N.N.: Die Republik und die Juden. (1918)

             Gewaltige Hammerschläge haben das alte Gefüge des österreichisch-ungarischen Staates zertrümmert. Unter Schwierigkeiten und Kämpfen wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen, welche nun ihre Entwicklungen, welche nun ihre Entwicklung nehmen wird. Die 16. Stunde des 12. November 1918 war damit die Schicksalsstunde der habsburgischen Dynastie, deren letzter Monarch in einem bewegten Schreiben von den Völkern Abschied genommen hat. Was geschehen ist, ist am Webstuhl der Zeit nach den Regeln der Geschichte und den unerbittlichen Gesetzen der Logik entstanden und weder der Einzelne, noch kleine Gruppen konnten darauf einen nennenswerten Einfluß nehmen. Der große Kampf richtete sich nicht gegen Personen, sondern gegen Systeme, und auch die Feinde der Monarchie erkennen bei allem Willen zur Freiheit an, daß der Kaiser selbst gute Absichten hatte, aber die Entwicklung der feindseligen Ereignisse nicht mehr aufhalten konnte und ihnen deshalb zum Opfer fiel. Auch wir Juden erinnern uns trotz unserer alten Liebe zur Freiheit und unserer Entschlossenheit, dem neuen Staat als seine alten Bürger unser Bestes zu geben, dankbar an die Tatsache, daß Kaiser Karl nicht die Schuld daran trug, wenn wir ungerecht von Mächten verfolgt wurden, die stärker waren als er und ihn auch selbst schließlich ins Verderben stürzten.

             Jetzt schreiten auch wir Juden mit großen Hoffnungen in die neue Zeit hinein, welche große und schöne Grundsätze verkündet hat. Wir erwarten, daß auch für uns viele Sünden der Vergangenheit begraben werden, unter denen wir zu leiden hatten. Was wir verlangen, ist kein Vorteil, nicht einmal der Schatten eines Vorteils, ist etwas so Selbstverständliches, daß man eigentlich gar nicht davon reden sollte. Wir wollen nichts als Recht und Gerechtigkeit, als die Gleichheit vor dem Gesetz und das Urteil der Menschen. Hoffentlich verschwindet jetzt das eingewurzelte Verbrechen, uns als eine Gesamtheit zu betrachten, der man die Verbrechen Einzelner vergrößert und beschwert zur Last legt, während man alles Gute unterschlägt und übersieht. Man sieht in uns ein Volk des Nutzens und rechnet uns jeden habgierigen Kaufmann zehnmal an. Und doch ruft jetzt der erschütternde Tod des großen Arbeiterführers Viktor Adler der ganzen Welt ins Gedächtnis, wie viele und wie große opferbereite Idealisten unter den Juden leben. Nicht einige von diesen Führern zum Licht sind Juden, sondern zu Hunderten und Tausenden können sie genannt werden. Und nicht nur politische Idealisten haben wir in Massen, sondern auch von reinstem Feuer geläuterte Führer auf allen Gebieten des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, der Wissenschaft, der Kunst, der Literatur, der sozialen Frage. Wird man diese Kräfte befreien und benützen oder sie wie bisher unfruchtbar verkümmern lassen und zurücksetzen?

             Das ist die große Frage, die wir Juden an die Zukunft, an den neuen Staat und seine Machthaber richten. Es fällt uns gar nicht ein, etwas Böses und Schlechtes in unserem Kreis zu schützen oder zu verbergen. Aber der Übeltäter mag allein büßen und wir nicht mit ihm. Wir anderen, die wir die überwältigende Mehrheit der Juden sind und nichts anderes wollen als ehrlich unser freies Leben für uns selbst zu bestreiten und für die die Öffentlichkeit alles Edle und Schöne anzustreben und unterstützen – wir wollen unter dem Schutz der für alle gültigen Gesetze, getragen von der Achtung für gute und redliche Arbeit, gestärkt von der Gerechtigkeit der Moral, frei und offen als Vollbürger die Schwelle der neuen Zeit und des neuen Staates überschreiten.

In: Dr. Bloch’s Wochenschrift. Zentralorgan für die gesamten Interessen des Judentums, 15.11.1918, S. 1.

N.N. [Leitartikel]: Judentum und Völkerbund. (1924)

Die erste Werbeversammlung des jüdischen Völkerbundliga.

             Gestern fand im Festsaale des Ingenieur- und Architektenvereins eine zahlreich besuchte Versammlung der jüdischen Völkerbundliga statt, zu der als Gast und Hauptredner der Präsident der österreichischen Völkerbundliga, Botschafter a.D. Dr. C. Th. Dumba, geladen war. Unter den vielen anwesenden Persönlichkeiten bemerkte man insbesondere den österreichischen Gesandten in Berlin Riedl.

             Der Vorsitzende, Oberrabbiner Dr. Chajes, führte in seiner Begrüßungsansprache die Gründe an. die die Juden bewogen haben, eine eigene jüdische Völkerbundliga zu schaffen. „Es ist unser Bestreben gewesen,“ sagte er, „die jüdische Sache durch eigene jüdische Vertreter beim Völkerbunde vorbringen zu lassen, ferner veranlaßte uns hierzu die Erwägung, daß gerade wir es sind, die das größte Verständnis für die Vorzüge und Schwächen der anderen Volker haben, weil wir uns durch unsere jahrtausendelange Knechtschaft an ihre kulturellen Verhältnisse anpassen mußten. Der dritte Grund für die Schaffung der jüdischen Völkerbundliga soll der sein, daß wir als prägnantestes Beispiel in der Weltgeschichte dafür zeugen, wie wenig brutale Kraft und Unterdrückung auszurichten imstande sind. Wir wurden geknechtet, wie kein anderes Volk und stehen immer noch völlig ungeschwächt da. Der vierte Grund“, schloß Redner, „ist, daß gerade das Judentum es war, das als erster durch seine Propheten den Gedanken der Völkerversöhnung verkünden ließ“.

             Der Präsident der österreichischen Völkerbundliga, Dr. Dumba, dankte für die herzliche Begrüßung und führte aus, daß die Grundlage der Schaffung des Völkerbundes auf zwei Gedanken basiere. Es soll die Wiederholung einer solchen Katastrophe, wie sie der Weltkrieg heraufbeschworen hat, in Zukunft hintangehalten werden, und zweitens sollen die wirtschaftlichen Fäden, welche durch die willkürlichen Friedensverträge zwischen den einzelnen Staaten zerschnitten wurden, wieder angeknüpft werden. Hierauf gab der Redner einen kurzen historischen Überblick über die Entwicklung des Völkerbundes, der, wenn auch unleugbare Fehler, so doch andererseits wieder ungeheure Vorteile habe. Vor dem Kriege bestand das System der Allianzen und des europäischen Gleichgewichtes, das aber in dem Moment gestört wurde, als England sich auf Seite Frankreichs und Rußlands stellte. Dies führte unaufhaltsam zur Katastrophe. Während des Krieges war Sir Edward Grey der erste, der den Gedanken der Völkerversöhnung offiziell aussprach und dann Wilson, der in seinen 14 Punkten die Gedanken aufgriff, die die Vertreter der kriegsführenden und neutralen Mächte im Haag anregten.

                                                      Fehler des Völkerbundes

liegen darin, daß er ebenso wie der Diktatfriede in Versailles gestiftet wurde und daß ihn nur sehr viele, stark einschneidende Kompromisse möglich machten. Nach einer kurzen Darstellung der Konstruktion des Völkerbundes kam der Redner auf seine Aufgaben zu sprechen. Eine seiner Hauptausgaben sei die allgemeine Abrüstung, der er wenigstens schon soweit gerecht wurde, daß die Weiterrüstungen eingestellt wurden. Wohl die wichtigste und schwerste Aufgabe des Völkerbundes sei der Schutz der nationalen und religiösen Minderheiten und gerade in dieser Hinsicht habe er den Juden vieles zu bieten. Aber auch auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiete hat der Völkerbund hohe Funktionen zu erfüllen. Seine erste Tat sei die Sanierung Österreichs. Heute stehen noch drei große Mächte außerhalb des Völkerbundes, Amerika, weil es den Vertrag von Versailles nicht anerkennt, Deutschland und Rußland. Gelingt es auch diese für ihn zu gewinnen, dann wird an Stelle von Allianzen der Verbund seine segensreiche Tätigkeit entfalten können.

Oberrabiner Dr. Chajes dankte dem Vortragenden für seine klaren Darstellungen, die van den Zuhörern mit lautem Beifall belohnt wurden und erklärte, es mute sonderbar an, daß gerade diejenigen, die den Mi­noritätenschutz am stärksten in Anspruch nehmen, die Juden am meisten unterdrücken.

In: Wiener Morgenzeitung, 22.5.1924, S. 1-2.

Julius Löwy: Was wir wollen. (1919)

             Die schweren Kämpfe, unter denen sich jetzt ganz Europa windet, deuten an, daß wir uns an der Schwelle einer neuen Zeit befinden. Wenn einmal nach Jahrhunderten die Geschichte Europas geschrieben werden wird, so wird eine Änderung der Epocheneinteilung erfolgen müssen. Das Mittelalter wird nicht mehr reichen bis zur Entdeckung Amerikas, bis zum Fall Konstantinopels, bis zur Ausweisung der Juden aus Spanien, sondern es wird sich erstrecken bis zum Jahr 1918, das den Fall der letzten Bollwerke mittelalterlichen Denkens und Fühlens, der Zarismus in Rußland und der Militärmonarchien in Mitteleuropa brachte. Eine neue Zeit ist da, ein neues Ideal dämmert herauf, das der Selbstbestimmung der Völker, über das noch vor einem Jahre die mitteleuropäischen Staatsmänner gespottet und gelacht haben. All das Weh und Leid, das jeder Einzelne durchzumachen hat, soll einst reichlichen Lohn finden in dem Bewußtsein, zur Erreichung dieser Ideale beigetragen zu haben. Aus dem Leid der Völker soll sich das Glück der Menschheit formen, die sich aus einer Familie der Völker zusammensetzen soll.

             An das Tor, das zu dieser lichten Zukunft führt, pocht jetzt auch das jüdische Volk, das eine Phase seiner Geschichte vollendet hat. Es hat bisher versucht, die Frage seiner Emanzipation länderweise für seine einzelnen Glieder zu lösen. Dieser Versuch ist mißlungen. Kein Volk hatte bisher so sehr unter den Bedrückungen und den Ketten der mittelalterlichen // Auffassung zu leiden wie das jüdische Volk. In Österreich bis zum Jahre 1867 ausgeschlossen von allen politischen und wirtschaftlichen Rechten – von Freiheit und Gleichheit gar nicht zu reden – hatte es in den letzten fünfzig Jahren schwer zu kämpfen, um seine geistigen und wirtschaftlichen Fähigkeiten zu entfalten. Politisch konnte es als Volk überhaupt nicht zur Geltung kommen. Nicht etwa allein von den politischen Parteien, die sich Aufrechterhaltung der Vorrechte einzelner Klassen und Konfessionen zur Aufgabe machten, sondern von der Organisation des Staates selbst, von der „Allerhöchsten Stelle“ bis zum letzten Straßenräumer wurde die Ausschaltung des „jüdischen Einflusses“ als eine der wichtigsten Angelegenheiten betrachtet. Jüdischen Einfluß nannte man es, wenn der Jude seine Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit stellen wollte. Jüdischen Einfluß nannte man es, wenn die Juden an dem großen wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben wollten. Und daraus entspann sich ein unterirdischer Kampf zwischen den Kräften dieses so regsamen Volkes und seinen Unterdrückern. Das Judentum führt diesen Kampf nicht in geschlossener Front, nicht auf ein Ziel konzentriert, nicht von einem einheitlichen Willen beseelt. Die Juden nahmen anfänglich in dem dunklen Drange, sich politisch auszuleben, teil an den nationalen Kämpfen zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Polen und Ruthenen, während sie in Ungarn ganz in das Lager des Magyarentums abschwenken. Mit der fortschreitenden Politisierung der Öffentlichkeit trat ein Teil der jüdischen Intelligenz in das sozialdemokratische Lager ein. An allem nahmen die Juden teil, nur nicht am jüdischen Leben; überall versuchten sie ihre Gleichberechtigung zu erzwingen, und wo dies nicht ging, beugten sie sich der aus dem Mittelalter überkommenden Auffassung, daß der Jude nur infolge seiner Konfession ein Fremder sei. Legten sie die Konfession ab, so waren sie voll- und gleichberechtigt. Die Taufseuche hat dem Judentum viele wertvolle und gute Kräfte genommen. Unerhörte Opfer an Menschen hat das Judentum fremden Interessen gebracht, es hat fast seine Kraft verzehrt. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts begann sich eine innere Wandlung vorzubereiten. Die jüdische Jugend erkannte, daß das Judentum, wenn es sich noch weiter als bloße Religionsgemeinschaft betrachtete, verdorren müsse, sie erkannte, daß die individuelle Emanzipation unmöglich sei, daß das Judentum als Nation seine Befreiung aus dem unwürdigen Sklavendasein fordern, erstreben und erkämpfen müsse.

[…]

             Wir haben oben gesagt, daß das Judentum den Kampf um seine Existenz ohne einheitlichen Willen führte. Aber seine traurige Lage wurde auch noch durch einen anderen Umstand mitgeschaffen: Durch die Verständnislosigkeit, mit der Staaten und Völker dem Judentum gegenüberstanden und noch stehen. Was weiß unsere Umgebung von uns? Wir sind ihr Fremde, die religiösen Gebräuche des Judentums erscheinen ihr bizarr oder mystisch, jedenfalls aber unerklärlich. Unsere Umgebung hat mehr Interesse für Eskimos und Azteken als für ein Volk, das in ihrer eigenen Mitte lebt. Und aus dieser Verständnislosigkeit, aus dieser Unkenntnis der jüdischen Art, der jüdischen Seele erklärt sich drei Viertel jener barbarischen Strömung, die man Antisemitismus nennt. Das letzte Viertel ist der Haß gegen das Fremde überhaupt.

             Wir wollen Achtung für unser Volk, Respekt vor seinen unleugbaren, großen geistigen Fähigkeiten. Wir wollen ehrliche, offene Aussprache mit allen, die eines redlichen Willens sind. Kein Volk und kein Staat hat mit dem „Hepp-Hepp“ etwas anderes erzielt, als daß der Kampf gegen die Juden sich schließlich zu einem Kampf der einzelnen Klassen erweiterte. Aus den Pogromen in Rußland – ist diese Lehre schon vergessen? – ist schließlich der Anarchismus und der Nihilismus geworden. Die Judenhetzen in Rumänien führten letzten Endes zu dem Bauernsturm gegen die Schlösser der Adeligen. Wenn sich die Völker und die Staaten mit uns auseinandersetzen, wenn sie uns das Recht zuerkennen, unser Schicksal selbst zu bestimmen, unsere Gemeinden in Volksgemeinden zu verwandeln, wenn sie unseren Anspruch auf Freiheit und Land anerkennen, dann wird es für sie und für uns besser sein.

             Das Judentum wird für sich arbeiten können, es wird im Bunde der Völker kraft seines Genies sicherlich nicht an letzter Stelle stehen – die Resultate seiner Arbeit werden eine Bereicherung der Menschheit sein.

 In: Wiener Morgenzeitung, 19.1.1919, S. 1-2.

Manifest: An die Juden im deutschösterreichischen Staate! (1918)

             Der Jüdische Nationalrat für den deutschösterreichischen Staat hat sich konstituiert und übernimmt die Wahrung der Interessen der Juden im deutschösterreichischen Staate.

             Bis zum heutigen Tage haben wir Juden bei allen großen Umwälzungen der Geschichte nicht als Juden gehandelt. Wir warteten, was mit uns geschehen werde, wir sind Abhängige geblieben, die, auf das Wohlwollen der anderen angewiesen, ihrem Übelwollen schutzlos preisgegeben waren. Wir waren nicht Herren unseres eigenen Schicksals.

             Die neue Umwälzung, welche die endgültige Befreiung der Welt von aller Fremdherrschaft und allem nationalen Zwange bringen soll, muß auch uns Juden aus dieser schmachvollen Lage erlösen. Auch wir Juden wollen unser Schicksal selber bestimmen. Das jüdische Volk, dessen nationale Existenz seit zweitausend Jahren bedroht ist und das sein Volkstum allen Schwierigkeiten zum Trotz unter großen Opfern bis auf den heutigen Tag erhalten hat, muß bei der Neuordnung der Welt, die große und kleine Nationen in gleicher Weise schützen wird, Gerechtigkeit finden. Schon haben die großen Demokratien des Westens die jüdische Nation als gleichberechtigtes Glied der Völkerfamilie anerkannt und die Zusicherung gegeben, daß ihre Forderung nach einer nationalen Heimstätte in Palästina Erfüllung finden wird. Durch unsere Aufnahme in den Völkerbund wird unsere Stellung überall in der Welt geschützt und sichergestellt werden. Unser einziger Rückhalt ist unsere eigene Kraft, die zusammengefaßte Kraft des jüdischen Volkes von vierzehnt Millionen, das eine untrennbare Einheit bildet, obwohl es über die ganze Welt verstreut ist.

             Die Mißverständnisse, die sich um diesen Gedanken türmten, entwirren sich allmählich. Wir wollen die Juden nicht in ein Ghetto schließen, wir wollen die Juden vielmehr aus der Unfreiheit und Abhängigkeit, in der sie bisher lebten, herausführen; wir wollen, daß die Juden die Bestimmung ihres Schicksals als Juden in die Hand nehmen.

             Wir fordern innerhalb des deutschösterreichischen Staates, daß gemäß den Grundsätzen der Demokratie vollkommene politische und bürgerliche Gleichberechtigung für alle Bürger tatsächlich durchgeführt werde. In allen Angelegenheiten, die an das Territorium gebunden und daher allen Bürgern gemeinsam sind, wollen wir im besten Einvernehmen mit dem deutschen Volke am Aufblühen des Staates mitarbeiten. Wir wollen, wie es die Juden stets getan haben, unsere geistigen und materiellen Kräfte in den Dienst des Gemeinwesens stellen. Aber wir tun dies nicht als rechtlose und geduldete Einzelpersonen, sondern als Angehörige des jüdischen Volkes.

             Wir fordern im deutschösterreichischen Staate unsere Anerkennung als Nation. Wir wollen nicht zu einer Lüge gezwungen sein, wir wollen das Recht haben, als Söhne des jüdischen Volkes uns zu unserem Volke zu bekennen. Aber nicht nur die Anerkennung ist unser Ziel; wir fordern auch die Gewährung und Sicherung nationaler Rechte. Die Rechte, die wir als Minderheitsnation geltend machen, müssen der Eigenart unserer Lage entsprechen. Alle Angelegenheiten, welche ausschließlich das jüdische Volk angehen, wollen wir in autonome Verwaltung übernehmen. Wir wollen an Stelle der Kultusgemeinde die jüdische Volksgemeinde setzen, welche auf Grund des demokratischen Prinzips nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht aller Männer und Frauen konstituiert wird. Dieser Volksgemeinde obliegt die Verwaltung des ganzen Gebietes des jüdischen kulturellen Lebens, vor allem auch des Schul- und Erziehungswesens. Das jüdische Volk soll selbst die Verantwortung für die Erziehung seiner Kinder tragen; wir wollen unsere Jugend zu aufrechten Menschen und ganzen Juden erziehen. Ebenso wird die Volksgemeinde die vom jüdischen Volke stets hochgehaltene Wohlfahrtspflege und soziale Fürsorge nach modernen Grundsätzen als ein wichtige Aufgabe zu betrachten haben.

             So schaffen wir für uns die Möglichkeit einer freien Entfaltung unserer nationalen Eigenart, wir beseitigen die Ursachen vieler Konflikte und schaffen gleichzeitig die Voraussetzungen für ein würdevolles und reibungsloses Zusammenleben mit den anderen Bürgern dieses Staates, das auf gegenseitiger Achtung gegründet sein muß. Wir sind überzeugt, daß dies nicht nur uns Juden zum Heile gereichen wird, sondern daß wir dadurch auch in die Lage versetzt werden, für das Aufblühen des politischen und wirtschaftlichen Lebens im Staate zu wirken und den Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Güter zu fördern.

             Juden Deutschösterreichs! Eine neue Zeit ist angebrochen, sie soll auch für uns eine stolze und glückliche Zeit werden. Das System der alten Politik, die auf unrichtigen Voraussetzungen aufgebaut und zu ängstlich war, um jüdische Interessen mannhaft zu vertreten, ist zusammengebrochen und muß einer gesunden Volkspolitik Platz machen. Es darf auch bei uns keine Geheimdiplomatie und keine Notabelnwirtschaft mehr geben. Wir müssen eine ehrliche, aufrechte, selbstbewußte Politik machen, nur dann werden wir uns schützen und auch den anderen Achtung einzuflößen vermögen. //

             Juden Deutschösterreichs! In diesem entscheidenden Augenblick hat die nationale Gruppe im Judentum die Führung übernommen und wir mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft ausschließlich den Interessen des Volkes dienen. Wir fordern euch alle auf, den Nationalrat bei seinen Arbeiten zu unterstützen und euch der nationalen Bewegung anzuschließen. Eine Gruppe von Menschen, die sich nicht organisiert, die nicht Selbstbestimmung und Selbstschutz übt, ist tatsächlich schutzlos.

             Juden Deutschösterreichs! Brüder und Schwestern! In dieser großen Stunde müssen wir einig sein. Wir wollen der Welt nicht mehr das Bild der Zerfahrenheit und der Schwäche geben. Wir wollen zeigen, daß das jüdische Volk mündig geworden ist und daß sein heißer Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit sich vereinigt mit dem Wunsche der Gutgesinnten aller Völker. Scharet euch alle einmütig um die einzige Vertretung, die ihr habt, um den Jüdischen Nationalrat!

                                                      Der Jüdische Nationalrat für Deutschösterreich

                                                                                 Das Präsidium:

Böhm                Margulies                        Pollack              Sokal                 Stricker

In: Jüdische Zeitung, 8.11.1918, S. 1-2.

Berl Locker: Was ist Poale-Zionismus? (1933)

                                                                                 III.

Wir sind Zionisten. Zunächst um des Zionismus selbst willen. Freiheit, uneingeschränkte Möglichkeit der Entwicklung aller schöpferischen Kräfte für ein jedes Volk, insbesondere auch für unser Volk, ist uns Selbstzweck. Stellen wir uns einen Augenblick vor, der Sozialismus sei schon verwirklicht. Es existiere keine wirtschaftliche Not des arbeitenden Menschen. Der jüdische Mensch sei tatsächlich gleichberechtigter Bürger der neuen Gesellschaft. Auch nationaler Unterdrückung sei er nicht unterworfen. Aber das Volk sei zerstreut, atomisiert geblieben, losgerissen von der Natur, gehemmt in der Entfaltung seiner schöp­ferischen kulturellen Energien. Dann erst recht würden wir das Unglück und Unrecht der Heimatlosigkeit fühlen. Und wir würden der sozialistischen Ge­sellschaft erklären: Wenn der Sinn des Sozialismus in der höchsten Entfaltung der Lebenskräfte aller Teile der Menschheit besteht, so ist er solange nicht völlig am Ziel, als das jüdische Volk als einziges in der Welt noch heimatlos ist. Gerade in der sozialistischen Gesellschaft kann unser Volk die Heimatlosigkeit nicht vertragen. Jetzt erst recht müssen wir mit allen Kräften danach streben, das nationale Zentrum in Palästina aufzubauen. Mit anderen Worten: Sozialisten brauchten wir nicht mehr zu sein, Zionisten würden wir bleiben.

                                                                                 IV.

Wir sind Kämpfer für die menschlichen, bürgerlichen und nationalen Rechte des jüdischen Volkes in den Ländern seiner Zerstreuung. Wir streben danach, ihm die höchstmögliche Entwicklung überall zu sichern. Auch dieser Kampf, auch dieses Streben trägt seinen Wert vor allem in sich selbst. Nehmen wir für einen Augenblick den tragischen Fall an, wir seien zu der Überzeugung gelangt, daß der Sozialismus eine Illusion sei und der Zionismus ein leerer Traum. Dann würden wir uns sagen: Wenn das Leben überhaupt noch lebenswert ist, ist es gerade jetzt unsere Pflicht, mit allen Kräften das erreichbare Maximum an Produktivität, Selbständigkeit und Schönheit im Leben unseres Volkes zu erstreben.

V.

Kurz: Wir sind Sozialisten – und wir wären Sozialisten auch dann, wenn der Sozialismus für uns nicht der Weg zur Verwirklichung des Zionismus wäre und die einzige Garantie der Gleichberechtigung unseres Volkes in den Ländern der Diaspora.

Wir sind Zionisten – und wir wären Zionisten auch dann, wenn der Zionismus nicht der Weg der vollkommensten Verwirklichung des Sozialismus im jüdischen Leben wäre und das Grundmittel für die Gesundung unseres Volkes.

Wir sind Kämpfer für die Emanzipation und nationale Entwicklung in allen Ländern und wir wären es auch dann, wenn wir nicht überzeugt wären, daß, je gesünder das Volk in den Ländern der Diaspora, desto fester sein Wille zu vollem nationalen Leben; daß es umso reichlicher die Mittel, umso besser das Menschenmaterial für Palästina; umso würdiger auch die Rolle dieses Volkes im sozialistischen Umbau der Welt.

In Wahrheit jedoch sind diese drei Elemente so eng zusammengewachsen, daß es unmöglich ist, sie voneinander zu trennen und auf verschiedene Linien und Flächen zu verteilen. Sie bilden eine organische Einheit. Wir sind nicht nur Sozialisten an sich, Zionisten an sich und Kämpfer für die Diaspora-Emanzipa­tion an sich. Jede dieser drei Bestrebungen wird durch die beiden andern vertieft und vervollkommnet.

In: Der jüdische Arbeiter (Wien), 13.1.1933, S. 4.

N.N. [J. Löwy?] Araber und Juden. (1922)

             Der bekannte hebräische Schriftsteller Doktor Josef Klausner, der seit einiger Zeit in Jerusalem lebt, veröffentlicht im ›Hadoar‹ einen interessanten Artikel unter dem Titel Der Kampf zwischen zwei Welten. Klausner geht von den November-Unruhen in Palästina aus, untersucht die Ursachen der Vorfälle und lehnt die Erklärung ab, daß das erwachte »nationale Bewußtsein« unter den Arabern die Ereignisse verschuldet habe. Der Erfolg der arabisch-chauvinistischen Propaganda sei vielmehr darin zu suchen, daß der Gegensatz zwischen Juden und Arabern zu einem Kulturkampf, einem Kampf zwischen zwei Welten geworden sei. Die Kultur Asiens und Afrikas müsse vor der europäisch-amerikanischen Kultur weichen. Die träge gewordene Islamkultur werde von der europäischen verdrängt werden. Die Katastrophe könne nur abgewendet werden, indem man das Gute, Neue und wahrhaft Nützliche der europäischen Kultur übernehme und es mit dem Wertvollen der altorientalischen Kultur verschmelze.

             »Wir Juden haben das längst erkannt. Wir sind ein ost-westliches Volk. Orientalen der Abstammung und den Neigungen nach (denn was ist der Drang nach Zion anderes als eine Neigung zum Orient?), sind wir im Verlaufe der Geschichte und unserer fünfzehnhundertjährigen Wanderung durch Europa zu Europäern geworden. Unsere Sprache ist orientalisch-europäisch. Das Neuhebräische fußt ebenso auf Jesaias und Hillel Hanassi wie auf Plato und Byron. Die neuhebräische Literatur hat gleichzeitig so viel Orientalisches und Europäisches in sich, daß man bei Mendele, Bialik und Achad Haam nicht weiß, wo der Jude aus der Zeit des zweiten Tempels endet und der Europäer des zwanzigsten Jahrhunderts beginnt. Unsere gegenwärtige jüdische Kultur ist ein Gemisch von Judentum und Menschentum, von Orient, der von Europäismus durchtränkt ist.

             Mit einer solchen Sprache und Literatur, mit solcher Kultur, mit solchen alt-neuen Idealen der Wiederherstellung einer auf eigener produktiver Arbeit basierenden nationalen Wirtschaft und Wiedergeburt eines nationalen Geistes kamen Juden nach Palästina und stießen dort auf die Araber, die genau so leben, wie sie vor Jahrhunderten gelebt haben. Der Araber sieht eine Welt vor sich, die zu seiner eigenen in krassem Gegensatz steht. Der Araber, der noch heute seine Frau für Geld kauft wie sein Pferd und seinen Esel, der auf die Frage: »Wozu hast du eine zweite, alte und häßliche Frau gekauft, wo du doch noch eine junge und schöne Frau hast?« antwortet: »Die kostet mich ja bloß zwei Pfund«; der vor kurzem beim Oberkommissär sich darüber beklagte, daß man Frauen bei Gericht zuläßt – dieser Araber sieht Tel-Awiw vor sich, wo Männer und Frauen als vollständig gleichgestellt auf den Straßen zusammengehen. Dieser Araber, der in jedem Arbeiter und einfachen Fellachen einen Knecht oder doch einen Menschen zweiten Grades sieht, findet in den Kolonien Arbeiter und Bauern, die zwar arm sind und mit eigenen Händen arbeiten, also keine Efendis sind und dennoch wie Efendis aufrechtgehen, Zeitungen lesen, Versammlungen abhalten, protestieren, streiken, demonstrieren und Forderungen stellen. Er sieht eine fremde Kultur, sonderbare Sitten, merkwürdige Anschauungen und ihm unbekannte Lebensgewohnheiten, und er fürchtet dieses Neue. Jeder Mensch ist konservativ und mehr als alle der Orientale. Er fürchtet das Neue und kann sich daran nicht gewöhnen, und da der Träger all dieses Neuen noch dazu einem fremden Volk angehört, steigert sich bei ihm die Angst und überträgt sich von der Sache auf die Person. Das führt zu Mißverständnissen. Er kann und will dieses Neue nicht verstehen. Phantastische Gerüchte über dieses eigentümliche Volk verbreiten sich nach orientalischer Art unter allen Schichten des Volkes, das Mißtrauen dringt bis in die persönlichsten Beziehungen, und der Haß wird immer größer. Und so wird der Boden bereitet für alle Hetzer, die die Unwissenheit und Kulturlosigkeit des Volkes zu ihren Zwecken mißbrauchen, um seine Aufmerksamkeit auf die Träger dieser neuen Sitten zu lenken und es gegen sie aufzuhetzen. Dies ist der Nährboden der Unruhen, die in ihrer Form an die Unruhen in Rußland, in der Ukraine und in Polen erinnern, in ihrem Wesen aber von ihnen grundverschieden sind.

             Was können und sollen wir dagegen tun? Sollen wir etwa die europäische Kultur aufgeben, wie es uns neulich das in Jerusalem erscheinende Blatt der »eingeborenen Juden« (»Doar Hajom«) geraten hat? Das wäre die größte Sünde gegen den Fortschritt, gegen die allgemein-menschliche Kultur, gegen die Nation sowohl wie gegen die Menschheit. Es hieße das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Nicht um Asiaten zu werden, sind wir nach Palästina gekommen. Wir wollen nach Asien das Beste aus der europäischen Kultur hinüberretten, aber auch das Beste aus der asiatischen Kultur, die ja zum großen Teil auch unsere Kultur ist, in der neuen, von uns zu schaffenden Kultur verarbeiten. Wenn wir nach Palästina gehen sollten, um Araber zu werden, dann hat der ganze Zionismus nach innen und nach außen keine Daseinsberechtigung. Nach innen kann nur die Wiederbelebung der alten hebräischen Kultur auf einer neuen wirtschaftlichen Grundlage der produktiven Arbeit die enormen Opfer rechtfertigen. Nach außenhin kann der Zionismus nur als eine Brücke zwischen Orient und Okzident betrachtet werden, wobei unter Orient die alte arabisch-jüdische Kultur zu verstehen ist und nicht die gegenwärtige Welt. Die Araber der ganzen Welt geben heute der Kultur nichts, die Araber Palästinas haben ihr nie etwas gegeben. Und wenn wir es nicht zustandebringen, sie zu uns emporzuheben, wenn wir zu ihnen hinuntersteigen sollten, so haben die übermenschlichen Anstrengungen, ohne die ein armes, halbverwüstetes Ländchen nicht aufzubauen ist, keinen Sinn.

             Uns bleibt nichts anderes übrig, als an der europäisch-jüdischen Kultur festzuhalten und den Arabern klar zu machen, daß unsere Kultur nicht allein europäisch, sondern europäisch-orientalisch ist, west-östlich, semitisch und arisch zugleich. Und wenn die Araber ein Kulturvolk werden wollen, bleibt auch ihnen nichts anderes übrig, als den von uns betretenen Weg einzuschlagen, auf daß die in Palästina entstehende Kultur nicht nur eine orientalisch-okzidentale, sondern auch in gewissem Sinne eine jüdisch-arabische werde. Doch ist ein kulturloses und unwissendes Volk sehr schwer zu belehren. Es gehört eine gewisse Kulturstufe dazu, die der Araber von heute noch nicht – oder nicht mehr – hat.

             Der Unwissende, des Lesens und Schreibens nicht kundige, dunkle Araber haßt und fürchtet jede neue Regung und sieht in dem Träger dieses Neuen seinen Feind. Er fürchtet für seine Religion, für seine Kultur, aber noch mehr für seine Vorurteile, seinen Aberglauben und seine barbarischen Sitten. Jedes Predigen, jede Aufklärung, jede Rechtfertigung ist vollkommen nutzlos. Hier können nur Zeit und Ausdauer helfen. Der mißtrauische Araber muß wissen, daß das Neue eine Kraft ist, die niemand wagen darf, ungestraft anzutasten. So war es auch unter der türkischen Herrschaft. Ein Europäer war das Heiligste in den Augen eines Arabers. Wenn er ihn auch in seinem Herzen haßte, fürchtete er ihn dennoch und achtete ihn. Diese Furcht führte zur Ehrfurcht und schließlich zur Nachahmung. Zunächst war die Nachahmung rein äußerlich, aber dies ist der Weg jeder Neuerung einer Kultur. Zunächst ändert sie sich nur äußerlich, und erst nachher kommt die innere Umwandlung.

             Der Araber sieht im Juden den Träger einer neuen, europäischen Kultur. Das Orientalische, Semitische, Asiatische in uns sieht er nicht: In das Innere der Juden dringt er nicht ein und ist auch nicht imstande zu dringen. Seinem Äußeren nach aber ist der aus Europa kommende Jude vollkommen Europäer, das Symbol der fremden, verhaßten europäischen Kultur. Der Araber haßt also im Juden den Europäer, während der Europäer im Juden den Juden haßt. Vom europäischen Juden überträgt der Araber seinen Haß auch auf die anderen Juden, auf die orientalischen, denen er früher, wenn auch keine Liebe, so doch Wohlwollen entgegenbrachte. Dieses psychologische Moment nutzen Christen, Araber und Europäer (die zu diesem Zweck ihren Europäismus etwas zurückdrängen) aus, um die Lunte des arabischen Nationalismus an das Pulverfaß des Hasses der fremden Kultur zu legen. So entstehen Unruhen unter dem antisemitischen General Bols wie auch unter dem »ersten jüdischen Oberkommissär«, der sich selbst erheblich um das Zustandekommen der Balfour-Deklaration verdient gemacht hat, lange bevor er auch nur im entferntesten an dieses Oberkommissariat dachte. Dies ist die richtige Erklärung für den Erfolg der chauvinistischen Propaganda bei einem gewissen Teil der Araber. Von nationalem Bewußtsein in europäischem Sinne kann hier keine Rede sein, wohl aber gibt es hier eine abgrundtiefe Kulturlosigkeit, Stumpfsinn und Unwissenheit, und vor allem einen Haß gegen alles Neue, einen Haß gegen ganz Europa, einen Haß gegen seine Religion, Kultur, Macht, Sitten und Gewohnheiten. Auch dort, wo es keinen Juden und keinen Zionismus gibt, in Ägypten, Mesopotamien, Indien, kommt allmonatlich dieser mohammedanische Haß gegen alles Fremde in Form von Aufständen und Demonstrationen zum Ausbruch, gegen England oder gegen jede andere europäische Macht, die sie nicht, wie Frankreich Syrien, aufs grausamste unterdrückt. In Palästina wird das Europäertum durch den Zionismus und durch die Juden verwirklicht. Daher die Gegnerschaft gegen die Juden und Balfour-Deklaration. Ohne diese hätte man einen anderen Vorwand gefunden. Man schießt auf Engländer und Juden und meint damit Europa, die gesamte westliche Kultur.

             Klausner schließt mit der Bemerkung, daß Europa und vor allem England dies anerkennen müsse, während wir die Erkenntnis in uns tragen müssen, daß wir in Palästina die Vorkämpfer einer neuen Kultur sind. Wir, die niemand verdrängen wollen, würden dann alle Verfechter des orientalischen Fortschritts auf unserer Seite haben und die Araber werden einmal erkennen müssen, daß es das jüdische Volk ist, das ihnen sehr viel geben kann und ihnen nichts von dem Guten und Schönen nehmen wird, das sie besitzen, das Volk, das allein imstande ist, die Erneuerung und Wiederbelebung des Orients herbeizuführen.

In: Wiener Morgenzeitung, 9.2.1922, S. 1.

N.N.: Die neuen Staaten und die Judenfrage (1918)

             Der Zerfall Österreichs schreitet immer weiter vor. Die meisten der auf österreichischem Boden gebildeten Nationalstaaten haben sich bereits konstituiert und die Nationalversammlungen haben die Regierung und Verwaltung ihres Gebietes übernommen. Wenn so in allen Nationen an Stelle der gänzlich versagenden Staatsgewalt eine neue Instanz tritt, so sind die Juden bisher ohne jede Interessenvertretung. Es ist daher notwendig, daß der jüdische Nationalrat so schnell als möglich seine Tätigkeit aufnimmt. Sowie für alle Völker muß auch für das jüdische Volk eine Volksregierung geschaffen werden, welche die oberste Gewalt in allen jüdischen Angelegenheiten für sich in Anspruch nimmt und ihre Legitimation in dem Vertrauen der breiten jüdischen Massen hat. Allerdings ist bei uns gegenüber anderen Völkern der Unterschied, daß es sich nicht um die Verwaltung eines Territoriums handelt und daß das jüdische Volk in allen Gebieten vertreten ist und überall nur eine Minderheit bildet.

Es ist bemerkenswert, in welcher Weise die neuen Nationalstaaten zur Judenfrage Stellung nehmen. Eine eindeutige Erklärung liegt bisher nur vom ukrainischen Nationalrat vor. Die Ukrainer haben die jüdische Nation vorbehaltlos anerkannt und ihr nationale und politische Minderheitsreichte zugesichert. Der ukrainische Nationalrat hat an die Jüdischnationalen bereits die Aufforderung gerichtet, ihre Vertreter in die ruthenische Regierung Ostgaliziens zu entsenden. In mehreren Versammlungen haben ruthenische Redner bereits Erklärungen dieses Inhalts abgegeben. Die ostgalizischen Vertreter des jüdischen Nationalrates werden bereits in der nächsten Zeit ihre Entscheidung treffen müssen. Die Ukrainer, die jahrelang selbst eine unterdrückte Minorität in Galizien waren, werden in ihrem Staate gewiß den nationalen Minoritäten Rechte gewähren. Sie folgen damit dem Vorbild des russischen Bruderstaates, der Ukraina, welche bekanntlich nach ihrer Konstituierung den Juden volle nationale Autonomie gewährte, sogar ein jüdisches Ministerium schuf und erst nach dem durch den Einmarsch der deutschen Truppen herbeigeführten Umschwung wieder entzog. Da das deutsche Intermezzo in der Ukraine bald beendet sein dürfte, so werden die Juden zweifellos auch dort ihre nationalen Rechte erhalten, da die Ukrainer selbst einsehen werden, daß die Erteilung der nationalen Autonomie an alle Minoritäten im Interesse des eigenen Staates liegt und auch für jedes neue Staatswesen der Prüfstein der Demokratie ist, was heute mehr bedeutet als eine bloße Prestigefrage.

Im tschechoslowakischen Staat bilden die Juden eine Minderheit, die aber keineswegs bedeutungslos ist. Es war immer der Ehrgeiz der Tschechen, daß ihr neues Staatswesen als eines der demokratischesten der Welt entstehe. Unser Prager Bruderblatt „Selbstwehr“ schreibt in seiner letzten Nummer:

„Wir glauben daran, daß die Tschechen in ihrem neuen Staate den anderen Völkern gegenüber Gerechtigkeit üben werden. Sie haben zuviel um ihre Selbständigkeit kämpfen müssen, sie wissen viel zu gut, daß ihr neuer Staat, der unter den Augen der ganzen zivilisierten Welt gegründet wird, das gleiche Recht für alle zur Voraussetzung hat, um dieses Recht nicht auch den Juden zuzubilligen.“

Wie wir an anderer Stelle berichten, hat der jüdische Nationalrat des tschechoslowakischen Staates dem tschechischen Nationalausschuß bereits ein Memorandum über die politischen und nationalen Forderungen der Juden überreicht. Die böhmischen Juden haben in ihrer Mehrheit bisher die deutschen Positionen in Böhmen gestärkt und ließen sich auch durch die Fußtritte der Deutschen nicht von dieser Politik abbringen. Wir haben die verderbliche Art dieser Politik stets gebrandmarkt und stets die Forderung aufgestellt, daß die Juden ausschließlich jüdische Politik treiben sollen und sich nicht in den Kampf der anderen Völker einzumischen haben. Wir haben schon damals darauf hingewiesen, daß die einzige wirklich ehrliche jüdische Politik, daher auch die einzige, zu der die anderen Völker Vertrauen haben können, die jüdischnationale ist. In diesem Augenblick, wo neue Nationalstaaten entstehen, gerät die Solidarität der Assimilanten ins Wanken. Denn was haben israelitische Deutschösterreicher, Tschechoslowaken, Polen, Ruthenen usw. noch für Gemeinsamkeit. Umso stärker erweist sich jetzt die Richtigkeit der jüdischnationalen Politik auch für das Judentum, da nur durch sie eine unverbrüchliche Einheit des Judentums der ganzen Welt geschaffen wird. Nur dann aber kann auch das jüdische Volk als politischer Faktor von einiger Bedeutung auftreten. Daß auch die anderen Nationen dieser Argumentation zugänglich sind, beweist die bereits in unserer letzten Nummer erwähnte Rede des Abgeordneten Klofatsch, welcher ausdrücklich sagte, daß die Tschechen sich dessen bewußt sein müssen, daß eine falsche Behandlung der Juden einen „empfindlichen Rückschlag“ auf die Position der Tschechen im Ausland haben könnte. Es ist nicht zu unterschätzen, wenn gerade von Seite der Tschechen, die doch über die besten Beziehungen im Ausland verfügen, der jüdische Einfluß in dieser Weise gewertet wird.

Der wichtigste von allen neuen entstehenden Staaten ist für das jüdische Volk zweifellos der polnische Staat, in dem drei Millionen Juden leben. Die Polen sind sich dessen bewußt, daß ihr Verhalten zur Judenfrage von entscheidender Bedeutung für ihre internationale Position sein wird. Sie glauben aber noch immer, die Welt täuschen zu können, indem sie schöne Proklamationen und Versprechungen über die „Gleichberechtigung der Juden“ machen, sogar dicke Bücher in allen möglichen Sprachen von Staats wegen herausgeben. In Wirklichkeit aber betreibt die neue polnische Regierung die alte Schlachzizenpolitik und zeigt sich jeder Forderung nach nationaler Autonomie für die Juden unzugänglich. Es wird gemeldet, daß die polnischen Juden ein Telegramm an den Präsidenten Wilson gerichtet haben, in dem sie ihn bitten, dahin zu wirken, daß das von den Polen in Anspruch genommene Selbstbestimmungsrecht auch den Juden in Polen gewährleistet wird. Es ist zweifellos, daß bei den internationalen Verhandlungen auch die Fragen der nationalen Minoritäten geregelt werden müssen. Nach der Auffassung des Präsidenten Wilson, der sich bereits alle Staaten angeschlossen haben, kann es in nationalen Fragen keine einseitige „innere“ Politik eines Staates mehr geben. Alle nationalen Fragen gehören vor das Weltforum und alle Streitfälle zwischen der nationalen Mehrheit und Minderheit eines Staates gehören vor den internationalenSchiedsgerichtshof des Völkerbundes. Die Polen werden zu derselben Einsicht kommen müssen, welche der Abgeordnete Klofatsch für die Tschechen ausgesprochen hat.

Dasselbe gilt aber auch für den neuen deutschösterreichischen Staat. Auch der deutschösterreichische Staat wird auf seine Stellung im Ausland Rücksicht zu nehmen haben. Soweit ein jüdischer Einfluß hiebei in Betracht kommt, ist bisher allerdings nicht viel geschehen, um diesen Faktor zu gewinnen. Deutschösterreich und insbesondere das christlichsoziale Wien gilt in der ganzen Welt als eine Hochburg des Antisemitismus und die antisemitischen Redeexzesse im Parlament und bei den deutschen Volkstagen haben noch in der letzten Zeit dazu beigetragen, dieses ungünstige Bild im Ausland zu verstärken. Wenn jetzt Deutschösterreich als Nationalstaat konstituiert wird, so wird es im eigenen Interesse die nationale Minoritätenfrage lösen müssen und hiebei auch den Wünschen des jüdischen Volkes Rechnung tragen müssen. Es liegt im beiderseitigen Interesse, daß das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden auf nationaler Basis geregelt werde. Nur auf diesem Wege wird es möglich sein, die Reibungsflächen zu vermindern. Wir haben schon unlängst auf die Stellungnahme der „Reichspost“ hingewiesen. In ihrem Abendblatt vom 26. d. M. äußert sie sich wieder sehr zustimmend zu den Richtlinien des Bukowinaer Manifestes. Die deutschösterreichische Regierung, die in ihrer Note an Wilson mit so beredten Worten für den Schutz der deutschen Minoritäten eintritt, wird auch ihren Minoritäten dasselbe nicht versagen können und sie wird hoffentlich einsichtig genug sein, um der jüdischen Minorität den Appell an Wilson zu ersparen. Es kommt nur darauf an, daß alle Nationen einsehen, daß die Minoritätenfrage eine einheitliche ist und daß es nicht geht, auf der einen Seite zu fordern und auf der anderen nichts selbst gewähren zu wollen.

Alle neuen Staaten werden die Unterstützung des Auslandes, insbesondere Amerikas, nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Beziehung nötig haben. In dieser Hinsicht könnten die Juden zweifellos große Dienste leisten, besonders auch dem deutschösterreichischen Staat, der mit seiner Hauptstadt Wien wirtschaftlich bei der neuen Lage außerordentlich gefährdet ist. Aber nur die nationalen Juden verfügen über diese Beziehungen. Die Assimilanten, welche die fremde Nationalität annehmen, zerschneiden dadurch ihren Zusammenhang mit der auf der ganzen Welt wohnenden einheitlichen jüdischen Nation. Es wird für alle neuen Staaten von großer Bedeutung sein, daß sie rechtzeitig die Tragweite einer richtigen oder falschen Judenpolitik erkennen. Sache des jüdischen Nationalrates ist es, die Völker nicht darüber im unklaren zu lassen, was das jüdische Volk fordert.

In: Jüdische Zeitung, Nr. 44, Wien, 1.11.1918, S. 2

N.N. [J. Kreppel]: Spartacus und die Juden. (1919)

             Unsere Feinde, denen keine Verleumdung schlecht genug ist, um sie den Juden entgegenzuschleudern, benützen auch das Auftreten der Spartakusbewegung in Deutschland, um den Juden die Schuld zuzuschreiben, weil unter den Spartakisten sich zufällig einige nominelle Juden befinden. Wie wenig der Spartakismus den Juden zusagen kann, zeigt ein Aufsatz, den Rabbiner Dr. Samuel-Essen in einem jüdischen Blatte in Deutschland veröffentlicht, dem wir folgende Stellen entnehmen:

Die vielhundertjährige Geschichte des Judentums weist keinen Spartakus auf. Es fehlte in dieser Geschichte nicht an politischen Krisen; jedermann kennt die Kampfansage der Stämme an den König Rehabeam: Erleichtere uns das Joch, oder wir sagen uns los von dir. Es gab soziale Mißstände in Zeiten, wo die Gesetze verachtet wurden – man denke an Jeremias Rede für die Sklavenentlassung im Sabbatjahr; wirtschaftliche Notstände durch Auswucherung und Überschuldung bekämpfte Nehemias  Schuldentilgung. Nur Sklavenaufstände gab es nicht, von Spartakussen berichtet die Bibel nichts. „Wohl dem Volke, dessen Blätter leer sind.“ Die jüdische Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott hat den Kampf mit der bestehenden Sklaverei aufgenommen. Das Judentum hat die Überwindung dieses vom Altertum bis in die Neuzeit reichenden, die Menschheit schändenden Verhältnisses machtvoll vorbereitet. Es hat dem Sklaven eine rechtliche, gesellschaftliche, ja religiöse Stellung gegeben, die aus ihm den Dienenden, Entlohnten, kurz den freien Arbeiter schuf. Und dies zu einer Zeit, wo die übrige Welt ihn als bloße Sache des Besitzers behandelte. Der römische Sklave trug sein Brandmal, dem jüdischen winkte winkte das gesetzliche Freiheitsjahr; der römische mußte ausgeliefert werden, das jüdische Gesetz schützte den Entronnenen; es verlangte die sofortige Freilassung bei Leibesbeschädigung, das römische erfand zu seiner Bestrafung die Kreuzigung! Wir verstehen römische Sklavenaufstände, wir begreifen auch Spartakus. Schade, daß Lessing seinen Plan einer Spartakus-Tragödie nicht ausgeführt hat. Er wollte seinen Helden zum Vorkämpfer einer weltbeglückenden Idee machen; ein Fragment aus dem Entwurf lautet: „Sollte sich der Mensch nicht einer Freiheit schämen, die es verlangt, daß er Menschen zu Sklaven habe?“ Spanien, Holland, Nordamerika haben sich ihrer recht lange nicht geschämt. Und was war die Leibeigenschaft in Deutschland und Rußland besseres? Und wie lange gehört sie der Geschichte an?

             Bedenken wir aber wohl: auch aus edelsten Motiven kann man zu falschen Schritten verleitet werden. Wir Juden hatten mit dem historischen Spartakus nichts zu schaffen, die weitaus größte Mehrzahl gehört auch nicht an die Seite derer, die seinen Namen zum Schlachtruf machen. Wie immer wir uns sonst orientieren, wir müssen uns hüten, bei dem gewaltigen Zuge nach links willenlos zur schärfsten Tonart, zum äußersten Radikalismus fortgerissen zu werden. Wenn es jüdische Bolschewiki in Rußland gibt, so hat das seine besonderen Gründe. Deutschland war und ist nicht Rußland. Russische Bolschewiki passen nicht als unsere politische Lehrmeister. Die russischen Zustände sind wahrlich nicht verlockend. Wir müssen die politische Einsicht und Mäßigung besitzen, uns zu sagen, daß wir selbst als Mitläufer der Spartakusbewegung die junge politische Freiheit des neuen Vaterlandes aufs schwerste gefährden und ihr und uns selbst zum Schaden die Geschäfte der Reaktion besorgen.

             Daß Spartakus schon ein wohldurchdachtes Programm besäße, wird er wohl selbst nicht behaupten. Nur gefühlsmäßig und nach Schlagworten weiß er vielleicht, was er will, sicher aber noch besser, was er nicht will, nämlich keinen Andersdenkenden neben sich dulden. Seine Parole lautet: Gleichmachung um jeden Preis. Wie zur Gleichheit und Freiheit bekennt der Bolschewik sich natürlich auch zur Brüderlichkeit; sie bedeutet für ihn, daß es fortan nationale oder religiöse Schranken auf Erden überhaupt nicht mehr geben darf. Der Gleichheit widerstrebt aber am meisten das tief in der Natur und Menschheit gelegte Gesetz; sie soll für den Menschen vor Gott bestehen, da Gott nur nach inneren, sittlichen Werten abschätzt; für Menschen gilt sie // nicht, weder nach Gaben noch nach Gütern. Wieder kann uns hier das Judentum Wegweiser sein. Es hat den Mammon nie so hoch erhoben, wie das Vorurteil behauptet; zum Beispiel gab es in ihm bei Vergehen gegen das Eigentum nicht die entehrenden Strafen, bei christlichen Völkern bis in die Neuzeit hinein Leibes-, ja Todesstrafen. Aber es hat die Arbeit geadelt, die Menschen zur Tätigkeit angespornt, Kulturwerke begünstigt, darum hat es ihre Güter auch geschützt […] Es hat auch im Judentum Anflüge von Kommunismus gegeben; wir denken an die Sekte der Essäer; sie war politisch belanglos, weil sie ganz und gar religiös orientiert war.

             Ganz anders Spartakus. Zwar behauptet er, alle seine Forderungen auf streng gesetzmäßigem Wege durchsetzen zu wollen, vor allem auch die ersten, großen Enteignungen; er will auch nicht plündern und rauben, und so erscheint er vielleicht manchem jüdischen Gemüte harmlos. Aber wie will er zur Macht gelangen, die solche Gesetze erlassen und durchführen könnte? Nur auf dem Wege der Gewalt, kurz durch den Terror. In seinem weltbeglückendem Wahn schreckt er nicht davor zurück, die Diktatur seiner Gruppe über ein Millionenvolk anzustreben. Hat ja auch im alten deutschen Reiche eine winzige, aber mächtige Gruppe über die Massen geherrscht; jetzt soll eine viel edlere, ja geradezu ideale ans Ruder kommen.

             Für diesen Tausch sind wir nicht zu haben. Wir sträuben uns nicht als Besitzende, sondern als Juden. Nur eine dünne Oberschicht von Juden gehört zum Großbesitz, die allergrößte Zahl zum Mittelstande […] Nach dem Dogma des Spartakus muß jedes Streben, aus der Armut wieder emporzukommen, Wohlstand oder gar Reichtum zu erwerben, niedergehalten werden. Der Feind ist nach ihm der sogenannte Kapitalismus. Wir fühlen uns wahrlich nicht zum Anwalt des Kapitalismus berufen; wir kennen die Schäden durch Anhäufung allzu großer Vermögen ganz genau, auch die Gefahren des uneingeschränkten Spiels der Kräfte im Wirtschaftsleben. Und dennoch haben wir den Mut, zu behaupten, daß Freude am Besitz Kapital, und Kapital Arbeit schafft; daß Reichtum durch Adel der Gesinnung und unterstützt von einer sozialen Gesetzgebung den größten Segen schafft und für den Fortschritt der Kultur unentbehrlich ist. Spartakus aber möchte gerade diesen Wettstreit, wie unter den Einzelnen, sogar unter den Völkern beseitigen! Sein letzter Ehrgeiz ist ja, sich über alle Völker diesseits und jenseits des Ozeans auszudehnen, dem verruchten Gelde auch seine internationale Bedeutung zu rauben. Hier verlieren wohl auch die Mitläufer den Atem; sollen wir kurzlebigen Menschen doch auf den Nimmerleinstag vertröstet werden!

             Von der Warte des Judentums weigern wir Spartakus die Anerkennung und Gefolgschaft.

In: Jüdische Korrespondenz, 23.1.1919, S. 1-2.

N.N. Die Rolandbühne – Jargontheater. (1921)

(Kunst und Literatur des Getto. – Von Morris Rosenthal zu Max Reinhardt. – Freundschaftliche Wechselgastspiele)

             Während in Amerika schon vor zirka 60 Jahren Morris Rosenthal das erste jiddische Theater gründete und so das Interesse für die Kunst eines Volks wachrief, das ungeachtet aller Bedrängnis seine Eigenart nie verlor, beginnt in Europa erst jetzt das Erkennen (nach all dem Suchen durch die ganze Welt – Indien, Siam, Japan und China – nach Neuem), daß da mitten unter uns eine bodenständig nationale Kultur lebt, die voll des Eigenartigen ist und ganz grundlos bisher unbeachtet blieb. In Amerika gibt es schon seit Jahren in jeder Stadt eine jiddische Bühne, im alten Kulturland Europa nur in London, Paris, Warschau und Lemberg. Und so bekannt in Amerika jüdische Literatur und Kunst geworden ist, so unbekannt ist sie hier geblieben, hier im Land der Gettos, in deren drangvoller Enge alle jene schwermütigen, tiefgefühlten Werke geschaffen wurden.

Nun aber beginnt auch bei uns das Verstehen für diese Kunst wach zu werden und mit der immerwährend steigenden Zahl jerer, die tiefer eindringen wollen in Wesen und Geist dieser Kunstgattung, wächst naturgemäß auch das Bedürfnis für ein jüdisches Theater, das doch besser als jede, wenn auch noch so ausführliche Monographie in Sprache und Sinn dieser Dichtungsweise einführt.

             Und diesem Bedürfnis entsprechend werden Wien und Berlin von dieser Saison an ihre großen jüdischen Theater haben.

             In Berlin gründet es Max Reinhardt, in Wien hat Direktor Richter-Roland die bisherige Rolandbühne zum Sprechtheater umgewandelt und eröffnet heute dort das jüdische Theater.

             Direktor Richter-Roland, dem als artistischer Direktor Herr Ferdinand Schmergel zur Seite steht, hat ein großzügiges Aktionsprogramm ausgearbeitet, von dessen Durchführung man sich sehr viel Gutes versprechen darf. Direktor Richter-Roland, dem als artistischer Direktor Herr Ferdinand Schmergel zur Seite steht, hat ein großzügiges Aktionsprogramm ausgearbeitet, von dessen Durchführung man sich sehr viel Gutes versprechen darf. Direktor Richter-Roland plant die Einführung von fremdsprachigen Wechselgastspielen und beginnt diese mit einem Ensemblegastspiel der jüdischen Bühne des Direktors S. Podzamcze. Im Rahmen dieser Bühne wird auch die nunmehr schon durch ihre Gastspiele in der Vorsaison gefeierte amerikanische Künstlerin Mali Picon und ihr Gatte Direktor J. Kalich aus Boston gastieren, die einen dreimonatigen Kontrakt geschlossen haben. Mali Picon, diese rassige, feinnervige Frau, die eine der besten jüdischen Schauspieler Amerikas ist, wird hier in einigen neuen Operetten und Volksstücken auftreten, die neuerdings die Vielseitigkeit dieser Künstlerin zur Geltung bringen werden.

             Direktor Kalich, der als Interpret und Rezitator jüdischer Poesie ebenso bedeutend ist, wie als Schöpfer typischer Gestalten des unrastig wandernden und sich nach einer eigenen Heimat sehnende Judenvolkes, wird den sicher schon großen Kreis seiner Verehrer erweitern.

             Aber auch das übrige Ensemble weist beachtenswerte Erscheinungen auf. So den Regisseur L. Jungwirth, der sich als Theaterleiter in Czernowitz und Lemberg erfolgreich bewährte und dessen vornehmes Spiel und kultivierte Sprechkunst ihn zu einem der hervorragendsten Schauspieler machen. Dann die blendend schöne Viera Kaniewska, die temperamentvolle Frau Laura Glückmann und die durch vorzügliche Charakterisierungskunst Frau Dreiblatt. Unter den Herren seien noch hervorgehoben: der Bonvivant S. Sinin, der nachgerade zum Frauenliebling wird und nicht nur durch die prachtvolle Stimme, sondern auch durch seinen eleganten Tanz beachtenswert ist, ferner Herr Breitmann und schließlich die beiden trefflichen Komiker Zucker und Katz.

             Das Orchester bleibt auch weiterhin unter der Leitung des Kapellmeisters Kuczynski, der sich in kurzer Zeit einen populären Ruf geschaffen hat.

             Zur Aufführung gelangen sowohl jüdische Volksstücke als auch moderne Literaten wie Schalom Asch, Pinski, Gordin und Rosenthal. Aber auch die sang- und klangvollen amerikanischen Operetten Rumschinskys werden gepflegt werden.

             Besonderes Augenmerk verdient aber auch die geplante Aufführung jener altjüdischen Legenden und Volksmythen, wie Der Golem von Prag und Sulamith, (Themata, die wie bei Meyrink und Hans Heinz Ewers schon Stoff boten für Romane und auch im Film verwendet wurden), die in Europa auf einer Sprechbühne noch nicht zu sehen waren, während in Amerika auch dieses Genre schon seit langem gepflegt wird und die Besten unserer Bühnenkünstler, ich nenne nur Schildkraut, an die Lösung dieser schwierigen Aufgabe gingen.

             Ganz neu und in seiner Anlage großzügig ist der Plan der Direktoren Richter-Roland und seines theaterkundigen Associés Ferdinand Schmergel, mit den bestehenden jüdischen Bühnen Wechselgastspiele zu vereinbaren, so daß Gelegenheit geboten wird, auch die Stars anderer Städte kennen zu lernen.

             Das Haus wurde seiner neuen Bestimmung entsprechend umgebaut und adaptiert und bildet durch den intimen Charakter einen wunderhübschen Rahmen für Milieustücke. Auch die Tische wurden entfernt, um bequemen Klappstühlen Platz zu machen.

             Die Notwendigkeit eines jüdischen Theaters in Wien kann wohl nicht angezweifelt werden, wenn man erfährt, daß hier nach geringster Schätzung an 300.000 Jargon sprechende Menschen leben, die Zahl jener aber, die aus künstlerischen oder ethymologischen Gründen sich für diese Kunst interessieren, gleichfalls dieser Zahl nahe kommt, ganz abgesehen von jenen, die durch die klangvolle, bildhafte Musik der Operetten Rumschinskys das Theater besuchen werden und deren Gemeinde auch nicht klein sein dürfte.

             Nach diesen Erwägungen kann man dem neuen Unternehmen eine glänzende Zukunft vorhersagen, In künstlerischer Beziehung sicher; das verbürgt das Programm, das Ensemble und die bewährte Leitung.

In: Neues Wiener Journal, 1.9.1921, S. 8.

Eugen Hoeflich: Die Wilnaer. (1922)

             Neunzehnhundertfünfzehn beschlossen einige junge Leute in Wilna, Studenten, ein Kirchenmaler unter ihnen, ein jiddisches Theater zu gründen; ein wirkliches Theater, das – nichts mehr und nichts weniger wurde zum Vorbild genommen – Stanislawskis Ziele erreichen sollte. Aus einer Gruppe Dilettanten, anfänglich von den russischen Behörden unterdrückt, dann von der deutschen Okkupationsmacht begünstigt, von Eulenberg, Zweig, Jacobsohn, Struck und anderen außerordentlich gefördert, wurde nach wenigen Jahren gewaltigster Anstrengung das, was man heute in Europa als die Wilnaer Truppe kennt: eine Gruppe von starken schauspielerischen Potenzen, die trotz ihrer Zusammensetzung aus eigenwilligen Individuen, zur Truppe, zur individuellen Gruppe katexochen wurde. „Wilnaer Truppe“ wurde zu einer Marke, zu einer eindeutigen Bezeichnung, wie etwa Moskauer Künstlertheater.

             An einem Damaszener Sommerabend kam ich einmal unversehens in ein arabisches Theater. Stegreiftheater, naiv, primitiv, das Stück belanglos, die Akteure aber hinreißend in ihrer einfachen, naiven Hingabe. Nicht aus Überlegung, nicht aus Berechnung hob jener die Hand, dieser den Kopf, sondern spontan, intuitiv, voll eingefangen im Sinne des Menschen, den er zu verkörpern hatte, seiner Rolle hingegeben mit der letzten Faser seines Herzens. An dieses arabische Theater mußte ich mich erinnern, als ich die Wilnaer zum erstenmal sah. Es ist ein Stück Orient – selbst wenn sie ein Stück des europäischen Repertoires geben – ein Stück Osten, der vor uns aufsteht in seiner Beweglichkeit, Intuition, Spontanität; die außerordentlichste Hingabe an das Geschehen, das der Dichter ihnen vorzeichnet: es ist nicht mehr Schauspiel, sondern dramatisches, dramatisiertes Leben, Lebensschicksal in drei Theaterstunden eingefangen, zwingend hineingestellt in das Leben des Zuschauers, selbst wenn das Stück ein schlechtes und seine Personen nicht lebensfähig sind. Das Zusammenspiel von Menschen, die in ihre Rollen stündlich neu hineingeboren werden, sie allabendlich neu erleben, sie wahrhaftig durchdringen mit dem Intellekt und, was wichtiger ist, mit dem Instinkt, dieses Zusammenspiel pries und das Gerücht, ehe wir die Wilnaer hier sahen. Gleichgültig nun, ob wir ihre Sprache, diese außerordentlich modulationsfähige Sprache, verstehen oder nicht – wir erleben hier ein Ineinandergreifen, das uns vergessen macht, daß nach zwei, drei Stunden diese Menschen dort oben durchaus anderen Gesetzen, anderen Bewegungen und anderen Erlebnissen untertan sein werden, die kein Dichter und kein bewunderungswürdiger Regisseur tief durchdacht hat. Mitunter hat man den Wunsch, daß diese wunderbar klappende Regieführung nur einen Augenblick lang versagen möge.

             Mit den „Wilnaern“ verknüpft, kam stets ein anderes Wort zu uns: Der Dybuk. Dieses Theaterstück von Sch. An-ski, das in Warschau allein über zweihundertmal gespielt wurde, trug zum Weltruhm der Truppe mehr bei als die enthusiastischsten Artikel westeuropäischer Dichter von Namen. Als vor einigen Wochen die Königin von Holland der Aufführung beiwohnte, erschüttert den Schauspielern dann Dank sagte, als Reinhardt auf die Bühne kam, um ihnen zu danken, in diesem Augenblick wurde der Dybuk, die mystische Legende chassidischer Ekstatiker, auch zum Ereignis in Westeuropa. Für Polen und Rußland war er schon Sensation, als der sterbende, von den Bolschewisten verfolgte Dichter das Manuskript den Wilnaern übergab. Er war tot, ehe es aufgeführt werden konnte. Von der Vorstellung ans Sterbelager geholt, schwuren die Schauspieler, das Stück noch während der dreißigtägigen Trauerzeit aufzuführen. Über hundert Proben in einem Monat, die Nervenkraft eines halben Lebens, und der Wille, den ein Schwur am Bette eines Toten leitete, brachte eine Erstaufführung am dreißigsten Tage der Trauer zustande, die bis zwei Uhr nachts dauerte. Hunderte Menschen übernachteten im Theater, Hunderte im Polizeiarrest. Kriegsrecht verbot das Betreten der Straßen bei Nacht. Der Dybuk brach Krieg und Gesetz, Furcht und Befehl. Unlöslich verbunden waren von diesem Augenblick an Wilnaer und Dybuk.

             „Der Dybuk“: Ein mittelalterlicher Holzschnitt mittelalterlicher Menschen, Legende von einem Geschehen, das jenseits des bewußten Lebens und diesseits des Jenseits spielt: „abgeschnitten von beiden Welten“, liegt der Sinn dieses mystischen Ereignisses auf jener Linie, die von ältester urmenschlicher Mystik zur Mystik in uns Menschen dieser Tage führt und das mystische Blühen eines gotischen Europa irgendwo berührt. Ein wunderbares Stück Orient, wunderbarer als die Wunder der Tausend und einen Nacht, gleichnislos in der Literatur anderer Völker, blühte es aus dem Biden, der nicht der Nährboden seines Volkes ist, ein erschütterndes Wiedererleben verdunkelnder Erinnerungen an verklungene Lieder, die wir einmal hörten, als geheimnisvolle Strahlen aus den Landschaften grenzenloser Erwartungen uns umspielten. Ein Stück ursprünglichen reinen Judentums, das einen Baal Schem das wunderbare Gleichnis vom Spiegel oder das vom Seiltänzer lehren lassen kann – das kann keine andere Truppe aus dem schweren, starren Rahmen des Holzschnittes ins Leben hinausstellen. Der Dybuk ist für die Wilnaer geschrieben, ihm immer von neuem zu dienen, ist ihre Existenzpflicht. Das erschütternde unvergeßliche Erlebnis eines Meschulach, wie ihn Nachbusch verkörpert, eines Morevsky als Zaddik, einer Orleska als Leah, irgendeines Menschen dieser Truppe in irgendeiner Rolle, dieses Erlebnis zwingt zu neuen Einstellungen, die unabhängig sind von allen Einflüssen, die von außen kommen, sie revidieren die früheren Erlebnisse, aus denen sich uns Großes zu manifestieren schien und machen sie peripher.

             Man wird versuchen, das Stück auch auf dem europäischen Theater zu spielen (eine deutsche, außerordentlich schlechte Übersetzung liegt bereits vor) und der Versuch wird mißklingen. Würde ich jenes arabische Theaterstück der Damaszener Schauspieler in irgendeinem französischen Kolonialtheater sehen, dann würde statt Ergriffenheit ein Gefühl sinnloser, grotesker und peinlicher Art mich ergreifen. Europäische Schauspieler können den Dybuk nicht spielen, denn ihnen fehlen die spezifischen Schwingungen, die sich dort zu Elementen einer eingebornen Hingabe an etwas im Unterbewußtsein Erlebten verdichten und im Schauspielen immer wieder das grenzenlose Ereignis gebären, das allein ihn fähig macht, Erlebnis zu werden, Erlebnisse zu gestalten, Schauspiel zum Spiel unirdischer, unterirdischer Leidenschaften zu machen, nicht durch Logik, sondern durch jenes gütige Mitzittern zu zwingen, das einen Kontakt zu jedem einzelnen Zuschauer herstellt, das in seiner inbrünstigen Intensität jeden einzelnen Zuseher glauben machen muß, daß er allein Miterleber dieses Geschehens dort oben sei. Dieses höchste Ziel des Theaters, das der Phantasie des Menschen im Zuschauerraum schrankenlose Freiheit gibt, ist hier erreicht – selbst wenn er dann und wann die Sprache nicht versteht. Es kann aber nicht erreicht werden, wenn das Spiel den Zwängen einer seinem Wesen fremden Sprache unterworfen wird.

             Als nationales Kulturinstitut gegründet, als nationale Errungenschaft ersten Ranges (auch wenn Schauspieltalent im Juden eine Assimilationserscheinung ist) gewertet, haben die Wilnaer mit unheimlicher Schnelligkeit einen Weg zurückgelegt, der in der Historie des Theaters irgendeiner europäischen Nation durch Jahrhunderte führt. Unwesentlich, ob dies Vor- oder Nachteil bedeutet: die Zukunft wird zeigen, ob sie fremdnationale Elemente wird assimilieren können, ohne Schaden zu nehmen, ob sie die gefährliche Klippe des Spezialitätentheaters, die Gefahr liegt selbst bei Konzessionen an das fremdnationale Repertoire nahe, wird überwinden können, ohne auf den toten Punkt zu gelangen.

In: Neue Freie Presse, 10.11.1922, S. 7.