Ernst Lothar: Unterhaltungen über die Bücher des Jahres

Der Bücherfreund (zum Kritiker): Sie haben mir im vorigen Dezember mit Ihrer kritischen Bilanz den literarischen Weihnachtskauf erleichtert. Welche Bücher empfehlen Sie heuer? Wenn man den Umschlagschleifen glauben darf, hat es nie so viele Meisterwerke gegeben wie in diesem Jahr!

Der völkische Beobachter: Was mich anlangt, so hat mich Ihre vorjährige diesbezügliche Auswahl nicht begeistert! Von welcher Einstellung gehen Sie eigentlich aus? Ist für Sie die Weltanschauung des Schriftstellers maßgebend oder welche sonstigen Belange?

Der Kritiker: Wenn Sie mir erlauben, das Wort „Einstellung“ beiseite zu lassen und auch auf „Belange“ zu verzichten, dann sage ich Ihnen gern, daß meiner Beurteilung dreierlei zugrunde liegt: der Geist, die Gestalt, die Form. Ein Buch, das mich anzieht, muß geistig sein, was nicht etwa ›geistreich‹ oder gar spitzfindig bedeutet, sondern: denkerhaft. Das Wort von den „Dichtern und Denkern“ ist mir daher unverständlich. Kein wahrer Dichter, der nicht Denker sein und das Gebilde hiedurch aus dem allgemeinen Flachland zum geistigen Niveau erheben müßte. Im Punkte der Gestalt aber stelle ich (Jakob Wassermann hierin beipflichtend) die Forderung, daß alles Dargestellte Leib zu werden hab, nichts neblig, flächig oder linear, alles dreidimensional und atembar (atmosphärisch) sei. Die Form liegt für mich –

Der völkische Beobachter: – selbstredend im edlen Sprachgewand?

Der Kritiker: Du lieber Gott! Verlangen wir vom Sprachgewand weniger und mehr. Mehr: daß des passe. Weniger: daß es sauber sei, das heißt, daß der anerkannte deutsche Schriftsteller Deutsch könne.

Der völkische Beobachter: Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß es daran fehlt!

Der Kritiker: O ja, das behaupte ich. Ich behaupte sogar, daß die Zahl der deutschen Schriftsteller, die fehlerfrei Deutsch schreiben, lächerlich gering ist.

Der völkische Beobachter: Das müßten Sie erst beweisen!

Der Kritiker: Kinderleicht! Achten Sie doch, bitte, darauf, wie oft Sie nach dem Komparativ statt des richtigen „als“ das falsche „wie“ finden; wie oft man Sie falsch einlädt, „an“ oder „auf“ etwas zu vergessen; wie oft man Ihnen dank „eines“ Fehlurteils  einen Stümper zum Stilisten fälscht, was nur (weil „dank“ den Dativ verlangt) dank dem allgemeinen Schlechtdeutschkönnen möglich wird. Erklären Ihnen die Schreiber beständig, sie „brauchen nicht zu sagen“, während ich nicht zu sagen brauche, daß sie bei so schlechtem Deutsch nichts zu sagen hätten? Auch die unterschiedslose Gleichsetzung von „trotzdem“ und „obwohl“ ist gang und gäbe. Daß Leute, die solche groben Fehler machen, nicht einmal ahnen, wie sehr die ihnen im Sprachgefühl steckende Wendung „solche grobe“ dem Deutschen widerspricht, muß ich Ihnen kaum versichern. Die gröberen// Schnitzer, z.B. die epidemische, völkische Verwechslung von „nachdem“ mit „weil“, und die feineren, wie etwa den Fehlgebrauch der Tempora und des Konjunktivs mag ich gar nicht in den Bereich der Erörterung ziehen, weil man dies sonst in den Kreisen, die „das“ Bereich schreiben, für einen Schnitzer hielte. Grundbedingung der Form: das Sprachgesetz. Darüber hinaus hat die Form zu sein: fettlos, geschmeidig, prägnant.

Der völkische Beobachter: Das sind Haarspaltereien! Auf so etwas kann man vergessen, wenn das sonstige Diesbezügliche befriedigt! Kommen Sie jetzt zur Sache.

Der Kritiker: Ich bin bei nichts anderem. Denn ich versuchte, Ihnen klar zu machen, daß die Forderung: Geist, Gestalt, Form sehr hoch und daß (wenigstens soweit ich in Frage komme) davon nichts abzuhandeln ist. Der Schriftsteller, der nicht einmal weiß, was zu seinem Handwerkszeug gehört oder der dieses Handwerkszeug nicht dauernd blank und jeden Satz für eine Verantwortung hält, scheidet für mich aus. Hieraus ergibt sich die Sparsamkeit meiner Auswahl. Sie werden diese Sparsamkeit vermutlich Unvollständigkeit oder Voreingenommenheit nennen.

Der Bücherfreund: Treffen Sie sie immerhin. Je höher der Anspruch, desto geringer das Risiko des Käufers!

Der Kritiker: Ich stelle diesmal die erzählenden Kriegsbücher an die Spitze, für welche die Zeit und das träge Gedächtnis reif wurde.

Der völkische Beobachter: Sie werden hoffentlich nicht dem Herrn Remarque kommen, der mir und allen

Der Kritiker: – mißliebig ist, denen die ganze Richtung nicht paßt? Allen, die „gern dabei“ gewesen sind? Das trifft wohl auch für Sie zu?

Der völkische Beobachter: Voll und ganz.

Der Kritiker: Der Welterfolg von Remarque (und übrigens auch von Ludwig Renns Krieg) ist jenseits aller Parteinahme: hier hat Europa entschieden. Doch räume ich Ihnen ein, daß insbesondere bei Remarque der Wert des Tatsächlichen den des Gestalterischen übertrifft: es ist keine Dichtung, will auch keine sein, Dem Dichterischen näher kommt A.M. Frey mit seinem Feldsanitätsroman „Die Pflasterkästen“ (Kiepenheuer); ganz nahe aber der hier unbekannte Paul Alverdes mit seiner Erzählung „Die Pfeiferstube“ (Rütten und Löning): Vier Soldaten liegen im selben Lazarettraum; jeder mit einem Kehlschuß, jeder mit einer Kanüle, weshalb man sie die Pfeifer nennt. Erlebnis, von tragischer Heiterkeit überschimmert, macht die Katastrophenstubenluft atembar und rein. Von der Front in die malträtierten Städte führt Alfred Polgars „Hinterland“ (Rowohlt); die unheimliche Zeit in einem Spiegel von unheimlicher Schärfe aufgefangen. Mehr an „Großer Zeit“-Lektüre mag dem überfütterten Magen abträglich sein.

Der Bücherfreund: Und die bedeutenden Romane dieses Jahres?

Der völkische Beobachter: Deutsche, respektive heimische Romane!

Der Kritiker: Einverstanden. Ich will diesmal ausschließlich von der deutschen Hervorbringung sprechen, weil ich überzeugt bin, daß das rapid um sich greifende Übersetzergeschäft, das sich der fremden Produktion wahllos bemächtigt und (oft um der Fremdheit willen) Beachtung findet, auf das normale Maß zurückgeführt werden muß: auf die Welt- und die europäischen Erzeugnisse. Mittelware erzeugen wir selbst übergenug… Unter den deutschen Romanen dieses Jahres aber halte ich Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (S. Fischer) für den bedeutendsten. Hier wird die Existenz eines simplen Franz Biberkopf, der auf dem Alexanderplatz zu Berlin als Gassenhändler Posto saß, Punkt für Punkt geschildert. Genial geschildert. Ehe er herkam, um Pfennigware zu verkaufen, befand er sich im Strafhaus, nun aber will er’s gut machen, ein anständiger Kerl werden. Glückt das von heute auf morgen? Wird ethische Theorie praktisch honoriert? Armseliger Eckensteher Biberkopf! Berlin frißt dich auf. Keiner hat Berlin bisher mit solchem harten Griff gepackt und in ein Buch geschleudert. Da ist die Kolossalstadt mit ihren Hintergründen, mit ihren Abgründen. So halt, wie sie ist: Unerhörte Kunstleistung eines oft fehlgegangenen Dichters. Auf Franz Werfels Barbara (Zsolnay) und ihren österreichisch-dokumentarischen Wert habe ich vor kurzem hingewiesen. Auch Leonhard Franks Bruder und Schwester (Insel) sollte man lesen. Das Buch, das heikle Motiv der Geschwisterliebe gestaltend, zeigt alle Vorzüge des in Wien nicht genug geschätzten Dichters: die Vehemenz und Zartheit des Gefühls; die Reinheit und Reife der barmherzigen Menschenbetrachtung; den Mut zum Ungeschminkten, das trotzdem keusch bleibt. René Schickele hat mit dem Roman „Symphonie für Jazz“ (S. Fischer) ein Heute-Thema geistig bewältigt und faszinierend dargestellt; Klaus Mann in „Alexander“ (S. Fischer) eine historische Figur mit Laune, Leichtigkeit (nicht überall mit Kraft) vergegenwärtigt, ihr Utopisches sinnbildlich übersteigernd; Heinrich Eduard Jacob in „Blut und Zelluloid“ (Rowohlt) seltene stilistische Anmut an einen parteilos und durchaus geistig-dichterisch geformten Parteienstoff gewandt. Von Romanen nenne ich noch: Robert Neumann: Sintflut (Engelhorn); Joseph Roth: Rechts und Links (Kiepenheuer); Arnold Ulitz: „Aufruhr der Kinder“ (Propyläen), Hans Schoharczewer: Menschen nach dem Krieg (Zsolnay); Béla Balazs: Zwei gehen in die Welt (Rütten und Löning). Und an Novellen: Heinrich Manns Sie sind jung (Zsolnay): Quer- und Tiefschnitt des hellsichtigsten geistigen Sezierens der Generationen; Bruno Franks „Der Magier“ (Rowohlt): souverän vorgetragene, typisch gedeutete Max Reinhardt-Geschichte. Dann: Wilhelm Speyer: Sonderlinge (Rowohlt): zwei junge Autoren, beide fähig: Hermann Kesten: Die Liebesehe (Kiepenheuer); Oskar Walter Cisek: Die Tartarin (Enoch). Endlich Felix Brauns Die Heilung der Kinder (Speidel) und Marieluise Fleißers wesentliche Kurzgeschichten: Ein Pfund Orangen (Kiepenheuer).

Der völkische Beobachter: Wie steht es mit der vaterländischen Lyrik?

Der Kritiker: Es ist freundlich, daß Sie mich darauf aufmerksam machen. Doch fürchte ich, Ihnen hierin nicht ganz zu Gefallen zu sein. Denn nicht so sehr um „vaterländisch“ als um Lyrik handelt es sich. Nicht um Klingklang, sondern um Gloria! Um jene ewige Visionswelt der Gedichte, die aus den Abgründen des Profits, der inneren Armseligkeit, des reklametrommelnden Betriebs und des Bankerotts der Treiber inselhaft emporsteigt.

Der Bücherfreund: Ist es nicht merkwürdig, daß sich noch immer Menschen finden, die Gedichte machen! Gedichte werden doch nicht gekauft?

Der Kritiker: Sie haben recht. Es ist merkwürdig. Es ist sogar bewunderungswürdig, daß es wieder Menschen gibt, die Ahnungen zu Gedichten werden lassen. Sonderbare Leute. Ihre Augen taugen nichts: sie sind zu hellsichtig. Ihr Gehör taugt nichts; sie hören ja nicht einmal, daß man brüllen muß, damit man vernehmlich sei. Denken Sie etwa an das Buch der Gedichte von Anton Wildgans (Staackmann): Ein herrliches Buch! Auch Rudolf G. Bindings „Ausgewählte und Neue Gedichte“ (Rütten und Löning) müßte man besitzen. Nicht nachdrücklich genug kann ich die Aufmerksamkeit auf diesen edlen Dichter lenken, der hierzulande ungeachtet seiner sechzig Jahre fast unbemerkt blieb: ein Prosakünstler ersten Ranges (ich kenne kaum eine schönere Lebensbeschreibung als sein „Erlebtes Leben“), ein Verskünstler von magischer, weil visionärer Wortmacht. Dann liegen Hermann Hesses bitter-zarte, erlittene Gedichte Trost der Nacht vor (S. Fischer): wortgewordene Seele. Absoluter Gegensatz dazu: Walter Mehrings Lieder und Chansons (S. Fischer), die man als Kulturgeschichte des Couplets ansprechen kann. Die Mitte zwischen Seele und Brettel hält der junge Österreicher Victor Wittner, dessen „Mann zwischen Spiegel und Fenster“ (Zsolnay) seinen Standort richtig wählt: er sieht die Zeit und das Zeitlose, den Körper und doch auch den Körperwahn. Hier spricht ein echtes Talent, und, was entscheidet, seine eigene Sprache.

Der Bücherfreund: Gibt es nicht neue Bücher, die jedem, ohne Unterschied der ästhetischen Forderung, gefallen?

Der Kritiker: Jawohl. Es gibt die Bücher von Paul Eipper. Seiner berühmt gewordenen Sammlung Tiere sehen Dich an hat er (bei Dietrich Reimer) Menschenkinder und jüngst Tierkinder folgen lassen: dem Holdesten, Kind und Tier, mit entzückenden Bildern, mit feinen, fühlenden Worten alle Bezauberung und Holdheit wahrend.

Der Bücherfreund: Wie steht es mit den Biographien? So viel ich weiß, ist es Emil Ludwig, der hier Schule gemacht hat?

Der Kritiker: Ludwig hat diesmal einen (Rowohlt) auf den Markt gebracht. Höher stelle ich Jakob Wassermanns Michelangelo, Christoph Columbus“(S. Fischer) als grandiose Schilderung und Deutung. Stefan Zweigs Joseph Fouché (Insel), Otto Flakes Ulrich von Hutten (S. Fischer) sind desgleichen porträtierende Leistungen von höchster Intensität der Farbe und des durchschauenden bildnerischen Blicks. Annette Kolb unternahm einen geglückten Versuch über Briand (Rowohlt), Rudolf Olden errichtete mit Stresemann (Rowohlt) ein literarisches Denkmal, das Dauer haben wird. In diesem Zusammenhang: Ernst Heilborns durch Objektivität und Urteil ausgezeichnetes kulturpsychologisches Werk „Zwischen zwei Revolutionen“ (Otto Elsner), René Fülöp-Millers „Macht und Geheimnis der Jesuiten“ (Grethlein), das verschwenderisch viel Material fesselnd formuliert. Zum Schluß ein paar grundsätzliche Worte über Ernst Glaesers „Fazit“ (Enoch), eine Auswahl von Zeitungsaufsätzen verschiedener Autoren: Das Gesammelte ist zum größten Teil vorzüglich, dagegen die (von vielen geteilte) Meinung des Herausgebers: „Bericht“ sei die Stilforderung an den heutigen Schriftsteller, in dieser Ausschließlichkeit unhaltbar. Darüber wird bei Gelegenheit mehr zu sagen sein, weil es ein tiefgehender Irrtum ist. Für heute nur so viel, daß es zwar dem Journalisten genügen müßte, „zu berichten“, nicht aber dem Schriftsteller, der immer zu berichten, doch das Berichtete auch immer zu gestalten hat. Ungestalteter Bericht bleibt Reportage. Sie hat mit Kunst nichts zu schaffen, während der wahre Schriftsteller (auch wenn er über Schotter schreibt) unaufhörlich an sie gebunden bleibt. Mithin bedeutet zwar die Abmagerung wilder Reportage zum Bericht eine notwendige Gewichtszunahme der Zeitungsgeltung. Doch die Aufplusterung des Berichts zur schriftstellerischen Sendung wäre die Schwindsucht des Gestaltertums.

Der völkische Beobachter: Sie sind schon fertig? Und man hat mir gesagt, daß heuer etwa 3000 neue Bücher erschienen sind! Wie viele haben Sie da ausgelassen!

Der Kritiker: 2966. Ich sagte Ihnen ja schon: meine höchst subjektive Auswahl erhebt nicht den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Bloß auf Wert.

In: Neue Freie Presse, 18.12.1929, S. 1-3

Franz Eichert: Eine neue Revolution für die Literatur (1918)

Daß die Entwicklung des modernen Geisteslebens nicht mehr in ruhiger, gerader, auf- oder absteigender Linie, sondern in fieberhaften Zuckungen und Umschlägen von einem Extrem ins andere, in unberechenbaren Zickzackbewegungen erfolgt, das ist aus der Umsturzbewegung, die sich soeben in unserer deutschen Literatur vollzieht, überaus klar ersichtlich. Bis jetzt haben freilich nur diejenigen, die sich berufsmäßig mit der Literatur befassen, die volle Erkenntnis von der Tragweite der Umwälzung, die sich allerdings laut genug, unter großem Lärm und Geschrei, ganz wie ein Kurssturz auf der Börse und ganz wie dort unter semitischer Führung und Prägung vollzieht. Wenn trotz dieses aufdringlichen Geschreis die Mehrzahl der Nichtliteraten, auch der auf anderen Gebieten geistig schaffenden Oberschicht, vom Umfang und Wesen dieser Umwälzung noch keinen klaren Begriff hat, so ist das leicht zu erklären. Die Literatur ist nämlich längst nicht mehr wie in jenen Zeiten, die nach Goethe allein schaffend und fruchtbar sind, eine Angelegenheit des ganzen Volkes, sondern eines verhältnismäßig sehr kleinen Kreises, der den Ton angibt und durch die Presse die lauttönenden Tagesbefehle ausgibt, die den Massen der Nichteingeweihten ihr literarisches Glaubensbekenntnis vorschreiben. Nur der alleinberechtigten Kritikerkaste ist heute das Recht vorbehalten, sich über literarische Neuerscheinungen ein eigenes Urteil zu bilden – die anderen bekommen das fertige Meinungsragout in der Morgenzeitung vorgesetzt und haben nur die Aufgabe, es dann gelegentlich wieder von sich zu geben und dadurch jene „kompakte“, von einigen wenigen Schlauköpfen geschaffene und regierte literarische Tagesmeinung zu bilden, gegen die anzukämpfen auch das Genie eines Goethe, eines Dante, eines Shakespeare ohnmächtig wäre,  wenn diese Gewaltigen heute lebten und darauf angewiesen wären, ihre Kunst ohne Beihilfe oder gar gegen den Willen der heutigen Macher aller literarischen Berühmtheiten durchzusetzen.

Es ist kein Wunder, daß unter solchen Verhältnissen, wo ein kleiner Kreis literarischer Auguren entscheidet, was die große Mehrheit des Volkes als „einzig wahre“ Kunst hinzunehmen hat, was ihr gefallen, was sie lesen soll, die lebendige Anteilnahme der Nation am literarischen Leben immer mehr verflacht und sich immer mehr und mehr auf die tägliche Massenfütterung mit saft- und kraftloser Unterhaltungsliteratur beschränkt, die keinen anderen Nutzen hat, als daß sie die Zeit totschlagen hilft, dafür aber unberechenbaren Schaden stiftet. So wird es begreiflich, daß auch von der neuesten Revolution, die sich soeben auf dem Gebiete der Literatur vollzieht, die Wenigsten eine richtige, auf eigenes, unbeeinflußtes Urteil gegründete Vorstellung haben.

Daß es keine Übertreibung ist, von einer sich vollziehenden „Revolution“ in der Literatur zu sprechen, ähnlich derjenigen, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sich vollzog — nur noch einschneidender in ihren Folgen — bestätigt u. a. ein so gewissenhaft und ruhig urteilender Fachgelehrter wie Oskar Walzel. In der Zeitschrift „Deutscher Wille“ (früher „Kunstwart“) fällt er das schwerwiegende Urteil: „Mag die neue Kunst Expressionismus oder wie immer heißen, Tatsache ist, daß sich seit dem Beginn der naturalistischen Bewegung keine gleich entschiedene Umkehr eingestellt hat. Es fragt sich, ob nicht heute ein noch viel größerer Gegensatz von einst und jetzt waltet als um 1830…“ Er mißt dann die Größe dieses Gegensatzes an seiner notwendigen Folge, an der völligen Umwertung der Werte, die sich in unserer Literatur vollzieht und in der gänzlichen Verwerfung und Geringschätzung der literarischen Größen von gestern, namentlich des Hauptvertreters der Eindruckskunst. Gerhart Hauptmann, endlich in der Wiedergeburt fast gänzlich Vergessener, wie in der Entdeckung und Ausrufung ganz neuer Talente ihren naturgemäßen Eindruck findet.

Es ist beinahe unmöglich, in einem räumlich so beschränkten Rahmen, wie hier, den Wesensunterschied zwischen der Kunst von gestern und von heute, zwischen „Impressionismus“ und „Expressionismus“, zwischen Eindruckskunst und Ausdruckskunst — mit diesen Schlagworten wird der Gegensatz für die Wissenden gewöhnlich bezeichnet — allgemein verständlich darzulegen. Um aus dem, was mit ein paar Worten gesagt werden kann, die richtigen Schlüsse zu ziehen und die richtigen Begriff abzuleiten, muß man eben mit dem Gange der literarischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ziemlich vertraut sein; man muß davon nicht bloß das wissen, was die einzelnen „Richtungen“ und Parteien in ihren volltönenden Programmschriften verkündigten, was die Zeitungen gelegentlich über irgend eine literarische Teilerscheinung berichteten, man muß wenigstens eine Ahnung von den inneren Zusammenhängen und tieferen Gründen der Einzelerscheinungen haben, deren Vielheit und Gegensätzlichkeit unser literarisches Leben äußerlich als ein unentwirrbares Chaos erscheinen läßt.

Das Beste wird Wohl sein, sich nicht in spitzfindigen Untersuchungen des Wesens und des Gegensatzes beider Kunstrichtungen zu erschöpfen, sondern lieber die praktischen Forderungen reden zu lassen, die sich daraus ergeben und in ihrer völligen Gegensätzlichkeit am besten den Abstand beider Richtungen kennzeichnen.

Auch solchen, die sich um literarische Streitfragen bisher sehr wenig kümmerten, drängt sich gewiß eine Erinnerung auf: an den ausdauernd auf allen Linien mit größter Erbitterung geführten Kampf gegen die Zweck-, wie man mit einem höhnischen Unterton gewöhnlich sagte: „Tendenzkunst“. Die Lehre, daß die Kunst sich Selbstzweck sei und keinen außer ihr liegenden Zweck, keine „Tendenz“ haben dürfte, das Grunddogma der modernen Ästhetik; und mit einer solchen Sicherheit, mit einem so außergewöhnlichen Aufwande von Stimmitteln wurde diese Lehre als eins selbstverständliche, mit Anrecht auf immerwährende Geltung auftretende Forderung, ja als der Angelpunkt einer geläuterten Kunstlehre hingestellt, daß der suggestiven Wirkung dieses Behauptens auch ein Großteil der katholischen Intelligenz erlag und der Kampf gegen die Tendenz ebenfalls auf seine Fahne schrieb. Man muß freilich zugeben, daß bei der außerordentlichen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Wortes über das Wesen und den Begriff der „Tendenz“ zwischen den katholischen und nichtkathoIischen Wortführern in diesem Kampfe erhebliche Unterschiede festzustellen waren — aber es war doch unzweifelhaft ein Eindringen von ursprünglich fremden, auf einem ganz anderen Boden erwachsenen Ideen in den Bereich des katholischen Geisteslebens. Gewiß, auch die katholische Kunstlehre kennt den Begriff einer wirklich kunstfeindlichen, unter allen Umständen zu bekämpfenden Tendenz; aber die Ursache der aus diesen Kämpfen sich ergebenden Schwierigkeiten und Mißverständnisse dürfte darin zu suchen sein, daß einerseits die katholischen Wortführer nicht immer ganz unmißverständlich den Begriff der tatsächlich kunstfeindlichen, deshalb zu bekämpfenden Tendenz klarlegten, während anderseits, auf nichtkatholischer Seite, der Kampf gegen die Tendenz in seiner tatsächlichen praktischen Auswirkung immer ausschließlicher zu einem Kampfe gegen die gesunde, ethisch und religiös aufbauende, also gegen die positivchristliche und namentlich die katholische Literatur sich auswuchs. Tatsache ist es, daß auch während der Zeit des größten Tendenzgeschreis auf der anderen Seite eine ausgesprochene antichristliche, antikatholische Tendenzliteratur nicht nur blühte, sondern auch von den größten Schreiern gegen die Tendenz gehegt und gepflegt wurde und daß es niemandem einfiel, ihren Vertretern den durch laute Reklame billig erworbenen Künstlerruhm zu schmälern oder streitig zu machen.

Die neue, im Werden begriffene Kunst, der „Expressionismus“, hat nun mit dem Glauben an das allein seligmachende Dogma, daß ein Kunstwerk keinen andern als den in sich selbst ruhenden Zweck verfolgen dürfe, gründlich aufgeräumt. Einer der Wortführer der neuen Richtung, Hans Natonek, erklärt klipp und klar in der Frankfurter Zeitung:

 „In der Literatur und Kunst äußert sich die neue Zeitströmung in der Überwindung jener Anschauung, die das Kunstwerk als Selbstzweck wertet. Kunst ist mehr als ein Spiel ästhetischer Gesetze, mehr als ein schönes, unterhaltendes Kaleidoskop der Formen. Auch die Kunst soll etwas wollen. Die Nachahmung der Wirklichkeit (Naturalismus) und die psychologisch feine Wiedergabe von Eindrücken (Impressionismus) blieben ohne gestaltende Wirkung auf das Leben. Die Kunst unserer Zeit hat, wie nie zuvor, ethische Ziele. Der Schaffende, ein paradiesisches Menschheitsglück vor Augen, leidet unendlich an der Verirrung der Welt; er weiß tiefinnerst um das Übel; aus diesem Wissen bricht ohne Hemmung der Schrei der Seele. Dies etwa ist ungefähr das Wesen des vielgenannten Expressionismus.“

Und diese jungen Dichter — das muß man ihnen lassen — packen mit anerkennenswertem Mute den Stier gleich bei den Hörnern an — sie stürzen sich über Hals und Kopf in den Strom der Tagespolitik, wo er am wildesten tobt — sie wollen die Welt „durch den Geist“ umgestalten und zu diesem Zwecke bedienen sie sich, wie Theodor Seidenfaden im Gral ausführt, der Dichtkunst, „um politisch zu wirken, um den Menschen zur Tat fortzureißen, ihn gegen sich selbst aufzuwiegeln“.

Ja, man geht so weit zu behaupten: Die Tendenz, die Durchdringung des Kunstwertes mit entschiedenstem Zweckbewußtsein, seine gewollte Einstellung auf ethische, religiöse, politische Wirkung ist nicht nur erlaubt, sie ist sogar notwendig und die Kunst, die davon absieht, ist keine wahre Kunst, ist überhaupt keine Kunst, sondern leere Spielerei ohne Lebenszweck und ohne wirklichen Wert.

Um diese völlige Umkehr der bislang als unantastbar geltenden Kunstbegriffe zu verstehen, muß man wissen, daß die neue Kunst von ihren Aposteln und Jüngern als der schroffste Gegensatz zu der bisher alleinherrschenden Kunst des Materialismus, der nur durch die Sinne wirkenden Eindruckskunst, aufgefaßt wird. Also eine Kunst des „Psychismus“. — „Die Kunst schreit nach dem Geiste“, sagt einer ihrer Vertreter, das ist der Expressionismus.“ Und weiter: „Der Expressionismus will (im Gegensatz zum Impressionismus) nicht mehr das vorüberhuschend Sinnliche, sondern das Ewige, das Wahre, das Geistige erfassen.“ Also keine bloße Formkunst, sondern Inhaltskunst; keine müde, versonnene, blasierte Ästhetenkunst, sondern tatkräftige, „aktivistische“, stark ins Leben eingreifende Kunst der Starken, der Wirkenden: der Ethiker, Politiker und Religionsstifter. Nicht Kunst der Dekadenz, sondern — wenigstens dem Wollen nach — Kunst des Aufstieges, der Erhebung.

 Da werden nun manche Leser sagen: das klingt ja ganz schön, ganz ähnliche Worte und Anschauungen haben wir ja des öfteren von katholischer Seite gehört, namentlich von jenen, die sich mit dem materialistischen, dekadenten, hauptsächlich sinnlichen Genuß suchenden und fördernden Zuge im Kunstleben der letzten Jahrzehnte nie so recht befreunden wollte. Das ist unzweifelhaft richtig. Namentlich Kralik und feine Freunde haben immer mit größter Entschiedenheit behauptet, daß die Kunst etwas zu wollen habe, daß sie nicht bloß ästhetisches Gefallen, sondern darüber hinaus ethische, religiöse, bis zu einem gewissen Grade auch politische Ziele anzustreben habe; daß wahre Kunst nicht bloße Formspielerei, sondern Inhaltskunst sein müsse, daß sie nicht bloß der Erde, dem Diesseits, sondern ewigen Ideen, letzten Endes der Verherrlichung Gottes und der göttlichen Weltordnung zu dienen habe, also nicht im Materialismus versinken, sondern Innen-, Seelen-, Ewigkeitskunst sein müsse.

Nun stehen wir aber am entscheidenden Wendepunkt. Der Geist, nach dem die neue Kunst schreit, von dem sie sich erfüllen lassen, dem sie dienen, den sie in ihren Schöpfungen Ausdruck verleihen will — es ist nicht der Geist Gottes, der ordnend und gestaltend über dem Chaos schwebt, sondern der Geist seines Widersachers, der Geist, der stets verneint.

Davon spreche ich in einem später folgenden Aufsatze.

In: Reichspost, 7.8.1918, S. 1-2.

Hugo Bettauer: Wie man einen Roman schreibt (1923)

             Es gibt Anleitungen zur Herstellung von Schuhen im Hause, es gibt Kochbücher und Broschüren „Wie schreibt man einen Film?“ Aber, es gibt noch immer keinen praktischen Wegweiser zur Erzeugung von Romanen. Und gerade das scheint einem dringenden Bedürfnis zu entsprechen, wenigstens wird jeder, der Romane schreibt, mehrmals täglich von seinen Bekannten gefragt, wie man das eigentlich macht. Ganz Kluge fragen, ob man das alles selbst erlebt habe, andere halten alles kurzweg für Schwindel, manche blinzeln mit den Augen und meinen: „Aha, da hat Ihnen jemand den Stoff gegeben?“ Man wird gefragt, wie lange man die Idee zu einem Roman mit sich herumtrage, wie viel Stunden täglich man schreibt und ein Mann mit einem blonden Vollbart sagte: „Nicht wahr, ein Roman kann man nur schreiben, wenn man täglich ein paar Stunden im Freien umherläuft?“ „Nein“, erwiderte ich, „dann kann man überhaupt nicht schreiben, weil man den Rest des Tages zum Essen verwenden müßte.“

             Aber wie schreibt man wirklich einen Roman? Ich kann die hundertzehn Rezepte hier nicht veröffentlichen, aber immerhin stelle ich eine kleine Auswahl zur Verfügung. Zuerst muß man sich entschließen, ob man einen historischen, humoristischen, phantastischen, einen aktuellen oder gar einen Konjunkturroman schreiben will. Vor historischen und humoristischen sei gewarnt, Sie sind langweilig und außerdem stellt sich nachher gewöhnlich heraus, daß sie schon ein anderer vorher geschrieben hat. Für den aktuellen gehört eine tüchtige Stenotypistin, weil er rasch fertig sein muß, der Konjunkturroman kann ein gutes Geschäft sein. Je nachdem, läßt man eine deutsche Frau im besetzten Gebiet von schwarzen Unholden ermorden oder man tritt gegen den Mutterschaftszwang ein, für die gleichgeschlechtliche Liebe, für oder gegen die Republik. Man muß eine gute Witterung haben, um immer zu erraten, was die Leute wünschen. Den Familienroman kann man momentan nicht schreiben, weil auf ihn die Courths-Mahler ein deutsches Reichspatent genommen hat. Hingegen findet der erotische Roman noch immer seine Abnehmer, vorausgesetzt, daß in ihm die Erotik sanft verteilt ist. Im erotischen Roman muß unbedingt eine Verführung, eine Vergewaltigung, ein dämonisches Weib, ein perverser Lüftling, eine Berliner Bar und eine ausgesprochene Kokotte vorkommen. Hauptsache sind viele – – – -, gerade dann, wenn etwas passieren soll, weil das die Phantasie der braven Hausfrauen und jungen Mädchen, die die Hauptkonsumentinnen erotischer Romane sind, am angenehmsten anregt.

             Flau ist das Geschäft für den phantastischen Roman. Er hat mit dem Golem seinen Höhepunkt erreicht, konnte dann noch einige Jahre den Büchermarkt belästigen und interessiert heute keine Katz mehr. Für den, der es doch versuchen will, sei hier eine kleine Anleitung gegeben: Man versetze in die reale, dreidimensionale Welt irgend etwas vollständig Unmögliches. So zum Beispiel läßt man jemanden eine Glaskugel bekommen, die ihm die Ereignisse des nächsten Jahres verrät oder einen Regenschirm, der alle Wünsche erfüllt oder eine Tante, die Funken sprüht, wenn man sie kitzelt. Und der Held des Romanes, der die Glaskugel, den Regenschirm oder die Tante besitzt, bekommt dadurch eine ungeheure Macht, viele Millionen (Friedenswährung), alle Frauen, die ihm gefallen, bis ihm – warum erfährt der Leser nicht genau – mies wird und er sich umbringt. Es gibt aber da tausende Varianten, auch ganz moderne, zum Beispiel könnte ich mir eine Schreibmaschine vorstellen, die immer das Gegenteil von dem schreibt, was man will oder einen Gänsekiel mit magischen Ausstrahlungen oder einen Hühneraugenring, der, wenn man ihn auf der kleinen Zehe dreht, einen unsichtbar macht.

             Nun gibt es noch eine große Schwierigkeit zu überwinden. Wie werde ich breit? Was nützt einem der schönste Stoff, wenn aus ihm ein Feuilleton oder höchstens eine Novellette wird? Bücher sind heutzutage sehr teuer, der Käufer will für sein Geld etwas haben, 280 oder 300 Seiten sind das, was der Verleger von einem tüchtigen Romanschreiber verlangt. Es gibt da nun unter den Schriftstellern geradezu geniale Maßschreiber, die aus einem so kleinen Stoff einen so langen Roman herstellen können. Routiniers der epischen Breite. Ich kenne einen, der hervorragendes aus diesem Gebiete leistet. Aus einem Seufzer macht er eine ganze Seite, der kleinste Fehltritt wird zum Druckbogen. Hier ein Beispiel, aus dem man lernen kann:

             Man kann sagen: Adolf hatte mit Emmi um fünf Uhr Rendezvous. Da es erst vier Uhr war, ging er noch ins Kaffeehaus und schlug die Zeit mit der Lektüre der Hebammenzeitung tot.

             Der breite Epiker aber macht das so: „Adolf blieb stehen, knöpfte seinen Winterrock auf und zog seine Glashütte-Uhr, ein Geschenk seines Taufpaten. Die Zeiger wiesen auf vier. Also noch eine ganze Stunde. Volle sechzig Minuten mußte er warten, bevor er Emmi umarmen konnte. Was tun? Wie ekel ist doch das Leben, sagt sich Adolf und schlenderte langsam durch die Stadt, bis er zum Café Herrenhof kam. Zögernd überlegte er. Nur langsam entschloß er sich, das mit Menschen und Gerüchen erfüllte Lokal zu betreten. Er zwängte sich in die Drehtüre hinein, die ihm wie das Symbol der menschlichen Tretmühle erschien und stand unschlüssig inmitten des Stimmengewirres und Lichtermeeres. Adolf wählte einen kleinen Tisch in einer Ecke und klopfte nervös mit dem Siegelring, einem Geschenk seines verstorbenen Großonkels, der in Brünn einen Tuchhandel betrieben, auf die Marmorplatte. Einmal, zweimal, dreimal. Endlich kam der Kellner.“

             Weitere 2 Seiten vergehen mit der Schilderung der Bestellung, des Ankaufs einer Semmel für 520 Kronen (früher hat man einmal dafür zehn Ziegen und Shakespeare in Leder bekommen), endlich ist es beinahe fünf Uhr geworden und Adolf geht. Dies wird so geschildert:

             „Nervös erhob sich Adolf und griff nach seinem Hut. Bevor er ihn aufsetzte fuhr er mechanisch mit der Hand über den Filz, wobei er Emmis Bild vor sich sah. Dann nahm er den Winterrock vom Haken, schlüpfte behend in ihn hinein, zog die Handschuhe aus Antilopenleder an und verließ voll fröhlicher Erwartung das Kaffeehaus.“

             Macht man das so, so bekommt man unbedingt einen vollen, ganze Roman zusammen, einen Roman von 280 oder 300 Seiten, einen Roman, den man einen großen nennen kann.

             Lieber Leser, setz dich an den Schreibtisch, tue desgleichen, schreib einen Roman, aber schick ihn um Himmels Willen nicht etwa mir zur Beurteilung ein.

In: Der Morgen, 1.1.1923, S. 5.

Emil Szittya: (Die Reinigungsarbeit) [hs]. Mein Erlaß an die kunstpolitischen Bewegungen[1]. (1919)

I. (Die Reinigungsarbeit.)

Es ist Trudbefreiung, daß die Kunst aufhört, ein abstraktes Problem zu sein. Problematisieren war auf dem Gebiet der Kunst schon vom Dilettantismus diskreditiert. Das Zergrübeln über die Kunst (die Lebensatmen sein sollte) wurde immer zweck- und geschmackloser und konnte sich (dort, wo es noch etwas war) nur zu einem unsagbaren Sichauflehnen jammern.

(Weil zuviele Larven von gestern den Sucher vermummen, konnte alle Erfahrung und jedes Praktischwerden sich nur in Hinfälligkeiten häufen.)

II. (Über das Schnüffeln)

Kunstforschung, wenn sie sogar zur Litteratur wird, ist eigentlich ein verkappter Kunstsnobismus, in dem sich die von der Kunsttat Abseitigen in Ästhetenentfliehungen verketten. Kusntsnoberei ist abscheulich, weil sie sich nur von Kunstscharlatanerie nähren kann.

III. (Fort mit der Kunstkritik)

Kunstkritik baut sogar in ihrer raffiniertesten Form auf die Geringschätzung der Gegenwart. Es ist ein vom ewigen Zurückgreifen-Afgezehrtsein. Kunstkritik erdreist sich, die Kunsttat immer in die Vergangenheit zurückschrauben zu wollen.

IV. (Die Unverständlichkeit)

Es fehlt die Freude an der Gegenwart. Man freut sich nicht über jene, die ein Übermaß der Hingabe von bisher (mit Unrecht) Unbeachteten zu vergeben haben. Man freut sich nicht darüber, daß es in der Kunst Wunderahner gibt, deren Lebensnerv sich im Giftlefzenfluidum zerwühlt. //

(Die fiebernden Formbildner müssen durch das Unverständnis, das man ihnen als Dank gibt in Unräumlichkeiten erstarren.)

V. (Kunstliebe.)           

Kunstkritik ist von vornherein von Mißtrauen geschweißt. Statt Kunstkritik muß Kunstregistrieren kommen, denn dort, wo Kunstregistrieren zur wirklichen Kunst sich entfaltet, ist es Kunstliebe. Kunstliebe ist ein Sichhineinbetten in die Vielheiten eines organisch sich aufbauenden Weltkomplexes.

VI. (Fort mit den Kunstschulen, wenn sie auch expressionistisch sind.)

Man darf nicht das trotzig wilde Streben nach dem Zentrum der schwindenden Höhen, die einen von den Kunstrevieren aus erfüllen, von dem Standpunkt einer Schule betrachten. Sogar die revolutionärste Kunstschule muß auf einer Grammatik des Schauens basieren und will verhindern, daß man die Grenzenlosigkeit des Zuständlichen anschaulich bewegliche. Die Schule war immer daran schuld, daß viele große Künstler sich von dem Effekt des Zufalles beeinflussen ließen, um wenigstens auf Augenblicke das Wunder zu besitzen.

VII. (Kunst und Sozialismus)                                                                                                                                                  

Die wirkliche Kunst ist Lebenkneten und nicht Vomlebengeknetetsein.

VIII. (Die traurige Einsamkeit des Künstlers.)

Es ist ein zum Verzweifeln bringendes Schicksal, daß der Künstler, der sich mit seinem Leben und Weltgeschehniskneten an die Menschheit anheimeln will, durch deren Unverständnis das Anheimeln (wenn er nicht sozialistischer Agitator ist) fortwährend in sich tilgen muß.

IX. (Die Kunsttat.)

Psychologische Zergliederungen sind nicht mehr nötig. Nicht auf kritische Spitzfindigkeiten kommt es noch an. Nötig ist: Eine wirkliche Entlarvung! Künstler! Gebt einmal Bewußtseinsdokumente über Euch! Es war genug von dem Gleichnissumpf! Kunst muß aufhören, eine verschleierte Gottheit zu sein. Rücksichtslosigkeit!, aber auch gegen sich selbst.

Nicht von Zeitereignissen gelähmt sein! Nicht das Wirren treibender Kräfte sein. Es war viel zu viel von der kleinbürgerlich-optischen Kunstpose! Bewegungsfähige hatten zu lange Ethosruhepunkte, aus dem Zagen die Gegebenheit verschwenden // ließ. Man muß sich aufraffen zur Selbsteinheit und jede Persönlichkeitsphilosophie wird sich  in Einheitsbewußtsein erformen.

Aktivität beginnt, an nichts vorüberzugehen.Tiefschürfendes erhellend auswirken und das Anschauliche, das durch den wirklichen Künstler bewußt geschieht, in ein Kulturganzes ausbreiten und mit eigenem Blutmitschwingen zum Wahrheitsgenießen verinnerlichen.

In: Horizont-Hefte Nr. 5/1919, S. 1-3.


[1] Die Streichungen sind in dem im Literaturarchiv Marbach erhaltenen Horizont-Hefte-Exemplar von Szittya handschriftlich offenbar nach dem Druck des Heftes Nr. 5 angebracht worden.

Alfred Markowitz: Eroberung der Kunst (1928)

             Die Ansicht ist weit verbreitet, daß ein echtes Werk der bildenden Kunst nur ein solches sei, das auf alle gleichmäßig dieselbe starke Wirkung ausübe. Wenn diese Ansicht aus dem sozialen Gefühl stammt, das instinktiv verwirft, was anscheinend nur für wenige Auserwählte berechnet ist, so macht sie ihren Verfechtern alle Ehre. Wenn sich aber hinter ihr das Unvermögen verbirgt, ein über das Triviale hinaus reichendes Kunstwerk zu erfassen, so wird sie geradezu gefährlich, weil sie geeignet ist, die Allgemeinheit davon abzuhalten, sich die Kunst zu erobern, die ja tatsächlich nicht nur für wenige Auserwählte geschaffen wird, aber sich nicht ohne weiteres hingibt.

             Einen Schein von Berechtigung hat jene Ansicht allerdings. Es hat nämlich wirklich Zeiten gegeben, da die Kunst Gemeingut aller war. Das waren aber immer Zeiten, in denen sie sich auf die Darstellung eines verhältnismäßig kleinen Kreises bestimmter, allen gleich wertvoller, zumeist religiöser Gegenstände beschränkt hat; in dem Maße, als diese Gegenstände einem weiteren Kreis der mannigfachsten Gegenstände wichen, hörte die Kunst auf, Gemeingut aller zu sein. Daraus ist zu schließen, daß es in jenen Zeiten nicht so sehr die Kunst als solche, die Art ihrer Darstellungen, als vielmehr deren Gegenstand es war, der sie mit der Allgemeinheit verbunden hat. Freilich hat man immer gewisse Unterschiede gemacht zwischen den einzelnen Darstellungen desselben Gegenstandes; es mag wirkliches Gefühl für Kunstwerte gewesen sein, das manchen Darstellungen den Vorzug vor anderen gegeben hat. Aber dieses Gefühl reichte nicht hin, sich später über den Stoff zu erheben und sich Darstellungen jeglichen Inhalts zuwenden zu können.

             Vielleicht wird mancher hier denken, daß dies nicht zu bedauern sei, weil es eben gar nicht Aufgabe der bildenden Kunst sei, Gegenstände jeglicher Art, sondern nur solche darzustellen, die die Anschauung des Volkes verkörpern. Abgesehen davon, daß jeder Gegenstand, also auch einer, der die Ansichten des Volkes verkörpert, umso stärker wirkt, je mehr an Gefühl für seine künstlerische Gestaltung ihm entgegengebracht wird, ist dieser Gedanke schon aus dem Grund abzuweisen, weil sich die Kunst heute nicht mehr in die verhältnismäßig engen Grenzen einer Auffassung zwängen läßt. Die religiöse Weltanschauung von dereinst wurde gesprengt, weil die vielen, dem aufblühenden Geistesleben entspringenden neuen weltanschaulichen Ideen nicht mehr Platz in ihr fanden. Gewiß darf der Sozialist hoffen, daß der Sieg des Sozialismus an Stelle der längst verblühten religiösen Weltanschauung eine alle ergreifende, auch im Stofflichen sozialistische Kunst setzen wird. Allein die sozialistische Weltanschauung als die reife Frucht jener geistigen Bewegung // muß Platz gewähren allen wertvollen Ideen, die ihr zufließen aus der steigenden Erkenntnis der Natur und des Geisteslebens. Sie kann sich ihnen nicht verschließen, wie es die religiöse getan hat.

             Kunst ist Verkörperung von Weltanschauungen. Aber es ist auch Ausdruck einer Weltanschauung, wenn sie uns lebendes und totes Sein aller Art der gefühlsmäßigen Erkenntnis erschließt. Damit erfüllt sie eine Mission, die ihr erst recht im Rahmen des Sozialismus zukommt. Und darum kann sich unsere Kunst nicht mit der Darstellung jener Gegenstände bescheiden, die nur der politischen sozialistischen Gedankenwelt Ausdruck verleihen. Sie darf das auch nicht, weil glücklicherweise das Volk selbst nach immer größerer Bereicherung seiner Weltanschauung strebt.

             Eine Kunst, die nicht von vornherein durch ihren Gegenstand anzieht, sondern umgekehrt, mit ihren Ausdrucksmitteln erst zum Gegenstand führt, indem sie sein Wesen offenbart, ist nicht geeignet, ohne weiteres auf jedermann dieselbe Wirkung auszuüben. Das seelische Organ für die Aufnahme künstlerischer Ausdrucksformen bringt so gut wie jeder mit auf die Welt. Aber es funktioniert nur unzulänglich, wenn es nicht durch Übung geschult, ausgebildet und verfeinert wird. Die Kunst kann nicht mehr zurückkehren zu einem eng begrenzten, jedem von vornherein nahestehenden Stoffkreis. Soll sie wieder Gemeingut aller werden, so kann das daher nur geschehen durch eine Stärkung des Gefühles für die künstlerische Form, in der Gegenstände welcher Art immer dargestellt werden. Wie früher der Gegenstand zur Kunst, so muß nun die Kunst zum Gegenstand führen. Die Bereicherung der Weltanschauung  – das Wort in seiner buchstäblichen Bedeutung genommen – wird der Gewinn sein.

             Kunst wendet sich nicht an wenige Auserwählte. Jeder kann sie erobern, wenn er guten Willens ist. Es gehört nicht einmal allzuviel dazu. Jeder hat heute die Gelegenheit dazu. Auch die Sozialdemokratische Kunststelle bietet sie reichlich in ihren Ausstellungen »Kunst ins Volk«. Die Führung, die sie in diesen Ausstellungen veranstaltet, können die Selbstaneignung der Kunst nicht ersetzen, aber sie sind geeignet, Vorurteile zu zerstreuen und die Wege ins Reich der Kunst zu weisen.

In: Kunst und Volk, H. 2 (Okt.) 1928, S. 12-13.

Robert Müller: Die Geistrasse (1918)

             Der Kritiker des Aktivismus muß entweder selbst Aktivist sein oder er muß, um den Inhalt der Sammelflugschrift der Aktivisten zu erschöpfen, sich auf eine lange und geduldige Begleitung vorbereiten und mit seinem Urteil zuwarten („Tätiger Geist! Zweites der Zieljahrbücher“, herausgegeben von Kurt Hiller, Neuer Geist Verlag Leipzig) In einer Vision von Menschheit entrollt sich die nächste geschichtliche Aufwärtsbewegung der Gesellschaft. Der Aktivismus ist eine Emotion seelischer Grundtatsachen wie Gotik oder die Aufklärung. Er zentriert das Leben neu, und zwar nicht ohne seine Wirkungen unkontrolliert zu lassen wie der Dichter, von dem er abstammt, sondern mit einer entschieden undichterlichen Absicht, an Ort und Stelle zu wirken. Das Kunstwerk der Umwelt, die Formgewalt über das soziale Chaos, das sich hinter einem Schein des bürgerlichen Mechanismus zerspielt, sind die an ihm dem dichterischen Menschen entsprechenden Komplexe.

             Woraus entsprang der Aktivismus? Aus der Not der Geistigen an der Zeit. Sie fühlten sich so schlecht regiert wie nie. Da suchen sie selbst sich des Apparats zu bemächtigen. Nichts gefruchtet hat bis heute das Hungern und Hangen der Dichter. Bevor das Buch geschrieben würde, das, gelesen, die Welt ändern und Menschensinn bekehren soll, soll eine Welt entstehen durch das manifestierende Buch, in der Dichterbücher überhaupt richtig gelesen, Zwiesprache zwischen Denker und Denkendem gepflogen wird.

             Der Aktivist opfert sich für den Dichter auf, im besonderen für den Expressionisten. Er ist das fliegende Korps des Expressionismus. Die neuen Bücher werden kaum gelesen, nur besprochen, zuwenigsts nicht richtig gelesen; die neuen Bilder werden falsch gesehen. Um eine Welt zu ermöglichen, in der die Treuherzigkeit des Expressionisten ohne Gefahr für seine Person und sein Werk unbestochen bleiben kann, verzichtet der Aktivist auf das eigene Kunstwerk. Von seiner Resignation genährt, er gießt er sein Temperament in die sichtbarsten und unmittelbaren Formen aktuellen Daseins.

             Die Kunst stellt Tugenden fest. Sie gibt immer, wo sie mehr als Ergötzung, Entwicklungswinke. So stellt auch der Expressionismus Welt Formen dar, die erst nach Zersetzung, Liquidation, Elementararisierung der jetzigen möglich werden (Abbau der Sozialwelt) … der Expressionismus verbraucht zum ersten Male Voraussetzungen, die sich nicht als Änderungen innerhalb dieser bestehenden Weltform durchsetzen können. Er zeigt ein von den tektonischen Begriffen gelöstes Dasein. Politik des Geistes oder Aktivismus nun ist es, Die Welt bessernd so vorzubereiten, daß jene „Weltauflösung-Welt Synthese“, das heißt die Kulturdämmerung alles Heutigen eintreten kann. Die sympathetische Welt kann entstehen, sobald die gegenwärtige mechanische Ordnung, auf ihre Spitze getrieben, wieder unter das Bewußtsein sinkt uind Memnotechnikum wird. Der Expressionismus als die umfassende Erregung, die er ist, und er ist mehr als Bewegung… ist Drittes nach Gotik und Aufklärung…löst die Aufgabe, wie der analytische Typ, zu dem wir wurden, wieder lebens- und darstellungsfähig werden kann. Seine letzte Schlüssigkeit ist der Aktivist.  

Der  expressionistische Schriftsteller „behandelt“ keine Probleme, er hat keine „Psychologie“, keine soziale Formen usw. Er gewahrt alles nur im größten Verhältnis des Kosmos; er kennt die Welt als Welten. Ein Dasein auf dieser geistigen Stufe, wo alles nur Verhältnis sein würde, ist möglich. Aber es ist nicht früher möglich, bevor nicht diese bürgerliche, mechanistische Welt restlos erfüllt ist. Gerade der Expressionist mag vor solchem Mechanon zurückschrecken: der Aktivist wird ihn vor den Folgen feigen Grauens retten.     

             Der Aktivist ist eine Abspaltung des Expressionismus: seine rechte Hand. Er sucht zu vereinfachen, sucht die Politik mit den natürlichen Mitteln des künstlerischen Schaffens auf die Höhe der höchsten schöpferischen Werke zu heben. Der landläufige Berufspolitiker wirft ihm vor, daß er den politischen Apparat durch Forderungen verwickle, die aus der Literatur bezogen sind. Aber er fordert nichts anderes, als daß Politik zumindest ebenso reinlich aus dem Menschen quelle wie Kunst. Er verlangt, unsere Politik sei simpel und klar. Wichtiger ist der Argwohn und Vorwurf seines expressionistischen Bruders, daß er sich dabei versimpele. Der Aktivist antwortet mit Recht zurück, was anderes denn der Expressionismus sei, als die ausgreifendste bisher mögliche Vereinfachung, wenn nicht die Philister über ihn Recht behalten sollen, die ihn konfus und kompliziert schelten. Der Hebel ist zwar später und hirnlicher als der Kraftumweg vor dem Hebel und mag Troglodyten als beängstigend komplizierte Zumutung auf Dauer erschienen sein. Aber niemand leugnet, daß durch diesen Rechenakt eine Vereinfachung eingeführt ist. Jedes Kunstwerk ist ein solcher Hebel, Energieersparnis durch schöpferischen Kraftauswand an der Wurzel, in der Seele. Der Aktivist ist überall für den Hebel. Der Verwahrung einlegende Dichter steht zum Aktivisten im Verhältnis des Philisters zum Dichter.

             Der Aktivist verkündet die Religion des Bewußtseins. Er ist Rationalist. Unterscheide aber genau zwischen der Ratio des Erkenntnisphilosophischen und der Ratio des Willensphilosophischen. Der Rationalist hält es natürlich erkenntnishaft gar nicht mit der Schulweisheit Horatios, sondern mit dem visionären Hamlet. Was ich erkenne, kann Wissenschaft nicht restlos herbeischaffen. Überwelten sind mit dem System von Hierweltorganen unfaßlich. Im zu Wollenden aber den Hang, vor der Tat die roheste Tatnotdurft walten zu lassen, ist Alchymie, leeres Goldsuchen, kurz, eine Sauerei. Bescheiden im Bewerten seiner Kenntnis und Erkenntnis, souverän und alles zwingend im Augenblick formschaffenden Wollens sie die schöne Klarheit des sich verantwortlichen geistigen Menschen.

             Bewußtseinstatsachen mögen Weltausschnitt der Welt sein: so ist die Tatsache des Bewußtseins niemals mehr zu schänden, abzuschwächen, zu diskreditieren.

             Es kündet sich ein Prozeß an, der in einer Arche gleichsam die Überlebenden des Bewußtseins rettet und zu einer neuen Geistrasse verdichtet. Wie die Amerikanisierung, ist einfach ein Prozeß der Vergeistigung auf dem Erdstern möglich, der von dieser Rasse aus der Arche ausgehen soll. Der Aktivist ist es, der diesen Prozeß vorbewußt ahnt und bewußt anspornt. Er müht sich um die Aufforstung des Menschen. Nur zu diesem Zweck schreibt der Aktivist.

             Der Aktivist will: 1. Gut schreiben – Er schreibt ausgezeichnet. 2. Gutes schreiben. Er schreibt Dinge, die ebenso genießbar, erbaulich als herzensfreundlich gemeint sind. Er will das Gute schreiben. – Erst von hier an entsteht in ihm der Widerspruch des Bürgers und dessen Korrelats, des Dichters. Aber der Aktivist will Aktivismus nur so lange schreiben, als es notwendig ist, die Menschen zu erziehen, bis sie Aktivisten sind. Aktivisten untereinander gibt es nicht. Dichter untereinander gibt es. Aktivisten gibt es nur nach außen hin; untereinander sind es Dichter.

             Die aktivistische Literatur ist vor allem eine Lektüre für Politiker und Dichter: also für alle. Denn jeder reine, sittliche, in den Anlagen unverdorbene Mensch ist ebenso Politiker wie Dichter, jeder. Das kleinste Publikum des Aktivisten, der in deutscher Sprache schreibt, ist das deutsche Volk. Aber in Deutschland war Politik bisher die Angelegenheit einer Kaste, einer Herrenrasse. Seit dreißig Jahren sind Deutsche assimilierte Preußen. Es ist ein Kriegsgewinnertypus. Er hat alles im Kriege, auch den Krieg selbst zu gewinnen. Er verliert alles außerhalb seiner. Daß Kampf für die Idee sittlich ist, leugnet nur – der Militär. Diesem ist nur der Gehorsam sittlich. Die Idee ist revolutionär, also unsittlich. Es gibt in Deutschland keinen Zusammenschluß, dessen Programm gegen die herrschenden berüchtigten Zustände so ganz auf integrer Vernunft und allem Gesunden zugänglicher Selbstverständlichkeit ruht wie der Aktivismus. Der Aktivist ist der stärkste Anwärter auf eine erledigte Politikstelle in Deutschland. Seine lose Gruppe ist der inneren Spannung nach die mächtigste Partei eines künftigen Reiches. Die Sozialdemokratie war ihr schwacher Vorabklatsch. Nur die Fabians in England können mit ihm verglichen werden. Die Gruppe ist Reservoir für die politischen Typen der allernächsten Zeit. Die Menschheitstribunen des zweiten Jahrtausends gehen aus ihr hervor. Wir treten in den absoluten Erdkulturkreis der Geschichte ein. Nein, „Weltgeschichte“ war Vorarbeit.

             Die praktischen Forderungen des Aktivismus lesen sich gar nicht deutsch. Sie klingen in ihrem Pathos romanisch. Das ist gut so. An die Stelle des Systemdeutschen wird, wie in aller Kulturwelt, wieder der Mensch der Schwungkraft treten, vermehrt um die deutsche Ratio, Impulsen den strenuosen Akt im Aufstellen von Systemen folgen lassen: um gleich darauf sie zu verwischen, wie man Hilfslinien auswischt. Vergessen, wie man schreiben und wie man Klavier gelernt hat, aber vorher üben und Etüden spielen, bis die Gelenke knacken. Es ist aktivistisch, ein Meister des Menschlichen zu sein, aus dem großen Ungefähr zu schaffen, aber sein Menschheitshandwerk durch und durch zu kennen. An die Stelle der Vorherrschaft einer Herrenrasse soll die umfassende Meisterrasse treten. Die Bestellung der Menschheit erfolge großzügig und nach modernen Betrieben.

             Aktivismus ist Gesetzgebung aus der Seele. Die deutsche Mystik, die deutsche Tüchtigkeit, der deutsche Schneid, die deutsche Musizität können hinfürder keinen Einzelanspruch auf Ethos haben; aber alle diese Tugenden haben in der neuen ihren Platz schon gefunden. Der Aktivismus, zum Schlusse, will eine Universalrasse begründen; sein Elan ist romanisch; das Endergebnis, die Rasse, wird deutsch im guten Sinn aussehen. Immer entsteht Deutsches aus allem anderen; nicht umgekehrt, durch Aufprägung, wie heute der annexionistische Philister in Deutschland meint. Der Aktivismus will, daß die Deutschen wieder deutsch würden. Die Weltrasse ist eine nationale Angelegenheit der Deutschen. Erst in ihr kann Deutschtum sich erfüllen, wenn es sich freilich, wie es heute ist, aufgegeben hat.

In: Daimon, H. 4 (August) 1918, S. 210-213[1]


[1] Anmerkung des Herausgebers (Originalfassung): Hier sei vorläufig festgestellt, daß die folgenden Ausführungen sich nicht mit dem Urteil des „Daimon“ decken. Unter dem Titel „Die Dialektik der Selbstverantwortung“ (An die Bekenner literarischer Religion und die Prediger tätigen Geistes) wird im Oktoberheft zum Aktivisten-Jahrbuch Stellung genommen werden. 

Hermann Bahr: Tagebuch: Dada-Almanach (1920)

             7. Oktober. „Dada-Almanach“, im Auftrag des Zentralamtes der deutschen Dada-Bewegung, herausgegeben von Richard Huelsenbeck (Erich Reiß Verlag Berlin). Darob so großes Entsetzen aller Seriösen, daß sogar dem Verleger selber bange wird und er eilends gelobt, es nicht wieder zu tun und bei diesem einen Anfall von Dadaismus bewenden zu lassen. Warum der Lärm? Ich sehe nicht, weshalb der Dadaismus schlechter sein und weniger Rechte haben soll als irgendein anderer unserer zahllosen Ismen. Er ist nur konsequenter und hat den Mut, bis ans Ende zu gehen, ans Ende der autonomen Vernunft! Wenn Huelsenbeck in seiner Einleitung zu diesem Almanach Dada „die große Parallelerscheinung zu den relativistischen Philosophen dieser Zeit“ nennt und erklärt, Dada sei „kein Axiom, sondern ein Geisteszustand“, Dada sei „der direkteste und lebendigste Ausdruck seiner Zeit“, so spricht er damit ohne jede Renommage ganz einfach die Wahrheit aus. Mir ist ja verwehrt, Dadaist zu werden, weil ich, mich von dieser Zeit abwendend, ein Finsterling geworden bin, weil ich glaube. Wer aber nicht an ein ewiges, übermenschliches, übernatürliches Reich des Wahren, Guten, Schönen glaubt, wer nicht an den lebendigen Gott glaubt, sondern höchstens allenfalls an einen aus menschlicher Vernunft geschnitzten, wer nicht an Vater, Schöpfer Himmels und der Erde glaubt, sondern Himmel und Erde vom Menschengeist erschaffen sein läßt, der ist absurd, wenn er die Notwendigkeit, Dadaist zu werden, verkennt; denn der Dadaist erst hat das Jenseits von Gut und Böse völlig erreicht. „Dada“, fährt Huelsenbeck in seinen Proklamationen fort, „läßt sich nicht durch ein System rechtfertigen, das mit einem „Du sollst“ an die Menschen heranträte. Dada ruht in sich und handelt aus sich, so wie die Sonne handelt, wenn sie am Himmel aufsteigt, oder wie wenn ein Baum wächst. Der Baum wächst, ohne wachsen zu wollen. Dada schiebt seinen Handlungen keine Motive unter, die ein Ziel verfolgen… Dada hat das Reich der Erfindungen entdeckt, von dem Friedrich Nietzsche spricht, er hat sich zum Parodisten der Weltgeschichte und zum Hanswurst gemacht.

Das ist ja wirklich das einzige, was dem Menschen übrig bleibt, sobald er sich von allem Sollen frei, sobald er seine Vernunft souverän erkärt. „Der Dadaist“, sagt Huelsenbeck, „ist der freieste Mensch der Erde. Ideologe ist der Mensch, der auf den Schwindel hereinfällt, den ihm sein eigener Intellekt vormacht, eine Idee, also das Symbol einer augenblicksapperzipierten Wirklichkeit habe absolute Realität.“ Durch den Dadaisten ist also zum erstenmal das finstere Mittelalter wirklich überwunden, die Gegensätze stehen einander nun rein gegenüber, Aug in Aug und jedermann kann wählen, ob er Finsterling oder Dadaist sein will; die feigen Kompromisse sind unmöglich geworden. Wer A sagt, muß auch B sagen: wer autonome Vernunft sagt, muß auch Dada sagen. Die Finsternis des Mittelalters bestand ja nämlich darin, daß es die Vernunft nicht herrschen ließ, sondern dienen, der Wahrheit dienen. Indem sich die Vernunft allmählich diesem Dienst entzog, um einem Knecht der Wahrheit ihr Herr zu werden, anerkennend, sondern fortan nach eigener Willkür dekretierend, was wahr, was schön, was gut sein soll, war es schon eigentlich nur noch ein Atavismus, überhaupt noch eine für alle gültige, für alle verbindliche Wahrheit anzunehmen und bald schaffte sich auch jedermann seine private zum eigenen Hausgebrauch selber an. Aber auch darin blieb noch ein atavistischer Rest: es gibt nämlich durchaus keinen Grund, warum diese von mir nur für mich allen zum eigenen Gebrauch angelegte Wahrheit deshalb nun irgendwie mich selber binden soll: ich kann sie doch jeden Augenblick mit einer neuen nach Belieben vertauschen, was auch viel amüsanter ist. Wenn Weltanschauung nicht Anschauung einer von mir unabhängigen Welt, nicht der Reflex eines Objekts in meinem Subjekt, nicht meine Relation zum Absoluten ist, wenn ungewiß ist, ob es eine solche Welt an sich ohne mich überhaupt gibt, wenn die Welt nur ein Geschöpf meines Intellekts ist, warum soll mein schöpferischer Intellekt sich dann mit einem einzigen Schöpfungsakt begnügen? Warum so faul? Warum nur einmal schaffen? Wenn sie bloß von meinem Intellekt ausgeschwitzt wird, warum dann nur ein einziges Exsudat? Und Dada tut aber auch noch den letzten großen Schritt, indem es den Intellekt zur Selbstbesinnung bringt: der Intellekt fällt jetzt auf den Schwindel, den er sich vormacht, selber nicht mehr herein! Damit ist die höchste Leistung der souveränen Vernunft erreicht, das Ende. Die Denkmöglichkeiten sind erschöpft, aller Dunst ist weggeblasen, ganz rein liegen die beiden Pole bloß: Plato und Dada stehen einander gegenüber und jedermann mag wählen. Der Selbstbetrug, gottlos und zugleich aber auch, als ob vielleicht doch Gott oder etwas Gottähnliches wäre, zu leben, ist unmöglich geworden. Und den braven Leuten, die sich vor dem Dadaismus entsetzt bekreuzigen, bliebe nichts anderes übrig, als damit wirklich Ernst, wirklich das Kreuz zu machen. Vernunft, vom Kreuz befreit, landet bei Dada…

In: Neues Wiener Journal, 31. 10. 1920, S. 6.

Hugo Huppert: Der Sprechchor und die proletarische Kunst (1925)

             Die proletarische Kunst ist ein Ausdruck des proletarischen Kampfes. Aber mehr noch, sie ist ein Mittel, die steht im Dienste dieses Kampfes selbst. Daraus leuchtet ein, daß sie nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Form und Gehalt dem Charakter des proletarischen Klassenkampfes entlehnt. Was ist nun das Kennzeichen dieses Kampfes, was unterscheidet seine allgemeine Taktik von der Kampfesweisen anderer Klassen und Gruppen? Die einmütige Bewegung der selbsttätigen Masse. Nicht ein Held, Erlöser, Drachentöter, Befreier, „kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“ wird den Kampf der Werktätigen um die Herrschaft und später um die klassenlose Gesellschaft entscheiden, sondern die Klasse selbst als kollektive Kampfformation, organisiert und geführt von der Partei der Revolution. So muß die proletarische Kunst zunächst schon der Struktur (dem Aufbau) der Klasse selbst entsprechen, der Klasse, wie sie lebt, arbeitet und kämpft.

             Wenn wir die Architektur (Baukunst) betrachten, die in ihrer praktischen Verbundenheit mit dem Wohnbedürfnis der Gesellschaftsklassen die Zusammenhänge zwischen dem wirtschaftlichen Unterbau und dem künstlerischen Ausdrucksleben einer Gesellschaftsordnung deutlicher als andere Kunstgattungen aufzeigt, so sehen wir folgendes: Im Wohnparadies der Großbourgeoisie, etwa im Cottageviertel von Währing, stehen ältere und neuere Villen und Einfamilienhäuser neben kleinen Palästen und schloßartigen Gartenhäuchen in ungleichen Abständen mit allerlei Gartenschmuck, wobei aber das Auffallendste die durchgängige Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit dieser Gebäude ist, von denen nicht zwei einander ähnlich sein wollen und im Wettbewerb um Eigenart, Besonderheit und „Apartheit“ zu den geschmacklosesten Mitteln greifen. In diesen Bauformen drückt sich der Persönlichkeitskult und der Individualismus des in der freien Konkurrenz der Einzelnen erzogenen bürgerlichen Denkens und Fühlens aus. Dieses plan- und regellose Durcheinander von Ungleichartigem, oft Widerspruchsvollem ist eben das baukünstlerische Abbild der Anarchie der Produktion, wie sie die kapitalistische Wirtschaft beherrscht. Vergleichen wir damit die ungeheuer gleichförmigen, geradlinig ausgerichteten Mauerblöcke der Vorstädte, diese hausgewordenen Raumquader, in welchen das Proletariat wohnt, so erkennen wir darin den kollektiven Zug und das Massenmaß, welches den Aufbau der Arbeiterklasse, ihre Kampfesweise und damit auch die proletarische Kunst kennzeichnet. Nicht um der Schönheit willen ist die Kunst geschaffen, sondern sie wächst aus der sozialen Not wie die Zinskasernen. Und so wandelt sich „Stil“, Geschmack und Schönheitsbegriff mit dem Wechsel der Gesellschaftsform, welche großen ökonomischen Gesetzen folgt.

             Ebenso wie die Riesenquader, Wolkenkratzer und Bienenhäuser dem sozialen Massenwohnen der Arbeiterklasse entsprechen, so entspricht der Epoche des revolutionären Massenaufzugs, der Straßendemonstration und des Straßenkampfes als sprachliches Ausdrucksmittel der Sprechchor. Die kollektiven Losungen der Partei des Proletariats sind der dem Sprechchor angeborene Stoff. Wie ist diese Kunstgattung entstanden? Wer am 25. März nach der Rote-Hilfe-Versammlung im Demonstrationszug über die Mariahilferstraße mitmarschiert ist und die Parolen des Tages im Marschtakt mitgerufen hat, der kennt durch eigene Erfahrung die Geburt des Sprechchors aus dem Kampf. Und als der erste Polizeikordon durchbrochen war, wie rasch und feurig kam im Rhythmus des anschwellenden Sprechchors wieder Ordnung und Geschlossenheit in den Zug! Wo die Starrheit des Marschliedes der vorwärtsstürmenden Bewegung inhaltlich nicht nachkommt, da ergreift der anpassungsfähigere Sprechchor die neue Parole. Und das der Parole entsteht das revolutionäre Gedicht.

             Eine Masse, in der jeder Einzelne sein Wort und seine Stimme hören will, kann nicht sprechen, sondern nur rauschen wie ein totes Element. Der brausende Wind und das rauschende Meer kann beherrscht werden. Aber eine sprechende, weil wollende Masse kann kein Herr beherrschen. Sprechen kann aber nur ein Chor, eine organisierte Masse. Und hier zeigt sich wieder die Einheit von Kunstform und Kampfesform des Proletariats. Der Sprechchor ist das ausdrucksvollste Musikinstrument der zum Kampf organisierten Masse.

             Wer sehen will, wie die kleinbürgerliche Verknöcherung der Sozialdemokratie bis in die ideologischen Höhen der Kunstteheorie hinaufsteigt, der lese, was Elise Karau in der Arbeiter-Zeitung vom 31. März zu sagen hat. Der Sprechchor, aus der antiken Tragödie hervorgegangen, ist nur da, um „proletarische Feste zu verschönern, ihnen eine neue Weihe zu geben…“, „zu unser aller Freue, frohes Fest mit tiefem Sinn…, ein stück Sozialismus, Festkultur der Zukunft! … wenn das Dichterwort: ‚Nur eine kleine Weile, dann habt ihr Zeit!‘ sich erfüllt haben wird.“ Ja, wir wissen, daß diese Stück-Sozialisten Zeit haben; und da wird’s doch dem Proletariat auf „kleine Weile“, die sie ihm durch „Reigen in schöner Harmonie“, „Schönheit des durchgebildeten Körpers“, „Wohllaut des Klanges“, „mit Geist und Empfindung des freien, bewußten Menschen“ kürzen, nicht ankommen! Auch ein Weg zum Sozialismus, der ja stückweise kommt: Man vertreibe // sich die Zeit bis dahin durch Vorbereitungen zur „Festkultur der Zukunft“! Wir würden der Arbeiterjugend raten, etwas anderes zu vertreiben… Aber weshalb denn? Elise Karau meint: „Ein Stückchen vom Himmelsblau, ein Sonnenstrahl vergoldet auch den kahlen Hof der Zinskaserne (und auch diese sieht heute schon anders aus als vor zwanzig Jahren) …“ Aber gemach! Sprechchöre sind alles, nur kein Einschläferungsmittel. Eine kleine Weile nur, und der überraschten Elise Karau schallt es aus tausenden Proletarierkehlen entgegen: „Hinaus aus der Festkultur der Zukunft! Hinein in die Kampfkultur der Gegenwart!!“

In: Die Rote Fahne, 19.4.1925, S. 6-7.

Max Eisler: Die Kunst in unserer Zeit (1930)

Im Oberstock des Künstlerhauses ist seit einigen Tagen eine Ausstellung zu sehen, die den Formenwillen unserer Zeit bis auf den Grund klarlegen möchte. Sie setzt sich also ein geistiges Programm. Denn es geht ihr nicht um das vollkommene Beispiel, sondern um Sinn und Weise der modernen Gestaltung. Was sie will, ist eine Klärung des Wirrwarrs, in dem wir gedankenlos vegetieren, eine Atempause der Selbst- und Weltbesinnung in dem überhitzten Tempo, von dem wir uns treiben lassen, also den Weg zur Erkenntnis der tieferen Beweggründe und der Einheit im Schaffen der Gegenwart.

Um das aufzuzeigen, werden – besonders innerhalb der Malerei – die Werke dreier Generationen, aber auch sehr verschiedene Betätigungen – etwa Erzeugnisse der heutigen Technik, sozial-ökonomisches Bauen und endlich Bilderkunst – miteinander konfrontiert. Die Gegenüberstellung der drei malenden Generationen – von Hans Tietze, dem verdienstvollen Urheber der Aufstellung, schon einmal versucht – erweist sich auch diesmal sehr fruchtbar. Aber schon bei den zwei Zimmern, welche die Einrichtung in den Jahren 1900 und 1930 charakterisieren sollen, wird man grundsätzlich Bedenken haben; denn der Raum vom Jahre 1900 ist kein rein charakteristisches Beispiel, sondern ein mit drastischer Absicht zusammengebrachter Auswuchs der Zeit, wie er sich auch für die Gegenwart leicht hätte finden lassen. Bedenklicher noch scheint uns die Zusammenführung so entlegener Dinge wie etwa eines höchst rationellen Staubsaugers und der neuesten Malwerke. Denn da werden, nach unserm Gefühl, Brücken gelegt, wo besser Grenzen gezogen werden müßten. So ist es z. B. heute bei weitem nicht mehr so wichtig, an dem und jenem die gemeinsame „Sachlichkeit“ nachzuweisen, als dieses arg mißbrauchte Schlagwort durch eine feinere Unterscheidung von Fall zu Fall zu entkräften und wesentlich richtigzustellen. Und das ist vielleicht nirgends so wichtig, wie bei der Bestimmung des Verhältnisses von neuer Bau- und neuer Bildkunst, die in ihren Gegensätzen weit gründlicher verstanden werden können als in ihren vorgeblichen Gemeinsamkeiten. Jedenfalls bringt die Anhäufung so vieler disparater Arbeiten im engen Raume die Gefahr mit sich, daß das Publikum – dieses sollte ja erzogen werden – statt des Zusammenhanges eine Verwirrung wahrnimmt. Und das wäre furchtbar schade.

Denn die Ausstellung ist, trotz allem, eine ernsthafte und mutige Tat. Schon als geistiges Ereignis steht sie hoch über unserm normal lässigen Ausstellungsbetrieb, der sich im besten Fall von irgend einer Konjunktur inspirieren läßt. Hier endlich ist ein umgreifender Gedanke Antrieb der Veranstaltung gewesen und von den Mitarbeitern Tietzes mit junger, schöner Hingabe verwirklicht worden. Gewiß nicht mehr als ein Experiment. Aber, selbst in seinen Irrtümern derart interessant, daß man so leicht davon nicht loskann. (Auch wir wollen ein nächstesmal noch genauer darauf zurückkommen.)

Heute schon das: Man mag gegen den Aufbau des Problems seine Bedenken haben und deshalb auch bezweifeln, ob er in breiteren Kreisen zu der erwünschten rechten Einsicht führen wird – gewiß ist, daß durch diese Ausstellung, namentlich auf dem Gebiet der neueren und neuesten Malerei, der von allen pfahlbürgerlichen Geistern verrammelte Horizont des Wiener Kunstfreundes mit einem Male kosmopolitisch erweitert wird. Man begegnet hier namhaften Meistern der Zeit mit bedeutenden Werken, man sieht, was einem bisher zu sehen versagt und nur durch das Gerücht, meist durch ein übelwollendes Gerücht, bekannt geworden war – man erhält endlich wieder einen weltgültigen Gesichtskreis und darin die Möglichkeit, einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Das ist das unbestreitbare Verdienst der Veranstaltung. Und schon das allein macht sie für alle aufrichtigen Freunde des Kunstlebens, ohne Unterschied ihrer Einstellung, wahrhaft sehenswert.

In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, 31.3.1930, S. 8.