Hermann Menkes: Neue Romane (1920)

Trotz der Abgeschlossenheit, in der wir leben, ist in unserer Zeit das Interesse für fremde Kulturen, Länder und Völker in verstärkter Weise wach geworden. Während des Krieges sind die Maler und Zeichner nach Polen, Rußland und in den Orient gekommen und haben da in einem farbigeren und volkstümlicheren Leben ihrer Kunst Verjüngung und neuen Reiz zugeführt. Den Schriftstellern offenbarten sich in der Fremde Sitten und Lebensanschauungen, die ihnen bisher verschlossen waren.

Der Roman „Menschen im Abgrund“ von Jakob Fingermann (Wien, R. Löwit Verlag) ist aus derartigen Erlebnissen entstanden. Ein zumeist jüdisches Milieu in einer polnischen Stadt wird vorgeführt, Menschen im Krieg mit einer heftigeren Lebensgier, einer zäheren Tragik. Ein Judenroman, aber keine der üblichen Gettogeschichten mit der schwermütigen Poesie des Verfalls. Eine- soziale Note ist in der Darstellung Fingermanns, etwas von bitterer Anklage. Er zeigt die seelischen Zerstörungen des Krieges, eine Anarchie der Empfindungen und eine sittliche Verelendung. Mehr noch als die menschlichen Physiognomien ist das Gesicht der Judenstadt Lublin gezeichnet mit ihren so grausamen Kontrasten von Elend und verschwenderischer Lebensführung, moralischer Fäulnis und Idealismus. Ein unsagbar korrumpiertes Europa gibt sich als Scheinkultur dieser Stadt, in der Brände der Leidenschaft emporlohen und hungrige Sinne nach Genuß lechzen.

In diesen Strudel hineingezogen sind die österreichischen Offiziere. Es ist eine glühende, sinnliche Atmosphäre in dem Buche, das mehr dramatisches als erzählerisches Temperament zeigt. Es ist hier nicht das am Geistigen hängende Judentum, sondern das merkantile und irgendwie in den sittlichen Abgrund geratene. Es sind auch nicht die stillen, leidvollen Frauen des Gettos, sondern Messalinanaturen, die bedenken- und seelenlos nur mit den Sinnen lieben. Die Stärke des Romans mit seinen wechselnden Bildern liegt in der Unmittelbarkeit der Darstellung, sein Reiz in dem fremden Milieu, seine Schwäche in einer gewissen Flüchtigkeit, die die Konturen nur andeutet und in einer an der Oberfläche haftenden Psychologie die Geschehnisse abbricht, aber nicht zu innerem Abschluß bringt. Trotzdem ist dieser Roman ein interessantes Zeitdokument von mancherlei schönen literarischen Qualitäten, das unsere Teilnahme bis zuletzt wachzuhalten versteht.

Als ein „fast heiteres Judenbuch“ gibt sich die Sammlung von Erzählungen und bekenntnisreichen Auseinandersetzungen, die unter dem Titel „An den Wassern von Babylon“ bei Georg Müller in München erschien. Jüngere deutsche Schrift­steller jüdischer Abkunft grenzen hier ihr Verhältnis zum Volke, dem sie entstammen und zum andern, in dessen Mitte sie leben und dessen Kultur zu ihrer eigenen geworden, ab. Damit berühren sie ein Problem, das einen tragischen Zug und Zwiespalt in das Empfinden des jüdisch-deutschen Kulturmenschen bringt. Die vier Dichter, die sich hier aussprechen,. sind Nach beiden Richtungen hin treu und wurzelstark. Sie finden einen harmonischen Ausgleich zwischen zwei Welten und meinen, daß gerade daraus etwas Neues und Wertvolles entsteht: ein weltmännisch orientiertes Deutschtum. Am schönsten und gefühlsmäßigsten gibt dem Hermann Sinsheimer in seiner Knaben­geschichte „An den Wassern von Babylon“ Ausdruck. Sehr sinnig ist das Sehnen eines Kindes nach dem Heimatlichen geschildert, das in seiner Phantasie mit der Urheimat seines Volkes ver­schmilzt. Lion Feuchtwanger läßt den ewigen Juden in moderner Fasson und mit ironischen Auslassungen über den Antisemitismus erscheinen. Auch Fritz C a s s i r e r s „Breviarium Judaicum“ ist eine Abrechnung mit nationaler Beschränktheit und blindwütendem Haß, während Paul Schlesinger allerhand jüdische Menschlichkeiten in einer Anekdotenreihe witzig beleuchtet. So ist aus dem Ganzen ein Buch der Verständigung geworden, das man auch bei persönlich abweichenden Anschauungen gutheißt.

In: Neues Wiener Journal, 27.5.1920, S. 3.

Rudolf Jeremias Kreutz: Robert Hohlbaum: Die deutsche Passion. (1926)

Der Epiker Robert Hohlbaum ist eine stete Hoffnung, die unaufhaltsam nach Erfüllung drängt. In jedem seiner Bücher spürt man gleichsam ein tiefes, leidenschaftliches Atemholen: fleißig trainierte, geschmeidige, wenn auch nicht athletische Kraft strafft sich zum Sprung nach dem Erfolg. In jedem seiner Romane sind Ansätze zum Erzähler großen Stils, in jedem aber auch drohen Grenzen, türmen sich Schranken. Die deutsche Welt, Von ihm in heißer Seele umschlungen engt ihn, gerade weil sie ihn allzu innig beglückt. Die Objektivität im Goetheschen Sinne, jene kühle, scharfäugige Liebe zum Objekt – in Hohlbaum lodert sie allemal in Verliebtheit auf. Dies mag vom Standpunkt des tendenzdeutschen Schriftstellers ein Vorzug sein, dem Werke des Dichters geschieht naturnotwendig Abbruch. Wohl gehört Hohlbaum keineswegs zum Kreise jener germanischen Infallibilitätsherolde, deren lehrhaftes Pathos nur noch von ihrer abgründigen Langweiligkeit übertroffen wird, doch zeigt eine Einstellung zur Problematik deutschen Wesens öfter das begeisterungsdurchglühte Gesicht eines Couleurstudenten, als das Antlitz eines Mannes, der sein Volk auch dort kennt, wo es weniger liebenswürdig ist. Aus solcher Einseitigkeit erwachsen Vorzüge und Mängel seiner Werke. Immer steht ein junger Fant im Mittelpunkte der Handlung, ein frischer, herzfroher Geselle, dessen anmutiger Entwicklung wir mit aufrichtiger Anteilnahme folgen. Stets rankt sich um das Schicksal der Hauptperson episodistisches Beiwerk, das Folie bleibt für den ewigen Lenzkampf des Helden, den er gegen feindliche Gewalten erfolgreich ausficht. Liebe, Leid, welsche Tücke, zuweilen ein schwarz gemalter Widersacher aus eigenem Stamm – aus solchem Quellgebiet ergießt sich eine Fülle Jugend über uns: helläugig, rein, köstlich wohlgemut, aber auch befremdlich voraussetzungslos. Dieses gefühlsmächtige Strömen aus eigener Jugend zu ähnlicher Jugend hin, dieses unbedenklich innige sich Verstreuen ist Hohlbaums stärkste Kraft. Sie bezeugt den geborenen Erzähler. Mühelos, spielerisch – das fühlt man – fügt sich ihm Bild zu Bild. Der Lust zum Fabulieren gesellt sich eine beträchtliche Plastik der Formgebung, insbesondere dort, wo ein Milieu geschildert, der Hintergrund eines Schicksals gezeigt wird.

Nicht auf gleicher Höhe steht die Schicksalsgestaltung selbst. Selten nur springt eine Individualität scharfen Profils aus dem Rahmen. Die Menschen gleiten farbig, aber wenig körperhaft an uns vorbei. Hohlbaum erfaßt deutsche Vergangenheit kulturhistorisch ungemein geschickt, der Ausdruck der Zeitepoche ist sprachlich verblüffend echt getroffen. Diese virtuose Fähigkeit museale Garnituren zu beleben, gab dem Dichter wohl auch Ansporn und Mut zu einer Trilogie deutschen Leidens, Kämpfens und Werdens. Ein Stoff von bedrückender Größe, gemessen nicht nur an der Kühnheit des Vorwurfes, deutsches Schicksal vom Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bis in das achtzehnte Jahrhundert episch zu gestalten, sondern vornehmlich durch die Schwierigkeit, Menschen glaubhaft lebendig in das historisch Gegebene zu stellen. Den Milieuteil der Aufgabe, ihren dekorativen Prospekt gleichsam, löst1 Hohlbaum in der Deutschen Passion auf das glücklichste. Und das will nicht wenig sagen angesichts des Umstandes, daß jenes von allen guten Geistern verlassene Deutschland der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bisher überhaupt kaum einen Schilderer gefunden hat. Der törichte und unfruchtbare Kampf zwischen Luthertum und Katholizismus, die Rohheit entlassener Kriegsknechte, der Seelenpferch des Ghettos, die öde Lebensgier der besseren Stände, die »Affenschande der à la Moderei“ – das alles zieht in farbenglühenden Wandelbildern an uns vorüber. Die Menschen freilich erscheinen der Mehrzahl nach als Statisten im gewaltigen Panorama. Sie agieren in ihrem Charakterellen schemenhaft wenngleich sie in Sprache und Gehaben vortrefflich dem Bilde eingefügt sind. Sie stellen weit mehr Figurinen dar als Individuen, sie fesseln durch die Echtheit ihrer Kostüme, ohne menschlich sonderlich zu interessieren. Zwei nur treten schärfer konturiert aus der Menge: Michel Moschewin, der Vorbilddeutsche, in die chaotische Tragik seines auf blutigen Irrwegen taumelnden Volkes als ein „Held Unverzagt“ gestellt, und Schmul Kurtzhandel, der Jude. In diesen beiden – Pol und Gegenpol – stecken, von der mitunter allzu grellen Weiß- und Schwarztechnik und seiner wohl unbewußten Verbeugung vor gewissen völkischen Instinkten abgesehen, kräftige Ansätze zur Charakterformung. Moschewin = Baldur und Kurtzhandel = Loki leben, haben Fleisch und Blut. In ihnen glimmt etwas von dem „dreimal glühenden Licht“, das dem Künstler leuchten muß, auf daß er den aus dem Handgelenk spukendem papierenen Geist des Schreibtisches überwinde. Insbesondere in einzelnen Ghettoszenen gewittern Spannungen geheimnist ein Grauen, das stilistische Findigkeit nie vermitteln kann. Hier tritt ein ander[e]s hinzu, unwägbar, kostbar und selten im Reiche des Schaffens: Sparkunst am leeren Wort — Wirkung des Dichters. Robert Hohlbaum, der Dichter, ist des fruchtbaren Schriftstellers wesentlicherer Teil. Auch Die deutsche Passion erweist dies wieder, seinen vielen Freunden zum Wohlgefallen

 In: Neue Freie Presse, 13.6.1926, S. 32.

Otto Koenig: Neue Romane und Erzählungen. (F. Werfel: Der Abituriententag, B. Brehm: Der lachende Gott) (1928)

Der neue Roman Der Abituriententag von Franz Werfel (Paul-Zsolnay-Verlag. Wien) zählt zu den stärksten epischen Werken der Gegenwartsdichtung. Er ist die Geschichte einer Jugendschuld. Durch die Erinnerungen, die einer der üblichen Zusammenkünfte ehemaliger Maturakameraden, ein sogenannter „Abiturrententag“. weckt, wird auch das Er­innern an den Mitschüler Adler, einen Ver­schollenen, einen Abgesunkenen der Klasse, lebendig; der Untersuchungsrichter Sebastian glaubt jenen ehemaligen Mitschüler Adler in einem Untersuchungshäftling wiederzuerkennen, der ihm als eines Prostituiertenmordes verdächtig, eben an diesem Vormittag der Abiturientenzusammenkunft vorgeführt worden war. Er glaubt dies, weil er mit jenem befähigten Adler damals um die Herrschaft in der Klasse gerungen, weil er ihn gedemütigt, verführt und ihn schließlich, um sich selbst vor vernichtenden Gymnasialkonsequenzen seiner Jugendstreiche mit Katalogfälschungen und heimlichem Bordellbesuch zu retten, zur Flucht drängte und verhalf, er glaubt dies, weil er an jenem verschollenen Mitschüler schuldig ge­worden ist. In der Nacht nach dem Erinnerungsabend fiebert und phantasiert der aufgewühlte Richter diese fernvergangene Gymnasialschuldtragödie, aus der er durch Auf­opferung jenes andern heil hervorgegangen ist, noch einmal durch. Am darauffolgenden Morgen, im Amt vor dem Inkulpaten Franz Adler, der aber jener andre Franz Adler gar nicht ist, erfolgt im furchtbaren seelischen Ringen um Entsühnung ein Nervenzusammenbruch und durch ihn seelische Befreiung. Tiefe Zu­sammenhänge zwischen dem ethischen Gott in uns und dem Dämon des Selbsterhaltungstriebes offenbaren sich in dem hocherregten, dramatisch komprimierten Werk hinter der Schilderung und Handlung, die mit fein­fühligster Detailmalerei den  kaiserlich öster­reichischen Beamtenstaat, seine Beamtendrillschulen, die Gymnasien und das Provinzmilieu, naturfarbig illuminiert.

Der lachende Gott.

Mit Altösterreich, seinen Gymnasiarchen, sonstigen Unterrichts- und andern Beamten, mit seinem Militär, seinen Kleinstädtern und der Provinzmoral hat es auch der soeben im Verlag R. Piper (München) erschienene Roman Der lachende Gott zu tun. Sein Dichter, Bruno Brehm, ist ein neuer Mann, der aber wegen seiner in dieser Erzählung frappant in Erscheinung tretenden sicheren Schilderungskraft und reifen Begabung mit Ehren empfan­gen werden muß, obwohl sein lachender Gott — ein Priapus ist, der antike, in spätrömischer Zeit besonders eifrig kultivierte Gott männ­licher Zeugungskraft mit dem symbolisch über­triebenen, ungeheuren Phallus, also in unserer Zeit, da die Erotik offiziell nicht mehr religiös überhöht zu werden pflegt, eine frivole Obszönität. — Dieser grün patinierte römische Bronzepriapus wird von einem Bauern in der Nähe einer altösterreichischen Provinzstadt, die der Verfasser so liebevoll und genau schildert wie Goethe das Städtchen seines Hermann, auf seinem Acker ausgegraben. Der Sohn des Bauern, der Schüler am Provinzgymnasium ist und die Figur dem Direktor überbringen will, wird als unbeliebter Bauernsproß von diesem engstirnigen Unterrichtsbeamten in eine Disziplinaruntersuchung hineingetrieben und ausgeschlossen. Die ehrbar verhohlene Erotik der Spießbürger aber kommt durch den lachen­den Gott außer Rand und Band. Der Einzug der feurigen Offiziere und Mannschaften eines ungarischen Infanterieregiments verstärkt die aufstachelnden Reizungen und Wir­kungen. Die drei „destruktiven Elemente“ des Städtchens mischen sich ins Spiel, der lachende Gott wird aus dem Gymnasium gestohlen; die in verschiedenen Gesellschaftsschichten und Menschen in verschiedenen Nuancen aufflammende Sexualität führt zu Lächerlichkeiten, Komödien, Duellen, Orgien, zu Mord, behördlichen Verfolgungen, Verhaftungen und zum aktiven oder auch passiven Selbstmord der kompromittierten Honoratioren, unter denen die Künstlernatur des Zeichenprofessors RabI die sympathischeste ist. Der Dichter versteht sehr wohl in Spannung zu halten, weiß sein Garnisonsstädtchen zwischen der Thaya und Carnuntum vorzüglich zu zeichnen, prachtvoll echte Offiziers-, Beamten- und Provinzproletariergestalten zu formen, die auch dann lebensecht sind, wenn er nach seiner katholischen Idealismen zugeneigten Art eine Ausnahmefigur wie die des gütigen und weisen Religionsprofessors Pichler schildert. Eine leise und klug lächelnde Satire ist dieser Provinzroman aus der altösterreichischen Provinzgarnisons- und Gymnasialstadtskandalgeschichte, die zwischen unverhältnismäßigen, aber in diesem Milieu wahrscheinlichen Katastrophen eindringlich an­deutet, wie der Schuldige, der Gymnasialdirektor, in allen Würden bleibt, während die einzige Konsequenz, die die Provinzgemeinde öffentlich zieht, die ist, daß die straßenkehrenden Lumpenproletarier und Saufbrüderln, die ohnehin „gemütliche Menschen“ sind, die mit dem Eros keine Beziehungen unterhalten, nicht mehr auf dem Hauptplatz lungern dürfen.—

Und dann geistert noch ein tiefes und großartiges Wissen bedeutsam durch diesen originellen Roman: Das Wissen vom Erschrecken vor einer in die Gegenwart tretenden kultischen Vergangenheit, die Ahnung, daß das Bild des Gekreuzigten, in fernen Tagen zufällig auf­erstehend, auch Grauen, Entsetzen und Ver­wirrung anrichten müßte.

In: Arbeiter-Zeitung, 22.12.1928, S. 6.

Rudolf Holzer: Neue Romane (H. Mann – Wassermann – Stehr) (1919)

In nicht großen Abständen sind in letzter Zeit drei umfangreiche Romane erschienen, die, abgesehen von ihrer ästhetischen Bedeutung, wahrhaftig Spiegelungen und Dokumente der gegenwärtigen Zeit sind. Der künftige Kultur- und Literaturhistoriker wird aus ihnen einst unsere Geistesverfassung, unser menschliches Sein in diesen Tagen, unseren Anteil an den Forderungen der ewigen Entwicklung lesen können. Unabhängig von ihrem literarischen Werte darf man die drei Romane auch als Schöpfungen dreier bedeutender Schriftsteller, an sich als charakteristische Erscheinungen bezeichnen. Heinrich Mann, Hermann Stehr, Jakob Wassermann sind so sehr schöpferisch, daß sie kraft ihrer Naturen und Begabung nicht leere Abschreiber des Tages, sondern Träger der latenten Ideen und Konflikte sind.

Im Stile und Realismus des platten, politischen, tendenziösen Pamphlets ist Heinrich Manns Roman Untertan gehalten; er enthüllt angeblich das Abbild des Deutschlands Wilhelms II. Am Scheitel des Bogens schwebt, entrückt der Alltäglichkeit und dem Dutzendgeschmack, das literarische Gebilde Wassermanns Christian Wahnschaffe; jenseits ruht der Bogen verdichtet in Hermann Stehrs Roman Der Heiligenhof, im deutschen Neumystizismus, in einem Sozialismus, der an Urchristentum anknüpft.

Der Roman Heinrich Manns Der Untertan[1] wurde kurz vor dem Kriege beendet; er erschien zuerst in einer Wochenschrift im Frühjahr 1914, wurde aber als eine geschmacklose Verletzung der Stimmung bald nach Kriegsausbruch abgebrochen. Heute feiert er – leider! – als zu wahrhafter Satire geworden, eine Auferstehung; er nimmt sich — leider! — geradezu als ein historisches Kulturwerk aus; er segelt heute als Sittengeschichte des Deutschen Reiches zu Ansang des 20. Jahrhunderts in die Öffentlichkeit. Nun, zu dem Anspruch, ein wirkliches Bekenntnisbuch zu sein, fehlt ihm Objektivität und Unbefangenheit. Mit Haß und Hohn ist man niemals ein gerechter Zeuge. Heinrich Mann vermeint, die Psyche des braven, gehorsamen Untertanen enthüllt zu haben. Sein bürgerlicher Kleinindustrieller Diederich Heßling, dieses Muster eines Nationalgesinnten, beweist nur leider nichts, denn Mann bildet ihn als Ausbund der Einsichtslosigkeit, Dummheit, Charakterlosigkeit. Nach einem kurzen, in

Berlin verlaufenden Vorspiel, wohin der junge Diederich gelangt, um Chemie zu studieren, setzt sich die eigentliche Handlung in einer typisch preußischen Stadt, nicht allzu weit von der Reichshauptstadt gelegen, um die Zeit der Neunzigerjahre fort. Heßling wird zum Träger angeblich neudeutscher Kultur, die nach Manns Darstellung nichts anderes ist als knechtische Unterordnung und Bewunderung des preußischen Militärstaates. Der „Untertan“ Diederich Heßling, Fabriksdirektor und Unternehmer, wird als Typus des Geschäftssinnes und der Schneidigkeit des preußischen Staatsbetriebes gekennzeichnet. Bald stößt er natürlich mit den politisch Freisinnigen der Stadt zusammen; namentlich mit dem klugen und menschenfreundlichen Achtundvierziger Buck. Die Gutheißung der Erschießung eines Arbeiters durch einen militärischen Posten, eine Denunziation wegen Majestätsbeleidigung, eine vom Gerichtshof und den Zeugen liebedienerisch durchgeführte Verhandlung, zweifelhafte Kompromisse mit anderen politischen Strömungen, eine Reichstagswahl, die Errichtung eines Kaiserdenkmals, das sind die einzelnen Szenen der Handlung, die immer nur Gelegenheit gibt, Diederich Heßling als lächerlichen und widerlichen Gesellen zu kennzeichnen. Er wirkt durchaus als Karikatur. Der offizielle Geist der vergangenen Jahre wird mit beißender, höhnischer Laune dargestellt, wird als am Staate nagendes Gift, als Produkt der Fäulnis geschildert, des in seinem hohlen, geschmacklosen Protzentum, seinem stets die Ideale der Nation im Munde führenden Materialismus den Staat dem Abgrund entgegentreibt. Mann weidet sich an dem bekannten Pathos der Reden Wilhelms II., die Adel und Bürgertum Deutschlands einlullten. Aber in Heßlings Munde werden sie zu unausstehlichen Trivialitäten, zu fürchterlicher Satire. Der gehorsame und getreue „Untertan“, der keinen anderen Ehrgeiz kennt, als seinem kaiserlichen Herrn zu dienen, wird bei Mann zu einer verzerrten und lächerlichen Kopie des Monarchen. Seinem Charakter nach ein hohler, eitler Komödiant und Streber, schwindelt und bramarbasiert sich Heßling in der Kleinstadt zu Einfluß, und Macht empor, spielt dort den nationalistischen Scharfmacher, bedrückt seine eigenen „Untertanen“ – die Angestellten seiner Fabrik – macht zweifelhafte Geschäfte, liegt vor jeder höheren Macht im Staub, ist aber brutal und rücksichtslos nach unten und findet endlich seinen Ehrgeiz als Generaldirektor, anerkannter Patriot und Festredner bei einer Denkmalsenthüllung gekrönt.

Mit dem Rechte des Satirikers hat Mann den Diederich Heßling zu einem Zerrbild des Untertanen im Zeitalter des preußischen Imperialismus gemacht. Durch Verzerrungen hebt er die Schäden der Zeit schonungslos ins grellste Licht. Die kleine Stadt, Netzig, in der Heßling das große Wort führt, ist beherrscht und belebt von Anhängern des Imperialismus. Offiziere, Staatsbeamte, Pastoren, Industrielle, Oberlehrer, Frauen der bürgerlichen Welt, Damen aus der Halbwelt sind benebelt und berauscht von patrio-// tischen Gefühlen, die in Wahrheit der Ausfluß krassesten Egoismus sind. Es ist Mann kein Vorwurf zu machen, daß er in der Wunde seiner Zeit wühlte, es berührt jedoch nicht angeehm, daß er seinen Witz ausschließlich an Begriffe knüpfte, die dem nationalen deutschen Empfinden bisher achtenswert waren. Seine Schilderungen der Berliner Korpsstudenten, der politischen und moralischen Verhältnisse der Netziger Bürger sind überaus scharf und geistreich gesehen. Die Charakterlosigkeit und Feigheit, mit der sich Heßling der Militärpflicht entzieht, gleichzeitig aber mit seiner patriotischen und militärfreudigen Gesinnung flunkert, um später Aufnahme und Einfluß im Kriegerverein zu finden, das bürgerliche Leben, seine und die Liebesangelegenheiten der Netziger sind in dem Buche zu virtuosen Episoden verwertet. Der schärfste und reinste Niederschlag des Buches kommt aber in einer mit der Handlung gar nicht zusammenhängenden Analyse des Wagnerschen Lohengrin zum Ausdrucke. Da entgleitet dem Verfasser endgültig die Maske. Da verrät er sich endgültig als politischer Pamphletist, als – nach dem von Thomas Mann geprägten Ausdrucke – Zivilisationsliterat, als Parteigänger der undeutschen Empfindung, als Schriftsteller, dem für deutsches Fühlen und Denken nicht nur die Organe fehlen, sondern der allem Deutschen mit Hemmungen gegenübersteht. Um später einmal etwa als „historischer“ Roman zu gelten, fehlt dem Buche die einwandfreie Objektivität, aber Mann hat uns, was nicht zu leugnen ist, ein ironisches Werk von aufreizender Grausamkeit und Schonungslosigkeit gegeben. Daß das Buch vor dem Kriege entstanden ist, macht es ethisch einzig und allein erträglich; heute geschrieben, müßte man es als Ausdruck krankhaften Flagellantentums bezeichnen.

Jakob Wassermann, der zu Anfang des Krieges mit seinem Roman Das Gänsemännchen der neueren deutschen Literatur eine Dichtung von außerordentlicher Tiefe schenkte, legt jetzt in zwei Bänden die seltsames Seelengeschichte eines jungen Deutschen, Christian Wahnschaffe, vor. Sie fußt in einer Weltanschauung, in Gedankengängen, einem Stoffkreise, die auf die Anfänge aller Dichtkunst zurückgreifen. Wassermanns neues Buch ist die nach dem Himmel, nach der Erlösung anblickende Legende des Menschen und der Welt von 1919; es ist die modernste, aus der ursprünglichsten Gegenwart hervorwachsende Dichtung vom leidenden, durch irdische Entbehrung und Demut zu seelischer Befreiung und Erhebung strebenden Menschen von heute. Wer würde nicht durch den Helden des Romans, durch den mit allen glänzenden Vorzügen und Tugenden der Kultur, der Bildung, des Reichtums, der Lebensführung ausgezeichneten Christian Wahnschaffe an die Helden der alten lateinischen, deutschen, englischen Mysterienspiele und Moralitäten, an die der späteren Klosterspiele erinnert werden. Auch Christian ist ganz im Sinne lehrhafter Legenden eine Gestalt mit doppeltem Antlitze: jenem der Lebenslust und jenem der Askese, jenem der sieghaften Schönheit und dem des scheußlichen Lasters, dem der heidnischen Sinnenlust und dem der entsagenden religiösen Selbstkasteiung. Die geistige und literarische Verwandtschaft führt dann weiter über die großen psychologischen und moralisierenden Romane der Russen: über Dostojewski und Tolstoi, bis er in einem Neobuddhismus unserer Tage eine Art Glaubensbekenntnis formuliert.

Christian Wahnschaffe ist der Sohn eines jener unbegrenzt reichen Industriellen, in denen die Macht und Größe Deutschlands vor dem Kriege ihren eigentlichsten Ausdruck erhielt. Von der Natur verschwenderisch begabt, mit allen Vorzügen eines Lebemannes und Dandys ausgestattet, bildet er zunächst das Ideal eines jungen Mannes der großen Welt aus den paar führenden Familien Deutschlands. Es gibt keinen Genuß, der ihm nicht zugänglich, und keine Laune, die für ihn nicht einlösbar wäre. Sein Leben spielt sich in einem Stil ab, der bestimmt wird von unbegrenzten Einkünften, erlesenem Luxus, kultiviertester Schönheit. Dementsprechend tritt er auch kaum aus einer Umgebung, die anders empfindet. Eines Tages schießt ein Arbeiter auf seinen Vater, den Geheimrat Wahnschaffe. Dieses für sein äußeres Leben ohne weitere Folgen bleibende Geschehnis bringt ihn in Beziehung zu einem russischen Revolutionär, in weiterer Folge zum Proletariat. Vom Hochzeitsfeste seiner Schwester wandert er in die armselige Wohnung des wegen des Attentates verurteilten Arbeiters. Das menschliche Elend, das er kennen lernt, wirkt auf ihn derartig mächtig ein, daß er sich seines Vermögens entäußert, in freiwilliger Armut lebt und seinen Besitz mit Armen, am Leben Leidenden teilt. In einer elenden Matrosenschenke Hamburgs findet er die verkommene, halb vertierte Dirne Karen Engelschall. Er widmet sich ihrer Pflege und weicht bis zu ihrem Sterben nicht mehr von ihrem Lager. Christian nimmt mit diesem Leidenszug gleichsam das Kreuz auf sich, um sich selbst von dem Verbrechen seines Reichtums zu entsühnen. Er wird auch zum ruhelosen Sucher nach dem Mörder eines armen, einem Lustmorde zum Opfer gefallenen Mädchens, findet dann aber keineswegs in der Überantwortung des Mörders an die irdische Gerechtigkeit Befriedigung, sondern führt den Verworfenen zu seelischer Läuterung durch ein Geständnis, zu einer – vom Dichter allerdings bloß angedeuteten – Selbstsühne hinan…

Agitatorischer, fast inbrünstiger Trieb zum Bekennen der Menschenliebe und Menschengüte durchzieht dieses Buch; es ist in seiner Art ein Evangelium der Menschenliebe. In flammenden Worten predigt es die //Verwerflichkeit der Macht, des Reichtums und der Genußsucht. Wem noch irgend Zweifel bleibt über den Charakter von Wassermanns Buch als einem einer neuen, zeitgemäßester Sittlichkeit, der sei auf Christians Ende verwiesen: es ist eine Art „Himmelfahrt“, indem Wassermann Christian sich in Geistigkeit, im Fluidum sittlicher Reinigung einfach auflösen läßt; in dem der Dichter Christians kargen Rest von bürgerlicher Existenz im Namenlosen verschwinden läßt.

[…]

In: Wiener Zeitung, 31.1.1919, S. 2-4.


[1] Verlag von Kurt Wolff, Leipzig.

E. Guglia: Neue Romane (1919)

Thaddäus Rittner kennt man bis jetzt nur als Dramatiker. Er hat zwar einen Band Novellen veröffentlicht, aber das ist schon zwanzig Jahre her und vergessen. Dagegen sind seine Erfolge auf dem Theater, nicht zwar rauschende, aber tiefgehende, in frischer Erinnerung, sie reichen bis in die neueste Zeit. Das wird seinem vor kurzem erschienenen ersten Roman Das Zimmer des Wartens schon eine lebhafte Nachfrage sichern. Und er wird den Freunden seiner Dramen keine Enttäuschung bereiten. Er besitzt dieselben oder doch ähnliche Vorzüge: große Spannungen, starke, grelle Effekte wird man ja nicht erwarten. Aber alle die Feinheiten, die jene auszeichnen, sind da. Das Zimmer des Wartens, in dem wir am Beginn der Geschichte die Kinder mit einem Onkel so wie in E. T. A. Hofmanns Nußknacker und Mausekönig vor der Bescherung am Weihnachtsabend beisammenfinden, ist ein Symbol des Lebens für den Knaben zunächst, der der Held der Geschichte wird – aber darüber hinaus noch für viele, deren Leben sich in einem ewigen Warten verzehrt. Die harmlose Stimmung des Wartens im „Nußknacker“ verfliegt sofort: Onkel Theodor schlägt vor der verschossenen Tür, die ins Zimmer führt, wo der Christbaum angezündet wird, das tragische Motiv des Romans an: „Wie wäre es, wenn ihr sitzen und warten müßtet?“ Den Knaben ergreift ein Vor­gefühl seines Geschickes: er erschrickt tief in sich hinein. Der Dichter zeigt ihn dann aus einigen Stationen seiner Lebenspilgerschaft – es sind zart abgetönte Federzeichnungen mit melancholischen Arabesken. Wir heben drei davon heraus. Der Knabe kommt in eine „Anstalt“, in der wir sofort das Theresianum erkennen, dessen Zögling auch Rittner einmal war. Hier hat also der Roman einen autobiographischen Hintergrund. Wir werden mit dem Leben in einer sogenannten Kamerate bekannt gemacht, mit dem Präfekten, genannt Kamel, der sie beherrscht, mit verschiedenen Zöglingen, von denen fast jeder einen be­zeichnenden Spitznamen trägt: mit dem „Zuckerl“, dem „Hampelmann“, dem „Storch“, dem besten Springer Zilgitz, mit einem ewig büffelnden Ungarn, der in das  Geplauder der Kameraden über das Leben draußen und seine Verheißungen sein monotones Paradigma wirft: Cado, cadere, cecidi, casum, wir wohnen den Vigilien für Kaiser Karl VI. in der Kapelle bei, wo ein schwarzer Vorhang mit weißem Kreuz dem Knaben ein ähnliches Geheimnis zu bergen scheint wie einst die ver­schlossene Tür im Zimmer des Wartens. Wir lernen das Glück der Krankenabteilung kennen, in der man nicht zu lernen braucht und  ganze Tage ruhen und träumen darf. Auch ein Professor der Mathematik, Silius, tritt auf, der stark porträthafte, aber ins Phantastische gesteigerte Züge trägt. Dem fallen Hefte des Knaben in die Hand, in der dieser, ein früh­reifes Dichtertalent, versucht hat, Töne, Ge­rüche, Gedanken zu beschreiben: „Mensch, wach auf!“ sagt Silius zu dem Knaben. »Hörst du nicht den ersten Hahnenschrei? Das Leben be­ginnt. Und ich sage dir aus Erfahrung, sobald das Leben begonnen hat, ist es auch bald zu Ende… Du wirst nie den heutigen Tag loben, denn du bist dazu verdammt, stets den gestrigen wiederzukäuen.“ Dies ist das zweite Leitmotiv für das Leben des Helden, für den Roman. Das erste, das Warten auf etwas, das nie kommt, oder wenn es kommt, dort nicht die Erfüllung bringt, die man daran geknüpft hat, nimmt im Theresianum den breitesten Raum ein: die Zöglinge warten immer auf das Ende der Stunde, das Ende des Tages, das Ende der Woche, dos Ende des Jahres, das Ende der Zeit, die sie in der Anstalt zu verbringen haben. Aber immer ist – wenigstens für den Helden – das Erwartete nur ein vorläufiges, das Anlaß zu neuem Warten gibt. Nach der Matura darf der Glückliche nach Venedig und verbringt dort, zum Ärgernis seiner Ver­wandten, nichtstuend ein ganzes Jahr. Venedig ist übrigens die einzige Station im Leben des Helden, wo nicht bloß gewartet wird, wo er etwas erlebt, sich in ein halbwüchsiges Mädchen verliebt, der er auf Wunsch ihres Vaters, eines Spielwarenfabrikanten, Stunden in Geographie und andern Wissen­schaften gibt. Aber nach Wien zurückgekehrt, öffnet sich ein Zimmer des Wartens nach dem andern. Am längsten sitzt er in dem, das man gemeiniglich mit dem Namen „Amt“ oder „Beruf“ bezeichnet, es ist ein Zimmer gegenüber von einer großen Mauer: wenn die Sonne daraus scheint, ist es, „als wenn ein blutarmes Gesicht zu lächeln versuchte“. Das Kapitel, das von diesem Zimmer erzählt, ist betitelt: „Tausend Jahre Zwangsarbeit“ – so // empfindet es der zuerst noch junge, dann allmählich und doch blitzschnell, wie es der Professor Silius vorausgesagt hat, alternde Mann. Ein Kollege, jener Zilgitz aus dem Theresianum, der der beste Springer war, er­hängt sich, weil er in die Provinz versetzt werden soll, und als der Held vom Begräbnis wieder in sein Bureau kommt, sagt er zur Mauer: „Du bist immerhin besser als der Tod. Vielleicht fliegst du eines Tages wie ein Vor­hang in die Höhe. Und die Freiheit bricht an.“ Ja, der Vorhang fliegt wirklich zuletzt in die Höhe, die Freiheit bricht wirklich an. Aber das ist zugleich die Stunde des Sterbens. Er erlebt sie in demselben Zimmer des Wartens, in dem er als Kind auf die Christbescherung gewartet hat: „Einen Augenblick war es still, dann läutete es aber ganz hell und heiter. Die Tür sprang auf…“

In: Neues Wiener Tagblatt, 9.5.1919, S. 2-3.

Hugo Glaser: Die Kaiserin der Liebe (Über A. J. Koenig: Der heilige Palast) (1922)

Der griechische Geschichtschreiber Prokopius von Cäsaren gibt in seinen Memorien ein geradezu er­schreckendes Bild von der Lasterhaftigkeit der Kaiserin Theodora, die an der Seite Justinians, des oströmischen Kaisers, in Byzanz herrschte. Die jüngere Geschichtsforschung, die zur Beurteilung dieser Zeit, des sechsten Jahrhunderts, auch andre Quellen kennt als die Erinnerungen eines von Haß erfüllten Geheim­schreibers, ist geneigt, den Charakter dieser Kaiserin milder zu beurteilen und von den Übertreibungen Prokops sich loszusagen. Jedoch man begreift, daß sie, deren Laufbahn zweifellos in Zirkustheatern und in jenen Häusern, an denen farbige Laternen die Gäste lockten, Stationen machte, auch nach ihrer Thron­besteigung die Vergangenheit der Hetäre nicht völlig vergessen konnte. Aber historisch beglaubigt ist auch, daß sie nicht nur die zur Augusta erhobene Geliebte Justinians war, sondern auch als Herrscherin auf einem Thron saß, den ihre Klugheit und ihr Mut in schweren Tagen zu stützen verstand. Damals zum Beispiel, als der // berühmte Nika-Aufstand das oströmische Kaisertum zu vernichten drohte, der Kaiser und seine Berater zu ver­zweifeln schienen und sie, die Kaiserin, die An­ordnungen zur Unterdrückung der Revolution klar und zielbewußt, grausam und mutig gab.

Es ist klar, daß in dieser Frau die hervorragendsten Eigenschaften, im Guten und im Bösen, vereinigt sein mußten. Es gab auch andre schöne Mädchen in der Hafengasse, sie aber wurde Kaiserin. Den Roman dieses Lebens künstlerisch zu verwerten, die großen Erlebnisse phantasievoll auszugestalten, hat jetzt eine Wiener Schriftstellerin unternommen (Alma Johanna Koenig, Der heilige Palast. Rikola-Verlag, Wien 1922). Und um es gleich zu sagen: das Ergebnis ist ein Roman von so spannendem Inhalt, von einer derartigen Farbenglut, von solch glänzenden Schilderungen, daß er den besten Romanen, die die Verfallszeit einer alten Kultur zum Gegenstand wählten, beigezählt werden muß. Künstlerisch werden hier die Sternchen zusammen­getragen, aus denen das Mosaikbild besteht, und die die Geschichte nicht bot, werden durch die Phantasie ersetzt, die in alle Kühnheiten der justinianischen Epoche einzudringen vermag. Wo die historische Überlieferung versagt, setzt die Dichtung ein; gibt jene die Wirkungen, so vereint diese die Ursachen, die vielen Ursachen, die aus dem kleinen Zirkusmädchen die große Kaiserin machten, die Kaiserin der Liebe.

Auf der Schwelle des Zirkus Konstantinus fand man das weggelegte Kind mit dem amethystenen Doppel­kreuz über dem Hemdchen. Der ganze Zirkus strömte zu­sammen, um das Kind zu sehen, und man gab ihm den Namen Theodora, da es ja doch ein Geschenk Gottes war. Und dort, wo sie auch ihr Leben empfangen hatte, zwischen Käfigen und Tieren, wuchs sie auf und atmete den Geruch der Löwen und Tiger ein. Sie war noch lange ein Kind, als sie zum erstenmal in die Arena trat und tanzend vor der klatschenden Menge die Schleier zerriß, die ihren kleinen Körper verhüllten. Der Bischof Vigilius, der sie damals sah, sagte es gleich: „Dieser Käfer da wird einmal die größte Dirne von Byzanz.“ Die Zirkusspiele gingen indessen weiter. In Pantomimen, die von den Heroinen der Griechen und von den Mysterien der Bibel die Stoffe nahmen, tanzte sie das Spiel der Liebe und ließ den erblühenden Garten ihres Körpers im Dichte der Arena leuchten. Aber eine Unmut, die sich nie verlor, und ein Stolz ihrer Schönheit, die nicht zu übertreffen war, stellte ihre Leistungen hoch über die der andern Zirkusdirnen. Daran konnte auch Prokop nichts ändern, der sich veranlaßt sah, sicherlich nur über höheren Auftrag, gegen die Ver­wendung biblischer Motive bei solchen Zirkusdarbietungen einen scharfen Erlaß zu richten. Unterdes war Theodora herangereist, und den Lustgreisen der Kinderjahre folgte die Legion der Liebhaber: Hekebolos, der Kaufmann, der wie ein Sieger aussah, viel­leicht der einzige, der von ihr geliebt wurde, Krieger und Sieger, die wie Kaufleute handelten, Matrosen und Sklaven, bis wieder eine neue Welle des Lebens Theodora aus den Niederungen emportrug und sie zur Freundin des Griechen Agathon machte. Ein neues Dasein begann, das Leben einer Hetäre, der nichts versagt wurde. Antonina wird ihre Freundin, die Ge­liebte des Feldherrn Belisar, und vielleicht wurde auf diesem Wege die Beziehung zu Justinian hergestellt, ihrem späteren Gemahl.

Der junge Kaiser mag auch sonst von der berückend schönen Hetäre gehört haben. In einer Szene, die an dramatischen Effekten nicht zu überbieten ist, schildert Alma Koenig das erste Zusammentreffen Justinians mit Theodora. Er verlangte, was auch die andern Männer begehrten, und sie verlangte von ihm, wie stets von jedem, alles, was er zu geben habe, nur daß es diesmal eine Kaiserkrone war. Und in derselben Nacht erfolgte die Komödie der Trauung, die aus ihr eine Kaiserin machte, „die gottgesandte und unantastbare Kaiserin…“. In dem heiligen Palast, in der fürst­lichen Siedlung, die zehntausend Menschen beherbergte, wurde sie nun Herrin. Sie war die geborne Herrscherin, und die neue Rolle fiel ihr nicht schwer. Sie wurde die Beraterin in allen Regierungssachen, sie ließ den Nika-Aufstand unterdrücken, sie pflegte den schwerkranken Kaiser auf das aufopferungsvollste, wußte sie doch, daß sein Sterben auch ihren Tod bedeuten müßte. Groß war die Zahl ihrer Feinde: Prokop, der Geheimschreiber, Narses, der Feldherr, das ganze Volk. Und viele liebten sie. So wie früher. Bloß, daß die Liebhaber kein zweitesmal kamen; der Dolch eines Sklaven sorgte für die Verschwiegenheit der Beschenkten…. Grauenvoll war das Ende dieser Kaiserin. Der Wahnsinn tobte in ihr, und aus den Halluzinationen der vom Irrsinn Gequälten drohte gräßlich der Lerchenkops eines getöteten Liebhabers, des letzten, der im Sterben ihr verkündet hatte, er werde wiederkommen, immer wiederkommen.

In diesem Roman, der so reich an prächtig gezeichneten Nebenfiguren ist, ist der Kaiser an zweite Stelle gerückt. Eiseskälte umgibt ihn, Aszetentum und kühlste Diplomatie macht aus ihm eine Persönlichkeit wie aus einer viel, viel späteren, der Renaissancezeit. Er war aber doch auch etwas mehr als der Gatte der Theodora. In Justinian schätzt man den Begründer des Corpus juris, der Gesetzessammlung, die für viele Jahr­hunderte die Grundlage aller Rechtsprechung wurde. Seine Regierung wurde auch bedeutend durch die Zahl der glänzenden Bauten, die er hatte ausführen lassen. In sechs Jahren emsiger Tätigkeit vollendeten zehntausend Arbeiter die Kirche der heiligen Sophia, die jetzt die Hauptmoschee ist. Aber zu der vielfältigen Liebe der Kaiserin stehen diese Taten Justinians in keiner Be­ziehung, und es ist das Recht des Dichters, die Stoffe der Geschichte frei zu gestalten. Auch die Theodora des Romans ist nicht die Theodora der Geschichte. Die Er­innerungen Prokops beeinflussen ihre Wertung, und wenn Prokop von seiner Kaiserin wirklich so gestraft wurde, wie es in dem Roman der Alma Koenig geschildert wird, dann begreift man den Haß, den der Geschichtsschreiber gegen Theodora hegte und der ihn später veranlaßt, ihr in seinen Denkwürdigkeiten das Zeugnis abzugeben, daß sie an Sittenlosigkeit nicht mehr zu übertreffen war. Aber es handelt sich, wie bei allen Romanen, die man als historische oder als kultur­geschichtliche wertet, auch hier nicht darum, die Grenzen zwischen geschichtlicher Ueberlieferung und phantasie­voller Ergänzung zu ziehen. Interessanter wäre die Frage, warum in Romanen aus der Römerzeit immer wieder nur die Epoche des Niederganges geschildert wird, die Zeit, in der die Fäulnis des Reiches, des Westens wie des Ostens, Zustände schuf, aus deren Sumpf eine Theodora eigentlich doch nur als groß­artige Blüte hervorwachsen konnte. Aber die ganze vor­christliche Zeit römischen Heldentums mit ihren so großen Menschen und bedeutsamen Taten hat zuweilen Tragödiendichtern, nie aber zu einem großen Werk einem Romanschriftsteller Interesse geboten. Vielleicht hängt dies mit den Neigungen der Dichter zusammen — oder noch mehr mit denen jener, die ihre Bücher lesen.

In: Neues Wiener Tagblatt, 24.5.1922, S. 2-3.

Ernst Fischer: Ein Mann ohne Eigenschaften. Ein Roman von Robert Musil (1930)

             Endlich einmal, in dem Tumult der nur-aktuellen, nur-lärmenden, nur-marktgängigen Bücher, ertönt die große Symphonie eines Romans, von dem Manne gedichtet, der den Mut hat, nicht für Analphabeten und andere Liebhaber von Kurzgeschichten, Magazinen und „Tempo-Tempo!“- Reportagen, sondern für intelligente Leser zu schreiben. Das ist allerhand; denn von hundert Schriftstellern verzichten neunundneunzig auf diese schwierigen und unerquicklichen Leser, die sich bei den sozusagen effektvollsten Büchern langweilen, die bei den sozusagen spannendsten Fabrikaten der Literatur kaum ein Gähnen unterdrücken können und bereit wären, die wildeste Handlung von zweihundert Seiten für eine halbe Seite Geist und Gescheitheit herzugeben. Hier aber ist das Erstaunliche geschehen: der Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil ist mehr als tausend Seiten lang (den Leser, der auf das „Tempo der Zeit“ eingeschworen ist, wird das nicht wenig abstoßen), und tausend Seiten lang atmet man die helle, hohe Luft von Geist und Gescheitheit. […]

Der Kollektivroman.

             Robert Musil hat eine neue Form des Romans gefunden; das Suchen nach dieser neuen Form hat begonnen, als die Menschen, die Bücher schreiben, erstaunt und beunruhigt entdeckten, daß in diesem Jahrhundert völlig anders gelebt wird, als in den besten Büchern der besten Autoren. Musil drückt das, nebenbei, präziser aus, als es bisher üblich war: „Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten „Faden der Erzählung“, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht… Die meisten Menschen… lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen „Lauf“ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem „Faden“ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“ Man könnte, mit einem etwas verschwommenen Wort, sagen, daß unser Leben ein „Kollektiv“ ist; und dieses Kollektivleben, dieses Ineinanderfluten und Auseinanderdrängen der ganzen Welt in jedem Einzelwesen, den Wirbel von Geschichte, Gesellschaft, Atmosphäre, Zweckhaftigkeit, Zwecklosigkeit, Illusion, Zufall, Gestirn und Bazillus unter der Haut der Persönlichkeit darzustellen, ist das leidenschaftliche Bemühen aller Schriftsteller, die dem Geiste und nicht dem Büchermarkt dienen. Der „Ulysses“ des James Joyce, „Manhattan Transfer“ von Dos Pas[s]os, der „Alexanderplatz“ von Alfred Döblin und nun der „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil sind die Bücher, in denen diese durchaus neue Methode der Lebensdarstellung kompromißlos angewendet wird.

                                                      Oesterreich-Ungarn.

             Wie im „Alexanderplatz“ das ungeheure Lebewesen Berlin, ist in Musils Roman das geisterhafte Monstrum Österreich-Ungarn das Kollektiv, in dem die Menschen kreisen wie Himmelskörper in einem Sonnensystem, wie Ionen in einem Molekül. Nie zuvor wurde dieses geisterhafte Monstrum, die mythische Monarchie, so traumhaft-wirklich, so gespenstisch-real heraufbeschworen, kein Historiker, kein Satiriker hat ihr innerstes Wesen mit solcher Intensität durchleuchtet. Ja, durchleuchtet: es ist eine Röntgenaufnahme, exakt und dennoch wolkenhaft zart, das Fleisch wie lockerer Schaum, die Knochen wie magische Schatten, die phantastische Sachlichkeit einer Röntgenphotographie. „Die Tage schaukelten und bildeten Wochen. Die Wochen bleiben nicht stehen, sondern verkränzten sich. Und wenn unaufhörlich etwas geschieht, hat man den Eindruck, daß man etwas Reales bewirkt… Stelle Eins schrieb, Stelle Zwei antwortete; wenn Stelle Zwei geantwortet hatte, mußte man Stelle Eins davon Mitteilung machen, und am besten war es, man regte eine mündliche Aussprache an; wenn Stelle Eins und Zwei sich geeinigt haten, wurde festgestellt, daß nichts veranlaßt werden könne; es gab unaufhörlich etwas zu tun. Es gab außerdem unzählig viele Nebenrücksichten zu beachten. Man arbeitete ja mit allen verschiedenen Ministerien Hand in Hand; man wollte die Kirche nicht verletzen; man mußte gewissen Personen und gesellschaftlichen Beziehungen Rechnung tragen; mit einem Wort, auch an Tagen, wo man nichts Besonderes tat, durfte man so vieles nichts tun, daß man den Eindruck großer Tätigkeit hatte.“ Wurde je das Wesen der Habsburgermonarchie, das legendäre „Oesterreichertum“, in eine bessere Formel gebracht?

                                                      „Etwas muß gescheh’n!“

             Folgendes „geschieht“ in dem Roman: Im Jahre 1913 erfährt man in Österreich, daß Deutschland im Jahre 1918 das dreißigjährige Regierungsjubiläum Wilhelm II. großartig feiern will. Was soll man da tun, erstens, um zu zeigen, daß Österreich ebenfalls da ist, und zweitens, um die Preußen zu ärgern? Also, man beschließt, eine Parallelaktion vorzubereiten, das siebzigjährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josef I. soll noch großartiger gefeiert werden. Aber wie? Dem Grafen Leinsdorf, dem Anreger der Aktion, fällt nichts Konkretes ein. Jedenfalls soll es eine „glanzvolle Lebenskundgebung Österreichs“ werden, ein „Markstein“ auf dem Wege zu einem „Ehrenplatz in der Familie der Völker“, und das alles mit dem Besitz eines achtundachzigjährigen „Friedenskaiser“ verknüpft. Das schwebt dem Grafen vor; alles andere ist Aufgabe eines Komitees, das sich in viele Komitees teilt, aus denen wieder ein Zentralkomitee gewählt wird usw. Das funktioniert fabelhaft; nur eine Idee fehlt. Künstler und Wissenschaftler, Beamte und Organisationen werden befragt, tausend Ideen tauchen auf, nur die eine Idee fehlt nach wie vor. Irgendetwas Pazifistisches wäre gut, das paßt zum „Friedenskaiser“, zur „Familie der Völker“ usw., man könnte eine Friedenskonferenz oder eine Spende für den Friedenspalast in Haag…, aber auch dagegen werden Bedenken laut, und auf eine behutsame Anfrage erwidert Seine Majestät mit delphischer Weisheit: „I laß mi net vordrängen!“ So durfte man vieles, nein alles, nicht tut; neue Ideen, neue Widersprüche, achselzuckend lächelt das Österreichertum: „Man kann die Forderungen der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläum-Suppenanstalt oder die des Schutzverbandes der Hauskatzenbesitzer verwirklichen, aber gute Gedanken kann man so wenig verwirklichen wie Musik! Was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es ist so.“ Es ist so. Immerhin: Die Tatsache, daß ein Komitee in Österreich etwas für das Jahr 1918 vorbereitet, erregt überall Aufsehen. Die Außenministerien ziehen Erkundigungen ein. Die Diplomaten haben zu tun. Die Slawen wittern etwas Deutschfreundliches, die Deutschen etwas Antideutsches, Demonstrationen und Gegendemonstrationen werden veranstaltet, alles in allem: „Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen und man läßt ‚Befehl weitersagen‘ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorn: ‚Der Wachtmeister soll voranreiten‘, so kommt hinten heraus: ‚Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‘ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.“ Schließlich kommt das Jahr 1914. Man weiß noch immer nicht, was 1918 geschehen soll. Aus einer pazifistischen Kundgebung wird wohl nichts werden. Aber General Stumm v. Bordwehr, der in das Komitee hineingeraten ist, niemand weiß genau, wie, hat einen guten Einfall: Wenn man schon keine Weltfriedenskonferenz einberuft, könnte man wenigstens die Armee und die Flotte aufrüsten; das wäre ja auch etwas. Der Roman endet ohne Ergebnis. „Etwas muß gescheh’n!“, davon sind alle überzeugt. Aber was? Das weiß keiner, 1914. Im September wußten es alle. Das liegt wie ein Riesenschatten über dem ganzen Roman. Riesenschatten der Ironie und des Untergangs.

                                                                   Unser Leben – Ein Experiment.

             Ja, dieser Roman, in dem auf tausend Seiten nichts und zwischen den Zeilen Phantastisches geschieht, ist viel mehr als der Roman der untergehenden Monarchie. Dieser „Mann ohne Eigenschaften“ ist der denkende, kalt-leidenschaftliche, skeptisch-abenteuerliche, unruhig-passive Mensch einer unterminierten, von rationalisiertem Wahnwitz durchfieberten, von exaktem Aberglauben durchflackerten Welt. Der Mensch im Höllenbetrieb einer Wirklichkeit, die wahrzunehmen und wahrzuglauben schwieriger ist, als die Zukunft der Menschheit aus den Sternen wahrzusagen. Der Mensch, der „die Wirklichkeit abschaffen“ und sie durch Ideen ersetzen will, der Mensch, der sich selber durchsichtig und sich selber unglaubwürdig geworden ist, der Mensch „ohne Eigenschaften“, weil die sogenannten Eigenschaften Rückstände der Vergangenheit sind, sonst nichts, leere Hülsen, entkernte Schalen, Schlagworte, Redensarten, weil unterirdische etwas völlig Neues, etwas Namenloses und Überwältigendes beginnt, weil wir nicht mehr fühlen, was wir zu fühlen meinen, weil wir keinen Kontakt mit unserem eigenen Ich haben, aber tausend rätselhafte Kontakte mit allem, was um uns vorgeht. „Etwas muß geschehen!“, das jagt die Menschen in diesem Roman von Leben zu Leben, das jagt sie Zielen zu, die verhüllt sind, das läßt sie alles als provisorisch, als Experiment, als Laboratoriumsversuch betrachten. „Etwas muß geschehen!“ Es ist als bröckle das „Ich“, der Mörtel der Eigenschaften, der Kalk der Vorurteile, die Stukkatur der Konventionen, von uns ab und unser Unterirdisches, bisher unausgesprochen und unausprechlich, taucht nackt und kraß ans Licht. „Etwas muß geschehen!“ Die alte Ordnung ist nur mehr eine dünne Kruste von Staub, Spinnweb, Erinnerung, die neue Ordnung besteht noch nicht, unser Leben ist ein Experiment. Unsere große Leidenschaft ist die Neugier, die Gier nach dem Neuen. Unsere große Tugend ist die Tapferkeit der Erkenntnis. Unsere große Sehnsucht ist die Synthes aller Widersprüche zu einer klaren, präzisen und ordnenden Idee.

             Das alles auf tausend Seiten in einzigartiger Vollkommenheit der Sprache und des Gedankens gesagt, kann nicht auszugsweise wiedergegeben werden. Man muß dieses Buch lesen und wieder lesen; bisher gibt es kaum ein zweites, das unser geistiges Schicksal, das den Aufbruch unseres Lebens ins Unbekannte mit ähnlicher Größe und Leuchtkraft erzählt.

In: Arbeiter-Zeitung, 9.12.1930, S. 8.

Karl Federn: Lion Feuchtwangers „Jud Süß“ (1925)

Vor hundert Jahren hat Wilhelm Hauff die Geschichte des jüdischen Finanzministers des Herzogs Karl Alexander von Württemberg, Josef Süß Oppenheimer unter dem Titel Jud Süß in einer seiner zartlinigen Novellen behandelt. Unter dem gleichen Titel, dem Namen, mit dem das Volk den glänzenden und verhaßten Mann bezeichnete, hat jetzt Lion Feuchtwanger einen Roman veröffentlicht.

Wilhelm Hauff lebt in seinen prächtigen und farbenreichen Märchen fort, während seine Novellen uns heute wie sauer gezeichnete, mit kalten Farben und Schatten ausgeführte und ein wenig vergilbte Skizzen anmuten. Sein Roman Liechtenstein ist ein hübscher Bilderbogen für die Jugend. Die historische Erzählung stand durch die ganze erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und länger unter dem Einfluß Walter Scotts. Es war eine theatralisch äußerliche Auffassung und Darstellung der Ereignisse. Die unsägliche Fülle, die außerordentliche Kompliziertheit der Vorgänge in der eigenen Zeit begann man zu fühlen; Balzac, der Schöpfer des modernen Romans, stellte sie dar; für die Vergangenheit erlaubte man sich eine sonderbare Vereinfachung: ein wenig Pathos und Kostüm genügte.

Seither hat die historische Forschung durch die Erschließung und Beobachtung einer Fülle früher  unbeachteter Quellen und Dokumente die vergangenen Geschlechter in ihrem intimsten Leben gleichsam beobachten gelernt; und die Dichtung, der ja die Vergangenheit als Stoff nur durch die Geschichte vermittelt wird, müßte ihr folgen und stellt sie heute mit ganz anderer Erkenntnis dar. Wir erkennen die tiefe Gleichheit, die uns mit den Menschen, die vor uns waren, verbindet, mit denen wir alle Urtriebe gemeinsam haben, Hunger, Liebe, Ehrgeiz, Rachsucht und Habgier und die anderen Lüste sowie die natürlichen und die kosmischen Ereignisse Geburt, Tod und Krankheit, Land und Meer und den Wechsel der Jahreszeiten, die immer gleich wichtig und mächtig über unser Dasein bestimmen. Zugleich aber haben wir die unendliche Verschiedenheit in en Formen des

Lebens und im Ausdruck von jetzt und einst schärfer erkannt. So haben wir im Spiegel der psychischen Komplikationen unserer eigenen Zeit die der Vergangenheit verstehen gelernt, und wir stellen heute die Menschen und Ereignisse vergangener Jahrhunderte mit ganz anderen Farben dar und suchen diesen Darstellungen eine viel intimere und wahrere Stimmung zu geben als jene mit ein wenig Kostüm und Pathos geschaffene, die vor fünfzig Jahren üblich war. Das Abblassen und Schönfärben in der Literatur hat aufgehört. Und so wie wir in unserer eigenen Zeit gefährliche Unterströmungen erkannt haben und nicht verschweigen, so kennen wir heute die wirklichen Schrecken der Vergangenheit, die früher hinter den Kulissen und Vorhängen des pathetischen Theaters verborgen blieben: Und es verlangt heute fast eine größere Intuition und Begabung des Dichters, die Vergangenheit künstlerisch vor uns auferstehen zu lassen, als die Gegenwart zu schildern, wobei so häufig eine billige Beobachtung an die Stelle schöpferischer Phantasie tritt und so wenig wie der photographische Apparat die Kunst ersetzen kann.

             Feuchtwanger läßt eine ganze Epoche vor uns auferstehen. Wo Hauff eine kurze tragische Szene mit ein wenig Kostüm darstellt, gleichsam eine Skizze mit ein paar Schatten und Lichtern hinsetzt, da entrollt der Autor unserer Zeit ein breites Gemälde, läßt Fürsten und Völker, die Schicksale der einzelnen wie die der Massen in tragischer Verkettung vor unseren Augen sich entwickeln. Sein Stoff, in diesem Falle die Vorstellungen von einem vergangenen Leben, die er aus Büchern gewonnen, und durch sein dichterisches Schauen und die in eigener Erfahrung erworbene Menschenkunde belebte, ist nicht nur die Geschichte und die Tradition von dem fragwürdigen jüdischen Finanzminister, sondern die Welt des achtzehnten Jahrhunderts, oder doch ein Teil dieser Welt, die süddeutschen Kleinstaaten des Rokokos. Württemberg, seine Fürsten, seine Stände und sein Volk in ihren Kämpfen um die Verfassung, die benachbarten Reichstädte und Bischöfe; Katholiken und Lutheraner in ihren Gegensätzen; Weltleute und Pietisten, Beamten und Offiziere und dazwischen als seltsame fremdartige bewegliche und bewegende Gestalten die Juden, gehaßt, verfolgt und mächtig in alles tief verwickelt und verstrickt durch die Fäden des Geldes, die so vielfach durch ihre Hände gehen. Diese alle tauchen auf aus der Masse des Volkes und versinken wieder im Volk, das wie zu allen Zeiten das Opfer der wenigen Gewalthaber ist, die, stark und listig oder unbewußt, es zu ihren Zwecken trügen, treiben und ausbeuten und deren williges oder murrendes Werkzeug es selber ist. Das lebt und brodelt vor unseren Blicken auf allen Straßen, in Fürstenschlössern in Bädern und auf den Marktplätzen der Städte, in Kramläden, Wirtschaften, Kirchen und Synagogen, wie in einsamen Winkeln des weiten Landes.  Und auf dem Hintergrund dieser ameisenartig durcheinander kribbelnden Masse treten scharf umrissen, durch das kreisende Räderwerk der Ereignisse alle unentrinnbar mit einander und mit ihrem Hintergrunde verflochten, die einzelnen in ihren Sonderschicksalen hervor, vor allein der dem Buch den Namen gab, der geschmeidige, elegante, lebensgierige Halbjude Josef Süß Oppenheimer, unerhört begabt, ehrgeizig, oberflächlich, frevelhaft gewissenlos und doch anziehend durch seine Kühnheit und seine Tragik. Und neben ihm der Herzog Karl Alexander in seiner stattlichen Wüstheit, seiner falschen — Biederkeit und so viele andere Männer und vor allem auch Frauen jeder Art, Fürstinnen, Maitressen, Bürgerfrauen und Mädchen bis zum armseligsten Schlammgeschöpf hinunter, eine ungezählte, glänzend gesehene, glänzend beherrschte Komparserie, die man nicht, sie aus dem Buch heraushebend, nachzeichnen kann, wie das lebendige Leben sich darstellen, aber nicht kritisch charakterisieren läßt.

Ob die geschichtlichen Vorgänge sich so abgespielt haben, ob Feuchtwanger, wie er als Dichter durfte und mußte, das Räderwerk zu seinen Zwecken eingestellt und verschoben hat, ist gleichgültig; genug, daß er uns zwingt, was er erzählt, // zu sehen und zu glauben. Als ein wesentliches Moment geht der Gegensatz und die Wechselwirkung von Juden und Christen durch das Buch, die darzustellen so oft versucht wird und so selten gelingt. Hier gelingt es, weil es mit gelassener Kunst, gleichsam absichtslos geschieht. Das Pathos wie der Humor im Spiele der Rassen, die wenige Herrlichkeit und die viele Gemeinheit und Niedertracht in den Menschenseelen, und doch auch das Süße und vor allem das Mitleidswürdige ihres Wesens und Daseins ist voll zum Ausdruck gebracht. Und während dieses ganze bunte Welttheater, auf der einen Seite gesehen, in Regierungsintriegen, Geschäften, Prozessen, Liebeshändeln, in erklärlichen Zusammenhängen verläuft, so fällt mitunter, wenn der Vorhang oder die Kulisse sich zu verschieben scheint, plötzlich ein Ausblick in die geheimnisvolle Welt dahinter, wo unsichtbare und unbekannte Mächte das Ganze an magischen Fäden zu schieben und zu leiten scheinen.

Das Buch ist in einer starken und gesunden Sprache geschrieben, die weder gesucht noch verzerrt ist und doch keinen Augenblick leer oder gewöhnlich wird. Die Sätze sind durchblutet und übervoll an Inhalt; jeder fügt ein Geschehnis, eine Farbe, einen Sinn hinzu; keiner ist Füllsel, jeder ist notwendig. Die Handlung geht stark und unaufhaltsam vorwärts, ohne Stillstand, ohne Länge. Gern bezeichnet Feuchtwanger seine Personen mit ein paar bestimmten, scharf gewählten Worten, die ihr Wesen oder ihre Erscheinung kennzeichnen, und die, jedesmal wiederholt, den Eindruck beständig verstärken und die einzelnen Figuren so plastisch hervortreten lassen; ähnlich wie Richard Wagner mit seinen Leitmotiven die einzelnen Helden und andere wiederkehrende Vorgänge begleitet und anzeigt. Es ist ein technischer Kunstgriff, den schon Thomas Carlyle in seinen historischen Werken anwendete, den Thomas Mann in den Buddenbrooks einführte. Je mehr ein Roman sich dem Kunstwerk nähert, desto leichter wird der Autor zu diesem rhythmischen und zugleich malerisch wirkenden Mittel greifen. Und dieser Roman ist, was so wenige Romane sein können, was die besterzählten und unterhaltendsten zumeist nicht sind, ein wirkliches Kunstwerk durch einen straffen Aufbau, die Rhythmik seines Ganges das harmonische Verhältnis der einzelnen Teile, die Notwendigkeit, die in ihm herrscht. Oder vielmehr, es ist gar kein Roman — wenn man sich über die Willkürlichkeit der Werte hinwegsetzen will — es ist ein Epos: ein Epos von Christen und Juden und vom deutschen Leben im fürstlichen und bürgerlichen Rokkoko des achtzehnten Jahrhunderts.

In: Neue Freie Presse, 4. 10. 1925, S. 32-33.

A.W.: Kurt Sonnenfeld: Eros und der Wahnsinnige. Ein Großstadtroman. Mit einem Geleitwort von Felix Salten.

Bruckners Verbrecher finden hier ihr episches Gegenstück. Nicht nur das Stoffliche, auch das Formale berechtigt den Vergleich. Wie in jenem Drama mehrere Themen parallel geführt werden, so bilden gleichsam drei Novellen den Roman. Die erste klagt den Paragraphen 144 an, die zweite erzählt von dem vom Strafgesetz fast er­zwungenen Bund von Anomalie und Erpressung. Die letzte der drei Novellen aber ergänzt die beiden vorhergehenden. Der gespenstische Unmensch, der in diesen im Hintergrund lauert, schattenhaft, unfaßbar, steht in der dritten Erzählung im Mittelpunkt, hell beleuchtet durch eine an Freud geschulte Psychologie. Diese Geschichte eines Klingsor oder Alberich, bei dem Eros sich darin erfüllt, daß er nachspürt fremdem Eros als ein Denunziant, ihm nachspürt, um ihn zu vernichten, diese Geschichte ist wohl die psychologisch interessanteste des gewiß nie langweiligen Buches. Ungemein geschickt ist das Ganze gestaltet, stets auf Spannung bedacht. In manchem mag Thomas Mann erlauchtes Vorbild gewesen sein. Etwa in gewissen distanzierenden Skeptizismen und Ironien von Redewendungen oder in der Art, den oder jenen Satz ge­wissermaßen als Leitmotiv oder Refrain zu verwenden. Schon diese behutsame und kultivierte Darstellungsweise wehrt die Gefahr ab, daß die Kraßheit des Stoffes übermächtig werde. Und vollends bewirkt dies der geistige Unterbau. Soziologie und Philosophie fundieren. Über die eigentlichen Themen hinaus versucht Sonnenfeld Wien zu zeichnen, das Wesen dieser Stadt von den letzten Vorkriegsjahren an bis in unsre Zeit. Ein Bild entsteht, inhaltlich interessierend, markant und scharf. Und was die Philosophie betrifft, ist Schopen­hauer vermutlich nicht nur der Lehrer einer der Personen des Buches, sondern auch der des Autors selbst. Düsterster Pessimismus beherrscht den Roman. Er rennt sich wund den verschiedenen sozialen Systemen und den Erkenntnissen der Psychoanalyse entlang. Dieser bittere Ernst erhebt das Buch weit über eine Sensation, wie sie wohlfeil und ohne viel Mühe krasse Themen erzeugen. Felix Salten schrieb dem Roman ein warmherziges Vorwort und bezeugte mit seinem angesehenen Namen den Wert dieses Buches.

In: Neues Wiener Tagblatt, 7.6.1929, S. 27.

Walter Angel: Ein Roman aus Oesterreichs Frühzeit (1923)

(Emil Scholl: Der letzte Herzog)

Der historische Roman, durch die gegenwärtigen konjunkturellen Rücksichten, die ein von jeder Bedachtnahme auf Publikumswünsche und Verlegervorsicht völlig unbeschwertes, nur dem Gestaltungswillen dienendes Schaffen fast nicht mehr dulden, noch vernachlässigt, hat in dem Wiener Emil Scholl, der sich bereits in seinen früheren Romanen, im Roßtäuscher vor allem, als ein Abseitiger erwiesen hat, einen gediegenen und ernst zu wertenden heimatlichen Er­neuerer gefunden. Sein jüngst erschienener Babenberger-Roman Der letzte Herzog, obwohl etwas breit geraten und des stärksten Schwunges, der mächtigen und einheitlichen Be­wegung, wie sie der Stoff darbot, entbehrend, obwohl in den Einzelheiten gelungener als, in der Gesamtkomposition, hat Vorzüge, die ihn weit über eine Durchschnittsleistung erheben und das Werk eingehenderer Betrachtung würdig erscheinen

lassen: Stärke des Einfühlungsvermögens, unterstützt von vertrauter Kenntnis des historischen und kulturgeschichtlichen Materials, eindringliche Modellierung der Hauptfigur, seelischen Tiefblick, sprachliche Sorgfalt.

Schon die Wahl des Sujets zeigt, daß sich Emil Scholl die Arbeit nicht leicht macht. Friedrich den Streitbaren, gewiß eine der fesselndsten Persönlichkeiten der altösterreichischen Ge­schichte, eine ihrer kompliziertesten jedoch auch, eine Gestalt

von absonderlichstem und verwirrendstem Zuschnitt, schwer zu erfassen und noch schwerer künstlerisch zu fassen in ihrer be­gabten und geistreichen Unberechenbarkeit, der Zwiespältigkeit der Neigungen, dem Wechsel der Haltung, der Gesinnung und der Interessen, gerade diesen Babenberger, den letzten und degenerierten Sproß uralten Blutes, hat Scholl zum Helden seines Buches erwählt. Mit modern-psychologischem Apparat trachtet er dem Wesen des Babenbergers beizukommen, in mancher Deutung von Friedrichs Art vielleicht von der histori­schen Linie abirrend oder diese absichtsvoll verlassend, doch eben dadurch, daß er das Licht neuester Seelenanalyse auf den Herzog fallen läßt, ihn unserem Verständnis und- damit unserer Teilnahme näher rückend.

Friedrich, von der Geschichte der Streitbare geheißen, lag während einer nicht allzu langen Regierung (von 1230 bis 1246) ständig im Felde, mit den Nachbarn, den Böhmen und Ungarn, mit dem Hohenstaufen Kaiser Friedrich II., mit aufständischen Dienstmannen, mit den Tataren. Auch den Bürgern von Wien war er übrigens, zumal in den ersten Jahren seiner Regentschaft, keineswegs wohlgesinnt… Als händelsüchtig typischer Raufbold seiner Zeit, lebt er in der Historie fort, gleichzeitig als brutaler Schürzenjäger, als Lüstling arger Sorte. Emil Scholl unternimmt es nun, Charakterzüge und Geistigkeit dieses Babenbergers, der

gleichzeitig ein Mann von Schärfe des Verstandes, von Großmut, von hoher Bildung und ein Freund der Künste war, aus einem harten und ungewöhnlichen Schicksal zu erklären. An Friedrich, als dritten Sohn Leopold des Glorreichen, ist nämlich die Herrschaft gleichsam unrecht­mäßig, durch eine Verkettung unglückseliger Zufälle, ge­kommen, weil die beiden älteren Brüder frühzeitig, noch in den Knabenjahren, starben. Für das Kloster mag der Drittgeborne ursprünglich bestimmt gewesen sein, nie hat der Vater, den Verlust des eigentlichen Erben nicht ver­schmerzend, den Jüngsten als Nachfolger innerlich anerkannt, nie ihn zum Mitwisser seiner Pläne, zum Genossen seiner Taten gemacht. Einen verbitterten, beiseite geschobenen und zur Untätigkeit verurteilten Prinzen stellt der Autor anfangs vor, uns hin, einen Unglücklichen, der sich aus Trotz in das Leben eines Schlemmers und Wüstlings flüchtet, dabei aber wohl wissend, daß er für töricht, verspielt, regierungsunfähig

gehalten wird. Da ruft den Neunzehnjährigen der un­erwartete Tod des Vaters auf den Thron. Die Zufällig­keit einer solchen Herrschaft bedrückt Friedrich und stachelt ihn an, mit dem Schwert sich sein Erbe erst zu erwerben. An Widersachern innerhalb und außerhalb der Grenzen // fehlt es nicht; glaubt Ritterschaft doch wie mancher Nachbar, mit dem verweichlichten Knaben leichtes Spiel zu haben. Ein anderer jedoch, als der, den man zu kennen vermeint, setzt der junge Babenberger sich den Herzogshut aufs Haupt, und nachdem er zuerst Verblüffung und spöttisches Staunen erregt hat, verbreitet er bald Schrecken und erzwingt sich, in Konsequenz seines Entschlusses Gelegenheiten ausschlagend, durch Unterhandeln seine Macht zu befestigen, mit Waffengewalt die Sicherung seines Besitzes. 

So hätte also der Autor für die eine Seite von Fried­richs Charakter eine psychologisch durchaus glaubwürdige Motivierung gefunden. Es obliegt ihm nun, auch die Laster­haftigkeit des Babenbergers oder was für eine solche nach äußeren Merkmalen gemeinhin gehalten werden muß, aus höher zu qualifizierenden Triebmomenten abzuleiten, um für Friedrich jenes Maß menschlichen Begreifens zu ge­winnen, das auch verabscheuungswürdiger Untugend noch Verzeihung gewährt. Hier wartete des Autors die schwierigere Aufgabe — aber er hat auch diese gelöst. Sein Babenberger, ein Mann, der mit neunzehn Jahren die dritte Gattin hatte — die beiden ersten Ehen waren vom Papst ge­löst worden — der in Bürgerhäuser einbrach, um sich die Tochter zu holen, der die Hand nach eines Halbbruders

Frau ausstreckte und nach einer blutjungen Nichte, wirkt nicht abstoßend. Denn allmählich wird uns Einsicht in Friedrichs Herz gestattet: in das zerrissene, ewig ruhelose Herz des Kinderlosen, dem jeder Machtgewinn den Kummer, des Erben seines Besitzes zu entbehren, nur vermehrt, der immer gieriger das Weib sucht, das ihm den Sohn schenkt, und der endlich in düsterste Verzweiflung sich verkriecht, weil er sein Leben zwecklos verrinnen sieht, sich fluchbeladen glaubt….

Weit im Vordergrund, in monumentaler Einsamkeit, steht Friedrich von Babenberg. Eine Gestalt, die ein Dichter über die Jahrhunderte hinweg blutlebendig gemacht hat. Der Abstand, in dem die übrigen Figuren sich gruppieren, schwächt bereits ihre Deutlichkeit. Und der verschwenderische Reichtum an Farbe, mit dem die eine Gestalt bedacht, läßt die Farben der anderen erst recht matt erscheinen. Einzig der Diplomat des Hofes, Adalbert v. Justingen, ein beweglicher, geistreicher, verschlagener Kopf, und die hin­gebungsvolle Dietmut, das Bürgerskind, das dem Herzog zur linken Hand angetraut wird, sind mit schärferen Konturen und lebhafterer Schattierung gepinselt. Es sei indes die Vernachlässigung der Nebenfiguren nicht geradezu als störender Mangel bezeichnet, weil ihnen der Anlage des Werkes nach kaum mehr als Episodenrollen zugedacht sind. Dem Hintergrund hingegen, dem Bild der Stadt Wien, ist liebevollste Kleinmalerei gewidmet, Gassen und Plätze und Märkte des mittelalterlichen Wiens Mit ihrem Gewimmel von Handwerkern und Bürgern, Bauern und Soldaten sind zu buntestem und bewegtestem Dasein erweckt.

Zusammenfassend kann gesagt werden: ein von reicher Begabung erfülltes, vielerlei Anregung bietendes und zumal für den Österreicher, dem es ein Stück ziemlich dunkler, heimatlicher Geschichte erhellt, interessantes Buch.

In: Neue Freie Presse, 15.4.1923, S. 27-28.