf Urlaub eingebrannt hat; aus dem Leben fraß es sich in Denken und Fühlen und in die Gestalten und Erscheinungen der Phantasie. Diese Generation schleppt auf ihrem Rücken ihre Toten mit sich, und vor sich sieht sie die lächerliche Fratze der Wohlfahrt, die um das eigene Wohlergehen besorgt ist. Sie sieht die Lüge, die hinter dem trainierten Muskel, der Schönheit oder Geste bedient, die Geste hinter der Tat, und keine Tat im Tun. Diese Generation, der kein Pardon gegeben wurde, ist nicht geneigt, Pardon zu gewähren. Sie kennt nur ein Gebot, klar zu sein und gerecht, und nur eine Verantwortung: die vor sich selbst. In einer Reihe von Büchern der letzten Zeit, die ich las, finden sich, jedes in seiner Art, die Bekenntnisse dieser Generation. Ich nenne einige Verfasser, die solche Bücher schrieben, die Beispiele von Klarheit, Unerbittlichkeit und gegebener Rechenschaft sind: Josef Roth, Schneider-Schelde, Gläser, von der Vring, Eisenrohr, Sochanczewer. Es sind Werke, die auch Gegner finden mögen, die aber wertvolle Zeugnisse und Dokumente dieser Generation bleiben.

             Ich habe es versucht, in meiner ersten Tragödie Der Kronprinz Erkenntnisse der letzten Jahre Gestalt werden zu lassen, die Zeugnis ablegen wollen, soweit ein Einzelner sich Abgabe eines Zeugnisses anmaßen darf.

             Wenn Gestalten der Phantasie, die das Leben gereicht hat, einmal Leben gewonnen haben, ist es um vieles leichter, ein Drama zu schreiben, als einen Roman. Im Roman darf man die Gestalten Leben gewinnen lassen, oder ein Drama, in dem der Dargestellte nicht von Anfang an lebt, ist kein Drama. Also ist es wieder um das Drama schwerer bestellt als um einen Roman.  Das Drama lebt von der Sparsamkeit, es muß auf vieles verzichten, was der Roman gestattet, der sich im Reichtum entfaltet.

             Ich habe in der Tragödie vom „Kronprinzen“, die vor fünf Jahren zum erstenmal sich mir formte, versucht, einer Welt die Gerechtigkeit der letzten Konsequenz widerfahren zu lassen, die sie sich selbst versagt hat. Das Erlebnis des Verfalls einer historischen mündete in das Gebilde einer phantastischen Welt, die heroische zugrunde geht in einer Zeit, die keinen Platz mehr hat für den Helden antiker Begriffswelt. Diese phantastische Welt hat sich den Tod ersiegt, nur bleibt sie im Bilde und dient ihm und der Legende. Mittelalterliche Welt, die jedoch als unzeitgemäße, in die Gegenwart gerückte Historie, ihren sinngemäßen, heroischen Untergang findet. Eine altgewordene Welt, die den Glauben verloren hat und niemals Liebe hatte. Eine neue Welt und löst sie ab. Sie ist jung und: „sie will Liebe und, um zu reifen, – Fehler und Geduld.“

In: Der Tag, 2.12.1928, S. 21.

Hugo Schulz: Dämon Alpinismus. (1926)

Wenn man vom alpinen Sport spricht, so empfinden das viele Bergsteiger als eine Beleidigung. Sie gestehen nicht gern zu, daß ihr erhabenes Vergnügen ein Sport sei. Übrigens bestreiten auch die eigentlichen Sports­leute, daß der Alpinismus im eigentlichen Sinne als Sport zu qualifizieren ist. Ihnen scheinen nämlich Leistungen körperlicher Kraft und Gewandtheit nur dann die Wesensmerkmale des Sports zu tragen, wenn sie ihre Vervollkommnung im Wettkampf suchen. Das Charakteristische des Sports ist nach dieser Auffassung, daß er Rekordleistungen schafft, die exakte Maßstäbe für die Bewertung des

sportlichen Könnens abgeben. Wenn man nun selbst diese Auffassung, gegen die sich gar vieles einwenden läßt, un­eingeschränkt gelten läßt, kann man dem modernen Alpinismus den Charakter eines Sportbetriebes nicht ab­streiten, denn er trägt das eigentliche Wesensmerkmal des Sports an sich wie irgendein athletischer Wettkampf. Auf keinem Sportgebiet ist das Rekordwesen so vielgestaltig wie beim Alpinismus, nur hat es da die besondere Eigenheit, daß es keinen exakten Ausdruck durch arithmetische Verhältnisformeln gewinnen kann. Die Qualität touristischer Leistungen kann nicht gemessen, sondern nur geschätzt werden, aber die Alpinisten haben aus der Erfahrung allmählich Einheitswerte gewonnen, auf die bezogen sie jede Besteigung vollkommen

zuverlässig sportlich klassifizieren können. Wenn zum Beispiel ein Alpinist hört, daß jemand ohne Führer die Kleine Zinne bezwungen hat, so weiß er sofort genau, welchen Rang er dieser Leistung zuerkennen muß. Er hat ein ganz bestimmtes Bild von den Anforderungen, die diese Tour an die sportliche Leistungsfähigkeit stellt, und ist auch in der Lage, das Bild jeder andern Tour zu diesem in Beziehung zu bringen. In der Vorstellung der Touristen hat sich auf diese Weise ein vollständiges Rekordschema ausgebildet, das sehr feine und sogar subtile Unterscheidungen ermöglicht.

Wenn man nun weiß, daß der Alpinismus ein Sport ist, so hat man ihn deswegen noch lange nicht begriffen. Die moderne Bergsteigerleidenschaft hat entschieden etwas Mystisches, das aller exakten Erklärung zu spotten scheint und das sich nur dem aufhellt, der entschlossen ist, des Rätsels Lösung in den Tiefen des menschlichen Trieblebens zu suchen. Das Bergsteigen ist wohl Sport, aber nur in seinem Betrieb und nicht in seinem innersten Wesen.

Um im Rahmen der Hochalpenwelt Sport zu treiben, braucht man nicht die aussichtsarme Fünffingerspitze zu erklimmen. Eine scharfe Ruderfahrt über den Königssee leistet dem Körper und bei stürmischem Wetter auch der Seele ganz dasselbe wie eine schneidige Gipfeltour, ohne auch nur halb so anstrengend zu sein wie diese. Die Tatsache, daß auch beim Bergsteigen Naturfreude und Sport­freude einander durchdringen, vermag allein den besonderen Charakter des Alpinismus nicht zu begründen – die merk­würdige Lust, inmitten erhabener Schönheit Pfade des Todes zu wandeln, muß viel verborgenere Quellen haben.

Ich glaube, daß es mir gelungen ist. diesen Quellen näherzurücken, indem ich die Leidenschaft für schwierige Berg­touren aus einem Triebe erkläre, der bei vielen Menschen in stärkerem oder schwächerem Grade das Verhalten gegenüber ästhetischen Eindrücken bestimmt. Es gibt je nach dem Vorherrschen oder dem Fehlen dieses Triebes zweierlei Arten von ästhetischem Genuß; die beschauliche passive, die den Willen völlig auszuschalten vermag, und die begehrliche, bei der der Gegenstand des Genusses zugleich ein Gegenstand des Wollens ist. Der beschaulich Genießende gibt sich willenlos dem Eindruck des Schönen hin – „die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht“. Anderseits aber gibt es Menschen, die selbst beim Anblick des Sternenhimmels ihre Begierde, davon auf irgendeine Weise Besitz zu ergreifen, kaum zu zügeln vermöchten, wenn er nicht gar so unnahbar wäre. Das sind die Naturen, die das Schöne nicht anders genießen können, als indem sie zugleich unstillbare Sehnsucht nach dem Besitz hegen. Was ihnen gefällt, wünschen sie ihrem persönlichen Dasein einverleiben zu können, sei es als gemeines Eigentum, sei es als Erlebnis, sei es als Eroberung ihres erkennen­den Geistes. Das Schöne befriedigt sie nicht, solange sie es nicht ganz mit ihrer Persönlichkeit zu durchdringen, es zu gewinnen, zu meistern, von innen heraus zu begreifen oder auf irgendeine sonstige Art zu beherrschen vermögen. Die gemeinste Verkörperung dieses urmenschlichen Triebes sind jene Leute, die ein schönes Weib nicht sehen können, ohne danach zu begehren, seine höchste Verkörperung ist der gelehrte Forscher, der vor der Erhabenheit des Weltalls nicht in stummer Anbetung zusammensinkt, sondern in leidenschaft­lichem Erkenntnisdrang den Weg sucht, der zur Pforte des Allerheiligsten führt.

Wie wird nun der Anblick des Hochgebirges auf ein solcherart sehnsüchtig und schmachtend veranlagtes Menschenkind wirken? Der beschauliche Naturfreund wird sich in stummer, wunschloser Verzückung dem Eindruck hingeben und dann, des Gottes voll, von bannen gehen in seligem Frieden. Den kann nun der begehrliche Naturfreund nimmer finden. Je erhabener sich die Bergwelt vor ihm entfaltet, desto unruhiger wird seine Seele. Eine unsagbare Sehnsucht erfüllt ihn plötzlich, diese wilde Schönheit nicht bloß anzuschauen, sondern auch zu erleben. Eine rauhe Tatkraft erwacht in ihm und jagt ihn hinein mitten in die Wildnis, in das Labyrinth der Gletscherpracht. damit er sich da als Herr fühlen könne, dem all diese Pracht angehört als erworbenes und erobertes Eigentum seiner Persönlichkeit. Dieses Ziel ist unerreichbar, und daher kennt die Sehnsucht des echten Alpinisten keine Be­friedigung und kein Ende. Durch alle Poren sucht er in die Schönheit seiner geliebten Berge einzudringen und wühlt sich förmlich ein in sie, um sie ganz mit seiner Persönlichkeit zu durchsetzen. Auf den schwierigsten und gefährlichsten Pfaden fühlt er sich seinem Ziele am nächsten, er beweist seinen ge­liebten Bergen, daß er sie selbst dort, wo sie  am sprödesten tun, zu meistern vermag. Aber die verführerische Schönheit des Hochgebirges ist nicht auszuschöpfen, immer neue Probleme bieten sich dem wilden Erobererdrang des Ein­dringlings, der im Reich der Klüfte herrschen mochte. So wird das Bergsteigen eine Leidenschaft – eine erhabene Leidenschaft zwar, aber im Grunde doch wesensverwandt der erotischen jener Leute, die den verborgensten Rätseln des Geschlechtslebens nachspüren. Die Hochtouristen sind die Don Juans der Berge. Ihr Tun ist ein heißes Werben um die Gunst jener spröden Gewalten, die den Busen der Geliebten mit Eis und Stein gepanzert haben. Je schwerer der Sieg zu erringen ist, desto heftiger lodert die Sehnsucht. Gerade dort, wo die Hindernisse sich am meisten häufen, lockt am stärksten die Aussicht auf das Ziel des Strebens, sich einmal völlig eins fühlen zu können mit der inbrünstig geliebten Schönheit des Weltalls.

In: Arbeiter-Zeitung, 29.6.1926, S. 12.

Paganus [ ]: Lichtbündlerischer Auftakt. Beginnende Nacktkultur in Österreich. (1927)

Seit einiger Zeit mehrt sich auf meinem Schreibtisch – nein, auf dem Nebentisch – die sogenannte „Nacktliteratur“. Es scheint, daß die Autoren, Verleger und Propagandisten Österreich dieser für uns Terra incognita ent­deckt haben. Oder vielleicht haben sie nur entdeckt, daß ich ihre Nacktkulturei entdeckt habe und betrachten mich nun als Spezialreferenten des Blattes. Jedenfalls wimmelt es seither bei mir von Büchern, Broschüren, Einladungen, Nacktsanatoriumsprospekten, Sonnenbadbildern und so weiter. Großes Geschütz wird von Pro und Kontra aufgefahren. Es ist ein Kampf um Leben und Tod, um Schwimmhose und Epidermis.

Dabei hat die Bewegung schon ihre richtige Geschichte und Geschichtsschreiber, wie mich das im vorkämpferischen „Verlag der Schön­heit“ erschienene Werk Die Nacktkultur-Bewegung von I. M. Seitz belehrt. Und die Geschichte wieder hat neben den hygieni­schen und ästhetischen ihre religiösen, rassi­schen, metaphysischen, juristischen und ethischen „Belange“, was die meisten von uns wohl kaum geträumt hätten. Wer sich darüber – mit dem beruhigenden Imprimatur des erzbischöflichen Generalvikariats zu Köln – orientieren will, wird gut tun, sich die streit­bare Anti-Schrift des Jesuitenpaters Ph. Küble zu Gemüte zu führen, die der Jugendführungsverlag in Düsseldorf zu Nutz und Frommen des bedrohten katholischen Rheinlandes erscheinen lassen hat, ohne ver­hindern zu können, daß ein anderer „Theologus Christianus“ bei I. M. Seitz in München eine Anti-Antischrift drucken ließ, die haarklein, mit ebensoviel religiösen unethischen Argumenten aus dem Alten und Neuen Testament für das sogenannte Recht auf den nackten Leib eintritt. Nacktheit als Verbrechen nennt sich ein im Egestorfer Verlag Robert Laurer erschienenes, gut dokumentiertes, etwas kitschig illustriertes Buch, das die Leiden und Freuden der „Sonnenbündler“, soweit sie beim berühmten großen Nacktkultur-Prozeß zu Lüneburg erlebt wurden, in anklägerischer Breite erzählt und ein merk­würdiges Mentalitätsbild der deutschen Richter und Gerichte vom zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts enthüllt. Paul Isensfels wieder zeigt in seinen Getanzten Harmonien (Dieck & Co.) in prachtvollen Lichtbildern, daß die Nacktkultur als künstlerisches Akzidens bereits in großen Tanzschulen Deutschlands Eingang gefunden hat und nun dort ihren Kampf um die Daseinsberechtigung mit Hartnäckigkeit weiterkämpft. Therese Mühlhause versucht schließlich in ihrer Freien Lebensgestaltung (Verlag Laurer) das Recht auf Hüllenlosigkeit und Sonnenstrahlenmaximum in Weltanschauung und Familiendasein fürsorglich einzubetten, so daß der deutsche Spießbürger kaum mehr merkt, wie ihm geschieht.

Soweit von meinem Schreibtisch, respektive von seinem Nebentisch, dessen Rezensions­exemplare ihre pflichtgemäße Erledigung verlangen. Aber es erscheinen wohl hundertmal mehr Dinge am verlegerischen Nackthimmel Deutschlands, von denen sich Rezensent und Schulweisheit nichts träumen lassen.

                                                                   ***

Und nun zu Wien. Langsam, aber sicher vollzieht sich der Nacktkultur-Anschluß an das Deutsche Reich. Die Kämpfe mit Gendarmerie, Gericht, Geistlichkeit und Polizei, die ihr pflichtgemäßes Ärgernis nehmen muß, locken auch hier die Kampflustigen. Zu ihnen gesellt sich die Schar der Naturschwärmer, Natur­heiler, Gesundheitsapostel, Sonnenanbeter. Urzuständler, Weltanschauer, die glücklich sind, auf ein neues, unbekanntes, verheißungsvolles Evangelium schwören zu können. Und die noch größere Schar derer, die nichts wollen, als es auch einmal zu versuchen, wie hundert­prozentige Sonnenstrahlung wirkt, oder die sehen wollen – gemäß den Lehren der Lehre – wie die Nacktheit die zur Last gewordene Erotik abstumpft und naiv macht. Bedenkt man’s recht, man sollte sie ruhig nach ihrer unbekleideten Fasson selig werden lassen und nicht durch überflüssige Kämpfe aus Sektie­rern Märtyrer machen. Was in Rußland, in der Ukraine, in Schweden schon seit langem – ohne Ärgernis Brauch, – wird auch uns nicht in eine Revolution stürzen. Und die Tat­sachen der zahlreichen deutschen Nacktsanatorien, des jüngst beschlossenen Familien-Nacktbades der Gemeinde Berlin, des kürzlich eröffneten Nacktbadestrandes im Seebad Sylt zeigen, daß hier eine Bewegung im Entstehen begriffen, die sich einfach durchsetzen will, die neben vielen komischen Seiten und Auswüchsen aber auch einiges Gute mit sich bringen kann. Ob den nordisch-gymnastischen Neuhellenismus, von dem manche träumen, das allerdings sei heute noch dahingestellt.

Im kleinen Maßstab gibt es bei uns schon seit Jahren so etwas wie Nacktkultur, Sonnenbündlerei, Lichtfreundschaft, Freikörperkultur, die alle nur unterschiedene Varianten des­ selben Themas darstellen. Seit Jahren ziehen kleine Kreise Sonntags in die Donauauen, auf die Lobau, auf den Bisamberg, in ent­legene Täler des Wienerwaldes, um nackt zu schwimmen, zu rudern, Gymnastik zu treiben, die Epidermis zu Pigmentieren, zu spielen oder um den – je nach dem Grade der Kor­pulenz – mehr oder weniger ästhetischen Anblick gegenseitig zu genießen. Hie und da hat es eine der Gruppen schon so weit gebracht, für die Abendstunden ein öffentliches Schwimmbad, für die Feiertage ein abgesondertes Gelände mieten zu können. Im übrigen ist man deutschnational, hakenkreuzlerisch, sozialistisch oder jngendbeweglerisch. Nur christ­lichsoziale Gruppen fehlen noch. Die Öffent­lichkeit hat bisher wenig davon Notiz ge­nommen, das heißt, man ließ sie nicht Notiz nehmen und lebte zurückgezogen. Polizei und Gendarmerie benahmen sich taktvoll und diskret.

Die Jüngsten und Radikalsten der „Sonnen­freunde“ wollen nun den gegenwärtigen latenten Zustand in einen manifesten ver­wandeln. Was von ihnen bisher als in­dividuelle Wohltat genossen und empfunden wurde, wollen sie nun als „Ruf an Alle“ weitergeben, zu einer Volksbewegung um­schaffen. Und sie hoffen, daß wir bereits reif dazu sind.

Selbst der komische Mißerfolg des ersten Auftaktes hat sie nicht abgeschreckt. Die erste Vorbesprechung in einem großen Stadtcafe, die jüngst an einem Sonntag vormittags statt­fand, durfte nicht stattfinden. Nachdem die zu­künftigen Lichtbündler gegessen und getrunken hatten – nicht früher –, erklärte ihnen der erschreckte Cafetier kategorisch, daß es in seinem anständigen Lokal „keine Nacktkultur nicht geben derfe“ und schloß die noch nicht eröffnete Versammlung. Konsequenz: bei der nächsten Einberufung erschienen doppelt so viel Licht­bündler. Zu seinem Erstaunen sah man Ärzte, Professoren, Ingenieure, Advokaten, Künstler, Offiziere, Frauen, Mädchen …, sogar schöne und anmutige. Nach den Berichten aus Deutschland und den sonstigen usuellen Dis­kussionsreden beschloß man den Bund für Freilichtkultur zu gründen und die Statuten einzureichen. Statuten von einer gewissen Rigorosität, die die Allzuneugierigen und Unberufenen fernhalten sollen; zugleich aber beschloß man auch, den Arierparagraphen der Anderen zu stürzen.

Ein Beginn ist gemacht. Ein Stück Anschluß an Deutschland vollzogen. Die Mitglieder strömen, wie man hört, in Menge zu. Gymnastische Kurse sollen demnächst beginnen. Ein Winter-Schwimmbad soll gepachtet wer­ den. Eine Donauinsel für den Sommer. Volksversammlungen werden geplant… Mit einiger Neugierde und Spannung darf man nun auf die Stimme der Gegenseite warten.

In: Der Tag, 21.11.1927, S. 3.

Emil Reich: Die Fußballstadt Europas. Wien wieder in Führung (1924)

Wien ist die Fußballstadt des europäischen Festlandes. Das steht seit mehreren Jahren fest und wird von niemandem, selbst nicht von unseren erbittertsten Rivalen, angezweifelt. Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Es gibt keine andere Stadt auf dem Kontinent, die so viele Fußballvereine mit so viel Spielern besitzt wie Wien. Aber das ist nicht ausschlaggebend. Es kommt auf das Interesse an, das der Fußballsport in den breiten Massen findet, die sich nicht aktiv betätigen. In Spanien zum Beispiel, ist Fußball zum Nationalsport geworden, der die Stierkämpfe allmählich verdrängt. Gewiß, Barcelona oder Madrid zählt nicht so viel Einwohner wie Wien, aber auch verhältnismäßig genommen lockt dort der interessanteste Wettkampf nicht solche Zuschauermengen an wie bei uns. Man nenne eine Stadt in Europa außerhalb Englands, die auf 80.000 Zuschauer verweisen kann. Das ist jene Höchstziffer, die ein Wettspiel in Wien erreichte, wobei man, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen, behaupten kann, es wären an jenem denkwürdigen Tage im Frühjahr 1923, an dem Österreich Italien gegenübertrat, über 100.000 Menschen auf der Hohen Warte zusammengeströmt, wenn die dortigen Anlagen einen größeren Fassungsraum gehabt hätten. Und welche Stadt sieht Sonntag für Sonntag selbst bei wenig einladendem Wetter zumindest 40.000 bis 50.000 Zuschauer auf allen Sportplätzen versammelt? Wo noch interessiert sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung für den Ausgang der Wettspiele, so daß man in den Abendstunden auf der Straße, in der Elektrischen, in den Gast« und Kaffeehäusern, im Kino und fast jeden zweiten Menschen von den Ergebnissen der Meisterschaftsspiele und von den Aussichten der Klubs in den nächsten Kämpfen sprechen hört? In dieser Beziehung hat Wien allen europäischen Städten den Rang abgelaufen, mag man das nun als einen Vorteil oder einen Nachteil betrachten.

Die Fußballkenner des Auslandes geben dies unumwunden zu, aber sie haben sich damit zu trösten versucht, daß sie sogleich, wenn sie von dem Rieseninteresse der Wiener Bevölkerung für Fußball sprachen, hinzuzufügen pflegten, der Fußballsport sei bei uns zwar in die Breite gegangen, aber nach der Höhe habe er sich nicht entwickelt und deshalb müsse sich Wien, was das Fußballkönnen betreffe, mit dem zweiten oder dritten Platz bescheiden. Dieser Trost war uns zwar von den Nachbarländern, der Tschechoslowakei und Ungarn, nicht leicht abgekauft, aber doch für diese sehr angenehm, zumal er aus den Tatsachen geschöpft wurde. Vor etwa drei Jahren machte sich eine wesentliche Verbesserung des tschechoslowakischen Fußballs geltend, soweit dies in Resultaten zum Ausdruck kam. Es soll damit gesagt sein, daß die Tschechen damals nicht etwa viel höheres Können an den Tag legten als in der Vorkriegszeit, aber in den internationalen Spielen, zu denen sie nach dem Umsturz viel mehr Gelegenheit hatten als früher, bewährten sie sich überraschend gut, und es gab eine Zeit, in der man sie für unbesiegbar hielt. Es war dies die Blütezeit des Athletikklubs Sparta, die durch einen rauhen Frost unterbrochen wurde, als die Amateure ihren herrlichen 5: 3-Sieg auf der Hohen Warte gegen die Sparta errangen. Dieser Erfolg wurde damals als ein Wunder angesehen, das nur durch das beispiellos schöne Spiel der Violetten zustande gebracht werden konnte. Aber noch immer galten die Sparta und die Slavia als die Fußballmatadore Europas, man dachte an das Sprichwort von der Schwalbe, die noch nicht den Sommer bringt und sagte: „No, haben wir nicht recht gehabt, als die Wiener Vereine in späteren Kämpfen gegen Prager Vereine wieder Niederlagen erlitten.“ Ungarn konnte in dieser Epoche nicht so blendende Erfolge erzielen wie die Tschechen, da sich die Abwanderung zahlreicher Spieler von Sonderklasse fühlbar zu machen begann, doch Österreich gegenüber schien es in Klubkämpfen noch immer überlegen zu sein. Man räsonnierte in Budapest über die Aufnahme ungarischer Fußballer in Wiener Vereine, doch auch dort hatte man einen Trost bei der Hand: Seht die Ergebnisse der Spiele mit den Wiener Vereinen.

Es war vielleicht gut, daß die Nachbarn üppig wurden und unsere erstklassigen Vereine etwas bescheidener. Dadurch wurden diese gezwungen, nicht bloß die Wirkung in die Breite, das heißt die Wirkung auf die Massen und den Kassenerfolg im Auge zu behalten, sondern auch auf die Hebung der Spielkraft bedacht zu sein. Jetzt zeigt sich, daß Wien auch, was das Fußballkönnen anbelangt, im Begriffe ist, die Fußballstadt Europas zu werden. Seit dem Beginn der Herbstsaison feiern unsere Klubmannschaften einen Sieg nach dem anderen, ob sie nun mit unseren Nachbarn in der Heimat oder in der Fremde kämpfen. Die Vienna schlägt U.T.E. in Budapest 4:2 und den M.T.K. zuerst in Wien 6:4 und dann in der ungarischen Hauptstadt 2:1, die Amateure besiegte M.T.K. hier 2:0, in Budapest triumphieren Rapid und Hakoah über F.T.C., die Hütteldorfer 3:1, die Blauweißen 2:1. Das ist eine erfreuliche Auslese aus den Spielen mit den führenden Budapester Vereinen. Die Begegnungen unserer Klubs mit den hervorragendsten Mann­schaften der Tschechoslowakei bringen jenen ebenfalls Erfolge. Es muß vorausgeschickt werden, daß es auf dem Prager Boden aus­wärtigen Gegnern stets schwer fällt, Siege zu erringen. Die Schiedsrichter tun dort ihr möglichstes, um den Spielen eine ihrem patriotischen Empfinden entsprechende Wendung zu geben, was erst jüngst das Match Amateure — D.F.C. bewiesen hat, das 1:1 endete. Deshalb ist dieses Ergebnis als ein Sieg der Wiener zu werten und ebenso das gleiche Resultat des Kampfes der Violetten gegen die Slavia, in dem der Schiedsrichter zwar ausnahmsweise ein­wandfrei amtierte, zu dem aber die Wiener, ermüdet durch das Spiel gegen den D.F.C. am Vortag, die Slavia-Mannschaft dagegen frisch antrat, da sie entgegen der Vereinbarung das Meisterschaftsspiel, das sie am vorhergehenden Tage hätte austragen sollen, im letzten Augenblick abgesagt hatte. Am letzten Feiertag spielten die Amateure in Wien die Sparta in Grund und Boden, und wenn nicht der Sparta-Tormann so glänzende Abwehrarbeit geleistet hätte, würde das Ergebnis für Sparta nicht 1:4, sondern weit schlimmer gelautet haben. Auch das Resultat 3:4, das Wacker in Prag gegen die Sparta erfocht, ist ein Triumph der Wiener Klasse, denn man darf nicht vergessen, daß Wacker gegen Sparta zum erstenmal spielte und in Kämpfen mit ausländischen Gegnern noch nicht die Erfahrung besitzt, wie etwa die Amateure oder Rapid. Schließlich muß noch erwähnt werden, daß die Admira in Brünn gegen den kräftigen Sportklub Zidenice mit 3:2 Sieger blieb und daß sogar der derzeit zweitklassige W.A.F. einer so routinierten Mannschaft wie dem Blue Star-Brünn ebenfalls in Brünn ein unentschiedenes (0: 0) Ergebnis abzuringen vermochte.

Morgen stehen einander die Vienna und Sparta sowie Hakoah und Slavia in Prag gegenüber, während Admira gegen den III. Bezirk-Turnverein in Budapest kämpft. Wie immer diese Wettspiele enden, die Tatsache, daß die Wiener Fußballklasse gegenwärtig die von Prag und Budapest überholt hat, wird, sollten auch unsere Mannschaften keine Erfolge erzielen, nicht um­gestoßen werden. Verlieren die Wiener, dann gilt jetzt für die Gegenseite das Sprichwort, daß eine Schwalbe noch keinen Sommer macht.

In: Neues Wiener Journal, 15.11.1924, S. 17.

Arthur Ernst Rutra: Oesterreichs abendländische Sendung (1936)

             Der Begriff vom „Abendland“ wurde unserem geläufigen Wortschatz erst durch das Werk eines Philosophen eingebürgert, der dessen Untergang in einer fast gewalttätigen Vision heraufbeschworen hat. Es war das Verhängnis dieses Mannes, ja, es wirkt wie ein Satirspiel fast, daß er, der gewiß den Untergang des Abendlandes nicht wollte, im geistigen Raum mit der Wegbereiter einer Bewegung wurde, die dann, als sie als Umwälzung hereinbrach, vielfach dieses Abendland und seine Kultur zu bedrohen sich anschickte und wohl gefährdete. Der Mann, der Philosoph, hat dies erkannt und einmal, wenn auch mit schmerzlicher Zurückhaltung, mahnend und warnend seine Stimme erhoben. Zu einer neuerlichen und – wer ihn kannte, der wußte es – zu einer dem gewonnenen Abstand gemäßeren schärferen Absage hat der Mann, soviel bisher bekannt wurde, sich nicht mehr aufgerafft. In diesem Jahr, das nunmehr zu Ende geht, schied er überraschend schnell aus dem Leben, – ein gebrochener Mann nach Zeugnissen, die man aus seinem sehr spärlichen Bekanntenkreis vernahm, den der immerdar Stolze einer Ansprache würdigte. Über seinem jähen und heute, nach kaum paar Monaten, fast schon der Vergessenheit //überantworteten Ende schweben die düsteren Schatten einer verzweiflungsvollen Erkenntnis.

             In dem Werk dieses Mannes, das bezeichnenderweise in seiner ersten, nicht durchgedrungenen Auflage in Wien erschienen ist, erhob sich zum ersten Male bewußt die gespenstische Vision eines in seinem Bestande bedrohten Abendland. Es ist aber zweifellos sein Verdienst, daß gerade damit die erste Mahnung an das europäische Gewissen aufstand, daß eine Verpflichtung zur Besinnung und Einkehr geweckt wurde. Im Rahmen dieser Verpflichtung , einer Verpflichtung zur Abwehr der Gefahren, einer Verpflichtung, von der sich kein Staatswesen ausschließen dürfte, das zur zur europäischen Gemeinschaft zählen will, ist Oesterreich eine besondere Aufgabe bestimmt. […]

             Diese Erkenntnis hat längst sich schon durchgesetzt, und die Geschichte von Jahrhunderten und Jahrtausenden hat es immer aufs neue bestätigt, daß in dem Becken des größten europäischen Stromes, dort wo die alte Reichshaupt- und Residenzstadt Wien liegt, das Einfallstor für den Osten und das Ausfallstor in den Osten aufgerichtet ist. Wer Wien hat, hat den Schlüssel zur Macht über Europa, einer Macht, die um des Schicksals Europas willen, keinem anderen, und schon gar keinem anderen Mächtigen zufallen darf. Denn die gleiche Macht, die in den Händen desjenigen, der ihr rechtmäßiger Verwalter und Bewahrer ist, zum Segen und zum Wohle Europas sich auswirkt, verwandelt sich in den Händen eines anderen, der nur ein unrechtmäßiger Eroberer und Usurpator wäre, zum Unheil und Verhängnis für Europa und die gesamte abendländische Welt.

[…]

Österreichs abendländische Sendung ist nicht zu verstehen und wird von dem nicht begriffen werden, der nicht daran festhält, daß es ein katholisches Land ist. Der tiefe geistige, kulturelle, aber auch rein menschliche Wert dieser Sendung wurzelt in dieser Welt. Die Bedeutung dieser Sendung aber für die Gegenwart und für die Zukunft wird erst aus der Kenntnis der Geschichte geläufig, die immer wieder auf die einzigartige Stellung Österreichs im Verlauf der Weltgeschichte hinweist. Bis in die jüngste Vergangenheit noch, da Österreich, selbst in eine schwere Krise am ende des Weltkrieges gestürzt, immer noch eigene Kraft genug hat, um den Bolschewismus abzuwehren, den Ungarn und Bayern eine Zeitlang erlegen waren, der in vielen Teilen des Deutschen Reiches schwerste Kämpfe heraufbeschworen hat. Auch das war ein Teil der abendländischen Sendung, die das schwer heimgesuchte Land zu erfüllen vermocht hat.

Drei große Baumeister formten das neue Österreich und führten es aus dem Erbe eines altehrwürdigen Reiches seiner neuen Bestimmung zu. Seiner neuen Bestimmung? – ist sie wirklich neu? Sie hat sich in Wahrheit niemals gewandelt. Es galt nur die Anfechtungen und Versuchungen abzuwehren, die plötzlich aus einem national „aufgespalteten“ Europa – um ein heute beliebtes Wort zu gebrauchen – an die alten Grenzen heranbrandeten. Es war freilich nicht leicht für ein Volk, sich inmitten schlimmster materieller Bedrängnisse, in die es durch einen sinnlosen Friedensschluß geraten war, auf seine alten Bestimmungen zu besinnen. Seipel vollbrachte dies große europäische Werk, er räumte den Schutt fort, der sich über dem Grundstein angesammelt hatte und legte die Grundfesten an, die den neuen Bau tragen sollten. Als er vorzeitig abberufen wurde, stand der neue Mann schon da, der das Werk fortsetzen sollte. Er war nicht groß, der Mann, der von den Bauern herkam; 1.47 maß er nur, eine Höhe, die unter das Militärmaß fiel, und er hatte es dennoch erzwungen, daß er als Soldat für sein // Vaterland kämpfen konnte. Nun war er berufen, den schwersten Kampf seines Lebens zu fechten. Er hat ihn durchgefochten, bis zum bittersten Ende, das er als Märtyrer für sein Österreich erlitt. Mit diesem Ende aber, das den Mördern für ewige Zeiten das Kainszeichen auf die Stirn eingebrannt hatte, wuchs der kleine Körper des Mannes Dollfuß ins Riesengroße. Er wuchs so weit, daß er heute die Erde Österreichs bis an seine Grenzen deckt. Wer diese Grenzen anzutasten wagt, rührt mit frevler Hand an diesen teuren Toten und fordert eine furchtbare Vergeltung heraus. Auf diesem mit Märtyrerblut geweihten Boden setzt der dritte Baumeister Schuschnigg das Werk des Aufbaues, aber auch der Befriedung fort. Es ist nicht leicht und wird nicht leichter dadurch, daß jenes Europa, um dessetwillen Österreich besteht und bestehen muß, nicht immer die Unerläßlichkeit dieses Bestandes gebührend wertet. So mögen Anlage und Pläne dieses dennoch unbeirrbar schaffenden Baumeisters nicht immer gleich verständlich und übersichtlich sein. Doch fordert er Vertrauen und hat ein Recht es zu fordern.

Denn über allen, vielleicht zeitlich, vielleicht politisch bedingten Schattierungen, steht unverrückbar, untilgbar die abendländische Sendung Österreichs. Gewiß ist Österreich ein deutscher Staat, aber dieser Staat hat eine eigene deutsche Staatsnation, die die österreichische ist. Nationen sind nicht nur etwas Gewachsenes, sie entstehen auch, wenn ein Wille da ist, der sie schaffen will, mag der Träger dieses Willens ein einzelner, mag er ein ganzes Volk sein. Wilhelm von Oranien schuf die holländische Nation, Washington die amerikanische, in der Schweiz war es das ganze Volk. Wenn heute, sie einst, wieder von einer deutschen Mission Österreichs im Südostraum die Rede ist, so ist diese Mission eine abendländische, so kann sie keine andere sein. Sie ist das Bekenntnis zu einem europäischen, universalistischen und christlichen Deutschtum; zu einem Deutschtum, das niemals um seiner selbst willen antinational gegen andere Nationen war, sondern bestenfalls eben national in gleicher Gemeinschaft mit allen, und übernational zugleich. Gerade diese unschätzbare Bedeutung Österreichs für die gesamte Kulturwelt schöpft ihre sich ewig erneuernde Kraft aus dem katholischen Charakter des Landes. Aus diesem Quell wird das Versöhnende und Befreiende gespeist, das im Wesen der österreichischen Missionsarbeit liegt, aus diesem Quell aber auch die Beharrlichkeit und die in jahrhundertealten Kämpfen bewährte, unbesiegbare Widerstandskraft, wenn es dieses für eine Welt überantwortete Amt zu verteidigen gilt.

Es wäre ein Unrecht, nicht des Hauses zu gedenken, das in tiefer Gläubigkeit und in weiser Erkenntnis dem Lande den Vorzug dieser Gaben erhalten will. Es ist das Herrschergeschlecht, das sich selbst mit Stolz das Haus Oesterreich nennt. Sein Deutschtum ist von einer Weltweite, die der abendländischen Sendung des Landes Österreich entspricht, ja die sie grundgelegt und bewahrt hat; Herrscher, die durch Jahrhunderte auch deutsche Kaiser gewesen sind. Es mag der Vorsehung vorbehalten sein zu bestimmen, wann dieses Haus Österreich wieder mit seinem Lande Österreich vereint sein wird. Doch ist dies Eine gewiß: daß von diesem Tage an die abendländische Sendung Österreichs […] ihren tieferen Sinn und ihren durch nichts beirrbaren Bürgen erhalten wird.

In: Der Christliche Ständestaat, 13.12.1936, S. 1190-1192.

Julius Kugy: Die Berge. (1924)

Die Berge sollen nicht unsere Feinde sein. Ich liebte es nie, las ich irgendwo, daß man ihnen den „Fehdehandschuh“ hinwirft, daß man auszieht, sie zu „bekriegen“, daß man sie Feinde heißt, denen man seine eigene Kraft gegenüberstellt. Der Alpinismus ist kein Kampf und kein Kriegszustand. Kampf kann nur gelegentlich eine Episode, ein Bild sein. Die Grundlage des Alpinismus muß immer reine Liebe zur Natur und zu den Bergen sein, ein tiefsinniges Sichversenken in ihr Leben, ihr Wesen, in ihre Seele. Sind jene Redensarten auch nur bildlich gemeint, so klingt doch Unbescheidenheit und Anmaßung heraus. Es hört sich oft an wie das Schelten und Prahlen von Zwergen. Die beste Tugend des Bergsteigers ist die Bescheidenheit. Die Berge sind ja groß und so langmütig. Sie dulden so vieles. Gar mancher Sieg, der menschliche Energie und Geschicklichkeit ins hellste Licht zu rücken scheint, ist trotz allem ihrem Wohlwollen zu danken. Sie haben still zugesehen und wollten es nicht verwehren. Es ruhten ihre fürchterlichen Waffen. Holen sie aber einmal zum Schlag aus, so treffen sie unfehlbar und vernichtend. Welcher Wissende wird sich im Ernst stärker dünken, als sie sind? Kein kleines „Ich“ kann ihr Herr sein. Man liest so oft: „Meine Berge“ oder beispielsweise: „Meine Julischen Alpen“. Wäre es nicht richtiger, würde man den Gedanken anders fassen und sagen: „Ich gehöre ihnen“ und nicht: „Sie gehören mir“? Es scheint mir, daß kaum ein Ort weniger glücklich gewählt sein könnte, um dort die Herrennatur im Menschen hervor­zukehren, wie das Hochgebirge.

Nur der Liebe öffnen die Berge ihren ganzen Reichtum und die Tiefen ihrer Seele. Sie wollen den ganzen Mann, volle Hingabe, beherzten Mut und wahrhafte Begeisterung. Dann geben sie aber auch Liebe um Liebe, und wen sie lieben, den heben sie hoch zu sich empor und machen ihn groß und reich. Wohl ihm, diesem Liebling der Berge! Sie bauen ihm die schönsten goldenen Brücken, und selbst da, wo sie in schreckhafter Größe und unerreichbar emporgebaut scheinen, lassen sie ihm oft ein kleines, wenn auch schwankes und schwindeliges Leiterlein stehen, daran er zu ihrem Hochsitz emporklimmen kann. Wohl nicht immer, auf daß man nicht übermütig werde und auch unter­liegen lerne. Da empfangen sie ihm dann mit feierlichem Gepränge, sie schmücken ihn großmütig mit ihren Ehrenzeichen, sie reden zu ihm in der eindruck[s]vollen Sprache, die niemand vergißt, der sie je gehört und ver­standen hat. Sie haben ihm ein schönes Plätzchen im warmen Sonnenschein bereitgestellt und heißen ihn freundlich sitzen, führen ihm mit ihrem Getier in Wäldern, Felsen, und Lüften, mit Farben, Schatten und Lichtern, mit tanzenden Nebeln und majestätisch einherziehenden Wolken ihre Zauberspiele; vor, die keine menschliche Phantasie fesselnder, kurzweiliger und prunkhafter ersinnen könnte, und breiten aus ihrem unerschöpflichen Schatzkästlein Kostbarkeiten in blitzenden Reihen zu seinen Füßen hin, die nur göttliche Kraft und Kunst zu schaffen vermögen. So stehen sie dann, ist man mit einem „Komm‘ bald wieder“ gnädig ent­lassen, unvergeßlich in unseren dankbaren und beglückten Herzen und können unser ganzes Leben erfüllen.

Sie haben klare Augen und beobachten scharf. Und erkennen sie, daß nicht Herzensbedürfnis, sondern Mode, Sport, Eitelkeit (oder zufällige Laune herangeführt haben, so blicken sie mürrisch mit verblaßten Farben, halten ihre Schätze mißtrauisch verborgen, und verschließen sich stolz, kalt und stumm. Diesem Fremdling haben sie nichts zu sagen, und er geht arm von ihnen, wie er gekom­men ist. Oft kehrt er nicht wieder zu ihnen zurück. Wie viele „Bergsteiger“, die scheinbar glänzend begannen, habe ich so binnen kurzem verschwinden gesehen.

Treten wir in ihre Hallen ein, so seien wir bescheidene Gäste im Hause von Übermächtigen. Mein ganzes Leben hindurch habe ich mich an sie gelehnt wie an einen stärkeren Freund. Sie waren so gütig zu mir. Oft haben sie mich leise geführt, manchmal getröstet und aus schwerer Erdenpein wieder aufgerichtet. Das nenne ich ein Bergsteigerleben. So habe ich mich nach euch gesehnt, so bin ich vertrauensvoll zu euch gekommen, und so will ich, wenn es sein wird müssen, von euch scheiden, o, ihr schönen, ewigen Berge!

In: Ostdeutsche Rundschau, 19.9.1924, S. 10.[1]


[1] [redakt. Anm.] Wir bringen hier eine kurze Leseprobe aus dem im Hochalpenverlag im Druck befindlichen prächtigen Buche Dr. Julius Kugys „Aus dem Leben eines Bergsteigers“. Der Text erschien in der Beilag Wandern und Bergsteigen, verantwortet von Karl Sandtner.

Otto Koenig: Das proletarische Leben (1920)

             Als Alfons Petzold zu Anfang dieses Jahres Franzl, die Geschichte einer Kindheit im Nestroy-Verlag erscheinen ließ, mochte in manchem Leser das Gefühl aufkommen, daß dieses drastisch-tragisch, psychoanalytisch packende Buch der Geschicke und Geschichte „eines armen Vorstadtwaserls“ zu den Bruchstücken einer großen Komposition zähle, wie das bei epischen Werken lyrischer Autoren zu allermeist zutrifft, wie das bei Alfons Petzold im Roman Erde und in den Novellen Von meiner Straße in erhöhtem Maße zutraf. Hat man aber Petzolds im Sommer dieses Jahres bei Ullstein erschienenen Roman (!) „Das rauhe Leben“ gelesen, dann weiß man, daß in äußeren Lebensschicksalen und in seelischer Veranlagung zwischen dem heißen, derben, prächtig veranlagten, aber verwahrlosten Franzl und dem scheuen, gar wohl erzogenen Alfons keine Beziehung besteht, daß Der Franzl nur den „Memoiren eines Auges“ angehörte, Das rauhe Leben aber denen des Herzens entsprungen ist. – Daß der ganze Franzl und sein zwischen Alkoholdünsten und Liebensbrünsten verelendeten Eltern und Älterer veramseligtes Dasein und unheimlich beschleunigtes Ende ehrlich geschaut, aus des Unterbewußtseins geheimnisvollem Wissen hervorgeholt wurde und eben deshalb trotz deutlicher Tendenz poetisch verdichtet erscheint, soll damit dem kleinen Werkchen, das sich so verblüffend autobiographisch gibt, nicht abgesprochen sondern ausdrücklich zugesprochen werden. Aber der Franzl verhält sich zum rauhen Leben wie innere Wahrheit zu äußerlicher Wirklichkeit und nicht der Franzl, aber Das rauhe Leben wird vom Verfasser, sei es aus literarischem Raffinement, sei es aus Bescheidenheit, ein Roman genannt. Ist aber, so sehr auch Petzold die jedem autobiographischen Werk unentbehrlichen Brücken, Einbauten und Umbauten mit Fontane, an dessen autobiographische Schriften sein Buch erinnert, wichtiger zu nehmen scheint als Rousseau, Goethe, Seume, Grillparzer, nicht mehr und nicht weniger als eine echte, rechte Selbstbiographie: die Schilderung des proletarischen Lebens, wie es Alfons Petzold erlebt hat. Im Drange der Wirklichkeitsschilderung, im natürlichen Eifer, seinen persönlichen Neigungen, Rücksichten und Abneigungen möglichst unverfälschten Ausdruck zu verleihen, hat Petzold in seiner mehr als fünfhundert Seiten starken Erzählung versäumt, zu ballen, zu kombinieren, zu bauen – wodurch ja doch erst die Kunstform des Romans entsteht – und sich wie viele Größere vor ihm mit der einfach linearen Anordnung der zeitlichen Aneinanderreihung , mit der einfachen Verknüpfung durch die Einheit seiner Person begnügt. Außer dem Umfang und den Kapitelüberschriften ist im Rauhen Leben nichts zu finden, was auf die konstruktive Eigenart der Romanform hindeutete. Das rauhe Leben ist kein Grüner Heinrich!

Aber gerade dieser Mangel verleiht dem neuen Buch seinen eigenen Wert. Nicht als ob die Geschichte des proletarischen Lebens gerade Alfons Petzold – dieses reichte bekanntlich bis Alland, worauf ein anderes begann – von vornherein die Anteilnahme der Allgemeinheit fordern dürfte. Noch kann das literargeschichtliche Interesse an Petzold nicht groß genug sein, um eine Selbstbiographie zu rechtfertigen, noch hat Petzold als Neununddreißigjähriger nicht die nötige Distanz zu seinem eigenen jugendlichen Ich, um jener Selbstanalyse fähig zu sein, die ein literarisches Selbstporträt erst ermöglicht. Endlich, des darf man gewiß sein, würde der Sozialist in Petzold die Wichtigkeit der Entwicklung und des Schicksals seiner Einzelindividualität so hoch unmöglich schätzen, um daraus Literatur zu machen, wenn er nicht mehr und Wichtigeres zu bieten hätte als seinen persönlichen Werdegang. Und tatsächlich, ein feines Empfinden hat diesen Titel geformt, heißt sein autobiographisches Buch Das rauhe Leben, nicht „Ein rauhes Leben“. Tatsächlich ist das rauhe Leben des Proletariers, das zu frühester Erschöpfung, Krankheit und elender Verendung hinreißende, erbarmungslose Leben des proletarischen Hilfsarbeiters, aller Proletarier in seinem typischen, zwangsläufigen Verlauf geschildert und die Person des Verfassers kommt nur in Betracht als die juridische Person des Anklägers, zum Sprecher wohl geeignet, da ja Petzolds „Auge und Ohr stets auf die Entdeckung der verborgensten Zeichen des Elends aus war“. Der Autor, der Erzähler, der Erleber, der frühzeitig gute Werke macht, vom Coupletfabrikanten zum lyrischen Dichter aufsteigt und nur weil er dieses wurde, durch Extrafürsorge aus den Krallen des Todes gerettet wird, nachdem die für Proletarier vorgesehene Kräfteausnützung und Scheinspitalpflege ihn bis hart an die dunkle Grenze getrieben hat, ist zufälliges Beiwerk und nebensächlich. Das heißt nur dann, wenn man nicht gerade dies wunderbare Ausnahmsschicksal, das einen einzelnen um einer Tätigkeit willen, die ihn im sozialen Sinne noch nicht zum wertvolleren Menschen macht, aus automatisch zerreibenden Räderwerk errettet, als die Probe auf das Exempel von der jämmerlichen Gesellschaftsordnung gelten lassen will.

             Die Geschichte des nach verunglückten Lehrbubendebüts als Hausknecht, Fensterputzer, Austräger, Zughund herumgestoßenen Hilfsarbeiters aus der industriellen Reservearmee der Großstadt, deren frühe Invalide mit sorgsamer Kaltherzigkeit „ohne Aufsehen“ durchs Spital- und Friedhofstor ins Schachtgrab spediert werden, war und ist durch ihre ewige Wiederholung geeignet, in einem weit größeren Kreise von Proletariern Mitgefühl und Interesse zu erwecken als die nach Berufszweigen oder Heimatszugehörigkeit in ihrer unmittelbarsten Wirkung beschränkten Memoiren von Bromme, Fischer, Holek, Köhler, Rehvein oder was wir sonst an Arbeiterlebensbildern haben. So ist Das rauhe Leben von Petzold schlechthin „Das proletarische Leben“, mit der ausdrucksamen Bildersprache des Lyrikers geziert, durch die Überempfindlichkeit des Kränklichen in seiner gemütlichen Wirkung gesteigert, ein Buch, wohl wert, in unseren Arbeiterbibliotheken Heimat und fruchtbare Verwendung zu finden. Nur stutze der junge oder alte Proletarier, der es mit tiefer Anteilnahme lesen wird, nicht, wenn er gegen Ende darauf kommt, daß sich der proletarische Verfasser des „Empörerwahns“ bezichtigt. Petzold kann nach seinen Erfahrungen gar nicht meinen, daß Empörung Wahnsinn sei oder daß es Wahn war, daß er sich empört fühlte. Er meint nun – wie könnt‘ es anders sein, wenn er nicht frivol sein Buch und sein Leben um Ernst und Weihe bringen will – daß sich seine Empörung über ein normales Maß hinaus gesteigert hat. Aber diese Mißverständlichkeit, deren Erklärung unvermeidlich ist, wenn man den Autor nicht boshafterweise in schiefem Lichte schauen will, ist ein Anzeichen jenes großen Gebrechens, das nun Petzolds neues Buch leider von literarischen Büchern im ästhetischen Sinn unterscheidet: Ärger noch als im Franzl ist das Deutsch im „Rauhen Leben“! so schlampig, so schludrig, so salopp, so von gedankenlos schlecht gewählten Worten, papiernen Fügungen und umgangssprachlichen Unarten durchsetzt, daß man den durch seines Lebens Schicksal und seiner Lyrik Geschick gleich sympathischen Autor wohl mahnen muß, er möge im treuen Gedenken der schönen, sicheren Zielstrebigkeit seines autodidaktischen Bildungsganges die Mühe nicht scheuen, die es gar vielen guten Lyrikern macht, gute Prosa zu schreiben.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.12.1920, S. 2.