Robert Musil: Als Papa Tennis lernte. (1931)

Als Papa Tennis lernte, reichte das Kleid Mamas bis zu den Fußknöcheln. Es bestand aus einem Glockenrock, einem Gürtel und einer Bluse, die einen hohen, engen Umlegekragen hatte als Zeichen einer Gesinnung, die bereits anfing, sich von den Fesseln zu befreien, die dem Weibe auferlegt sind. Denn auch Papa trug an seinem Tennishemd einen solchen Kragen, der ihn am Atmen hinderte. An den Füßen schleppten beide nicht selten hohe braune Lederschuhe mit zolldicken Gummisohlen, und ob Mama außerdem noch ein Korsett zu tragen hätte, das bis an die Achselhöhlen reichte, oder sich mit einem kürzeren begnügen dürfte, war damals eine umstrittene Frage. Damals war Tennis noch ein Abenteuer, von dem sich die verzärtelte heutige Generation keine Vorstellung mehr machen kann. O, rührende Frühzeit, als man noch nicht wußte, daß auf kontinentalen Tennisplätzen kein Gras gedeiht! Man behandelte es vergeblich mit der Sorgfalt eines Friseurs, der an einem an Haarausfall leidenden Kunden alle seine Mittel versucht. Aber man konnte auf solchen Grasplätzen bei Turnieren unerwartete Erfolge erzielen, wenn der Ball zufällig auf einen Maulwurfshügel fiel oder der Gegner über ein Grasbüschel.

Leider hat man diese romantischen Tenniswiesen bald aufgegeben und den modernen Hartplatz geschaffen, wodurch ein ernster Zug in den Sport kam. Die Figuren verschwanden, die man anfangs hatte sehen können, wie sie, scharf visierend, mit turnerischer Geschicklichkeit das Racket einem Flugball entgegenstießen, und es bildeten sich überraschend schnell die Schläge aus, die heute noch gebraucht werden, mit ganz wenigen Ausnahmen, die erst später dazugekommen sind. […] Der Zeitgeist schafft sich eben seine Werkzeuge. Was nach uns gekommen ist, war ebensowohl ein großes Wachsen des Durchschnittskönnens wie der Spitzenleistungen, aber wir sind es gewesen, welche die Gnade dieses Jahrhunderts empfangen haben, und daraus leite ich auch die Berechtigung ab, einiges von solchen Angelegenheiten zu erzählen.

Um noch einen Augenblick beim Tennis zu bleiben: man konnte noch vor zehn oder weniger Jahren in diesem Sport gewisse Spuren der ursprünglichen Moral beobachten. Wenn man von einer andren Sportstätte auf einen Tennisgrund kam, so war das, sofern man einen empfänglichen Blick für Kleidung hatte, nicht anders, als ob man von einem hellen, offenen Platz in einen hochstämmigen Wald träte. Hier reichten die Röcke noch bis zur halben Wade und die Taille bis zu den Handgelenken, als sich der Dreß anderswo längst schon auf die Größe eines Bogens Briefpapier, wenn nicht gar einer Eintrittskarte zusammengezogen hatte; ja, was die Herren angeht, so stecken sie bekanntlich heute noch in weißen Futteralen, und nur die Damen verlieren von den Armen und Beinen aus zusehends ihre Kleidung. Dieser konservative Grundzug des Tennis hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß es lange Zeit ein Sport der „Gesellschaft“ gewesen ist, die es zum Vergnügen spielte und die Nacktheit nicht für einen neuen Geist hielt, sondern für ein Geheimnis des Garderobeschranks, das man nur selten tragen darf, weil es immer das gleiche bleibt. In ähnlicher Weise ist ja auch ein anderer Sport der Gesellschaft konservativ geblieben, das Fechten, diese schwarzseidene Kavalierskunst, deren Anblick, wenn sie öffentlich auftritt, mehr vom achtzehnten Jahrhundert an sich hat als von den Formen der Gegenwart, und an sportlicher Geltung denn auch weit zurücksteht. Das Fechten war ein ritterlicher Sport und also eigentlich überhaupt keiner, oder ist nur noch in halb lebendiger, der trotz seiner hohen körperlichen Vollendung zusehen muß, wie ihn die Seele seiner Seele mit Boxern und Jiu-Jitsu-Kämpfern verlassen hat.

Seit Papa Tennis lernte, hat sich also immerhin einiges geändert, aber es betrifft mehr die Bewertung der Leibesübungen als diese selbst. Wohl gab es noch nicht die Verbindungen von Motortechnik mit menschlicher Kaltblütigkeit, aber von den eigentlichen „Körper-Sporten“ standen die Wesenszüge schon fest, mit wenigen Ausnahmen wie Golf und Hockey, die man noch nicht kannte, und abgesehen von der technischen Durchbildung, die aber ziemlich stetig erfolgte; denn von „revolutionierenden“ Stiländerungen fielen die der Reit-, Lauf- und Sprungtechnik schon in jene Zeit und sogar die Crawlmethode des Schwimmens, die erst später importiert worden ist, unterschied sich in der Arm- und Atemtechnik weniger von dem damals geübten Schnellschwimmen als dieses vom gemächlichen Mißbrauch des Wassers zur Großvaterzeit.

Was den Sport zum Sport gemacht hat, ist also nicht so sehr der Körper als der Geist. Ehe ich aber von diesem berühmten Geist beginne, muß ich eine Geschichte erzählen, die weitab davon anfängt, jedoch bald dahinführt. Man weiß, daß Wien die zweitgrößte deutsche Stadt ist; aber da ein großer Teil der Einwohnerschaft Wiens in Berlin wohnt, wo er sich als Schriftsteller, Ingenieur, Schauspieler und Kellner große Verdienste um die norddeutsche Sonderart erwirbt, bleibt zu Hause nicht immer genug übrig, was man außerhalb natürlich nicht so genau weiß. Aber so ist man auf einen Einfall gekommen, der sowohl für die Geschichte der Kultur wie für die des Sports sehr bezeichnend ist: Man baut nicht nur seit einem Jahr an einem großen olympischen Stadion, sondern opfert diesem auch die letzten Reste des Praters. Was das heißt, muß erklärt werden. Der Prater gehört zu den sieben Weltwundern, die ein im Ausland lebender Wiener aufzuzählen beginnt, wenn er Heimweh hat; sie heißen: Wiener Hochquellenwasser, Mehlspeisen, Backhendeln, die blaue Donau, der Heurige, die Wiener Musik und der Prater. […] Denn das war, eng an ja in die Großstadt geschlossen, ein stundenweiter Naturpark mit herrlichen alten Wiesen, Büschen und Bäumen; eine Landschaft, in der man sich als Mensch nur Gast fühlte: eine Überraschung, denn diese Natur war gut um hundert Jahre älter, als es die Natur ist, in deren Gesicht wir sonst blicken; kurz, es war eine jener Stellen, die man heute, überall, wo man sie noch besitzt, für unberührbar erklärt, aus irgendeinem Empfinden heraus, daß es doch noch etwas anderes als Kugelstoßen oder Autofahren bedeute, wenn sich der Mensch langsam, ja sogar oftmals stehenbleibend oder sich setzend, in einer Umgebung bewegt, die ihm Empfindungen und Gedanken eingibt, für die sich nicht leicht ein Ausdruck finden läßt. In der Zeit der Allonge-Perücken scheint man das gewußt zu haben, denn obwohl der Prater damals ein kaiserlicher Jagdpark war, worin man zur Hatz ritt, gibt es allerhand Zeugnisse dafür, daß dies nicht ganz ohne Empfinden für die Natur vor sich ging; in der langen Besitzerzeit Franz Josephs, wo sich unsere heutige Art zu leben und auszusehen herausbildete, hatte man wenigstens Scheu vor Änderungen und gab nur die Ränder frei, selbst der aristokratische Jockeiklub und der Trabrennverein mußten sich damit begnügen: erst seit wir uns selbst übergeben sind, und das ist eben das Bedeutsame daran, ist der Prater fast restlos zugrunde gegangen, was natürlich nicht hindern wird, daß wir weiter von ihm reden und nicht bemerkten werden, daß er nicht mehr da ist. An seine Stelle sind Sportplätze verschiedenster Art getreten, die von Zäunen und Eintrittsschranken umgeben sind, und es ist das gerade so, wie es sein mußte, denn man hätte dafür weit geeignetere Gegenden finden können, aber keine so vornehmen, keine solchen Siegesplätze über die Natur, nichts, wo sich der lächerliche Anspruch der Leibesübungen, eine Erneuerung des Menschen zu sein, so naiv, so protzig, so instinktsicher ausdrücken könnte wie in diesem Zusammenhang.

Gegen die Tatsache, daß wir heute eine Körper-„ Kultur“ besitzen, ist also nichts zu machen. Aber wessen Geisteskind ist sie eigentlich? An dieser Stelle muß ich zugeben, daß ich selbst sehr viel Sport getrieben habe. Schon ich bin in meiner Jugend, wenn ich vom Kolleg kam, täglich auf den Tennisplatz gefahren, um mich einem scharfen Trainingsspiel zu unterziehen, oder ich wurde eine halbe Stunde lang von meinem Maestro di scherma hart hergenommen und abends dann noch einmal eine Viertelstunde, und schließlich kamen noch die Assauts mit den Klubgrößen, unter denen sich vielgenannte Fechter befanden. Ich habe an Fecht- und Tennisturnieren teilgenommen, konnte auf den Händen stehen, Salto zu Wasser und zu Lande machen und bin etliche Male auf Schwimm-, Ruder- und Segelunternehmungen beinahe ertrunken; ich glaube, genügende Beweise dafür zu besitzen, daß der Geist des Jahrhunderts rechtzeitig in mich gefahren ist. Aber wenn ich mich frage, was mir damit eigentlich geschah, so muß ich mir die Antwort sorgfältig überlegen: In der Hauptsache war es wohl wirklich eine blinde Kraft, die mich trieb, irgendein Nichtwiderstehenkönnen, sobald man die Sache kennengelernt hatte; aber sichtlich war sie auch vermischt mit jener lebensunkundigen Eitelkeit der Jugend, die an ihrem gesunden Körper nicht nur Freude, sondern ein Wundergefühl empfindet, weil in diesem Zaubersack noch alle Erfolge der Welt stecken, ohne daß eine Enttäuschung davorgekommen wäre. Auch die Suggestion, die im Erlernen jeder Sache liegt, wenn man sich ihm erst einmal hingegeben hat, darf nicht vergessen werden; hat man etwa hundert Stunden und Anstrengungen zum Opfer gebracht, so opfert man ihm auch die hundertunderste und beginnt damit eine neue Reihe: man wird in dieser Art beim Training von seinem Körper gleichsam an der Nase weiter geführt.

Neben diesen Illusionen gibt es in der Sportübung aber auch eine Fülle wirklicher kleiner geistiger Anregungen, die sie vor der Gefahr bewahren, bloß eine seelische Erkrankung zu werden. Ich will das kurz fassen, da es ohnehin oft genug hervor gekehrt wird: da sind Mut, Ausdauer, Ruhe, Sicherheit, die man auf dem Sportplatz zwar nicht für alle Fälle des Lebens, aber immerhin so erwirbt wie ein Seiltänzer das Gleichgewicht auf einem Seil, das in der Höhe von einem Meter gespannt ist. Man lernt, die Aufmerksamkeit zu sammeln und zu verteilen wie ein Mann, der mehrere Spinnstühle beaufsichtig. Man wird angelernt, die Vorgänge im eigenen Körper zu beobachten, die Reaktionszeiten, die Innervationen, das Wachstum und die Störungen in der Koordination der Bewegungen, man erlernt die Beobachtung und Auswertung von Nebenvorgängen, die rasche intellektuelle Kombination; alles das ähnlich, wenn auch nicht in dem Maße wie ein Jongleur. Man erwirbt Bekanntschaft mit den Fehlleistungen, welche der wahrnehmbaren Müdigkeit voranschleichen; man lernt das eigentümliche Schweben zwischen zu viel und zu wenig Fleiß kennen, die beiden schädlich sind, den gewöhnlich ungünstigen Einfluß der Affekte auf die Leistung und andererseits die beinahe mirakulöse Natur des besonders guten Gelingens, wo der Erfolg sozusagen schon vor der Anstrengung da ist. Und obwohl man alles das auch bei anderen Gelegenheiten, etwa beim Kartoffelgraben, kennenlernen kann, so faßt es der Sport doch in einer überaus zugänglichen und reizvollen Weise zusammen, wozu noch die Anregungen kommen, die das Kampfspiel gewährt, das Überlisten, die Schwankungen zwischen den Gegnern, die Einschüchterung und die Siegesgewißheit, und so vieles andere, was man etwas geschwollen als Taktik und Strategie des Sports bezeichnet.

Wie weitläufig wäre allein schon (obwohl sie gegeben werden kann) die Erklärung des Wunders, daß man auf die Entfernung des Anlaufs vorausbestimmen kann, mit welchem Fuß man abspringen wird! Das Wesen des Ich leuchtet in den Erlebnissen des Sports aus dem Dunkel des Körpers empor, und auch sonst leuchtet dabei allerhand Dunkles, aber dazu möchte ich nun auch gerne wissen, wie viele Sportleute sich überhaupt herbeilassen würden, nach solchen Dingen zu fragen oder auf solche Fragen zu hören?! […]

Auf solche Ideen wäre ich bei meinen naiven körperlichen Anstrengungen seinerzeit gewiß niemals verfallen. Ich war fast ganz und gar ungeistig, nur um am nächsten Tag geistig frisch zu sein. Es kam mir beim Ringen wenig Seelisches in den Sinn, und wenn ich mich wie ein Tier betrug, so war mir eben gerade das erwünscht. Ich bin heute noch der Meinung, daß Geistesabwesenheit außerordentlich gesund ist, wenn man Geist besitzt, unter anderen Voraussetzungen jedoch auf die Dauer recht gefährlich! Aber wozu noch länger vom Geist des Sportmanns reden, besteht doch das ganze Geheimnis darin, daß der Geist des Sports nicht aus der Ausübung, sondern aus dem Zusehen entstanden ist! Jahrelang haben sich in England Männer vor einem kleinen Kreis von Liebhabern mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war solange kein Sport, bis der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es gestattete, dieses Schauspiel bis auf fünfzehn Runden zu verlängern und dadurch marktfähig zu gestalten. […] Zweiundzwanzig Männer kämpfen mit der Mäßigung von Berufsmenschen um einen Fußball, und einige Tausende, von denen die meisten einen solchen Ball niemals berührt haben, geraten in die Leidenschaft, die sich die Ausübenden ersparen. So entsteht der Geist des Sports. Er entsteht aus einer umfangreichen Sportjournalistik, aus Sportbehörden, Sportschulen, Sporthochschulen, Sportgelehrsamkeit, aus der Tatsache, daß es Sportminister gibt, daß Sportleute geadelt werden, daß sie die Ehrenlegion bekommen, daß sie immerzu in den Zeitungen genannt werden, und aus der Grundtatsache, daß alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von ganz wenigen, für ihre Person keinen Sport ausüben, ja ihn möglicherweise sogar verabscheuen. Sofern man nicht an der Sache verdient, gibt man ihr eben nach. Man fühlt ein Vakuum, in das sich der Sport stürzt. Man weiß eigentlich nicht recht, was sich da stürzt, aber alle reden davon, und so wird es wohl etwas sein: so ist immer das zur Macht gekommen, was man ein hohes Gut nennt.

Wie ungerecht nur, daß man in diese Kultur noch nicht die Jongleure, überhaupt die Varieté- und Zirkuskünstler einbezogen hat, und vor allem: welches moralische Problem des kommenden Sportzeitalters liegt in der Vermählung von Erwerbssinn und körperlicher Geschicklichkeit bei den Taschendieben!

In: Der Querschnitt, Nr. 11 (1931), S. 247-252 (Auszüge)

N.N.: Das Stadion. (1931)

             Gestern wurde das große Stadion der Gemeinde Wien feierlich eröffnet. Der

Bundespräsident Miklas, Bürgermeister Seitz und Stadtrat Tandler haben in dem Riesengebäude des Massensports über die hohe Bedeutung der Körperkultur ge­sprochen, Arbeitersportler haben vor fünfundzwanzigtausend Zuschauern gezeigt, was sie können.

Der einzigartige Aufstieg des Sports, der noch vor gar nicht langer Zeit offiziell kaum zur Kenntnis genommen wurde, der als Eindringling in das Gehege der Bürgerwelt galt, wird an solcher Feier, undenkbar in der Vorkriegswelt, auch den Abseitsstehenden offenbar; daß der Sport ein gewaltiger Kulturfaktor ist, daß er einen neuen Menschentypus formt, wird heute kaum noch geleugnet. Aber so sehr auch die Bürgerwelt geneigt ist, das zuzugeben, so wenig ist sie in Österreich geneigt, allzuviel für die Sportbewegung zu tun; meistens ist es bei schönen Worten und unverbindlichen Redens­ arten geblieben. Erst die sozialdemokratisch verwaltete Gemeinde Wien hat in der Förderung des Sports eine soziale Aufgabe und Verpflichtung erkannt und diese Erkenntnis produktiv gemacht; das Stadion ist ein großartiges Monument dieser Erkenntnis. Dienst an der Jugend des Volkes, an der Generation der Zukunft, das ist das große Prinzip. Säuglingsfürsorge, Kindergärten, Kinderbäder, Ferienkolonien, Sportplätze, Badeanlagen, menschenwürdige Wohnungen – all das ist Verwirklichung dieses Grundprinzips, dem nun auch das Stadion dient. Der Kampf um die Volksgesundheit – ein Kampf, der nicht nur gegen hundert objektive Schwierigkeiten, sondern auch gegen das Unverständnis, gegen die dumpfe Gehässigkeit der bürgerlichen Parteien geführt werden mußte und weiterhin geführt werden, muß – das ist der Kampf, den die Wiener Sozialdemokratie um das Stadion zu führen hatte, wie um jeden Wohnbau, um jede neue Für­sorgeaktion. Die Jugend, die da in der kapitalistischen Welt heranwächst, ihren Maschinen, ihrer Ausbeutung, ihren Todes­giften preisgegeben, muß verzweifelt und mit allen Mitteln um ihre Gesundheit ringen – sie braucht den Sport, um nicht zugrunde zu gehen, sie hat mit dem Sport einen Schimmer von Freiheit und Schönheit, in diese nicht sehr freie und nicht sehr schöne Welt gebracht. Sie darin zu unterstützen, gegen alle Spießer und alle Dunkelmänner, halten wir Sozialisten für eine hohe Notwendigkeit; bis an die Grenzen des Mög­lichen ist die Gemeinde Wien dieser Notwendigkeit gerecht geworden.

Zum zehnjährigen Bestand der Republik hat die Gemeinde Wien den Beschluß gefaßt, der Jugend der Republik ein Geschenk zu machen und zugleich der Republik ein Denkmal zu stiften, das nicht Er­innerung in Marmor, sondern Wirkung in die Zukunft ist. Dieses Geschenk an die Jugend, dieses Denkmal der Republik ist das Stadion; hier soll sich die Freude am Körper, von den Muckern verpönt und von den Hütern des Ewig-Gestrigen mit Beunruhi­gung wahrgenommen, ungestüm entfalten, hier sollen die Kraft und Bewegtheit, die freie Haltung und die formgebändigte Energie der jungen Generationen; die Leistung des einzelnen und der Sieg der Gemeinschaft den Menschen ein Wohlgefallen sein. Die Republik braucht keine Traditionen, keine Kostüme der Vergangenheit, sie braucht ein junges Geschlecht, geformt nach dem Bilde der Freiheit, zu lachen, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich und nicht zu achten der Götzen von gestern. Im Sport soll dieses Geschlecht sich stärken und stählen für seine größte Aufgabe: völlige Befreiung des Körpers und des Geistes, der Arbeit und des Lebens aus allen Fesseln der Vergangenheit.

Daß der Sport nicht zum Selbstzweck erstarre, sondern Element einer allgemeinen, einer durchaus neuen Kultur sei, dafür bürgt die Arbeiterbewegung, die aus der Sport­bewegung neue Formen gewinnt und der Sportbewegung neuen Inhalt verleiht. Der Arbeitersport, der in das Stadion seinen Einzug gehalten hat, das wahre Kind dieser Zeit; die aufsteigende Arbeiterklasse und der aufsteigende Sport haben sich vereinigt, um eine neue Kultur des Körpers und des Geistes zu zeugen Daß der Arbeiter, der einst ausgeschlossen war von allen Festen und allen kulturellen Gütern der Bürger­welt, heute Sport betreibt wie der Bürger­liche, bedeutet an sich schon viel, trotzdem ist es nicht das Entscheidende; entscheidend ist vielmehr, daß der Arbeiter heute anders Sport betreibt als der Bürgerliche, daß er in ihm die Harmonie sucht, die der kapitalistische Betrieb zerstört, die Gemeinschaft- die der bürgerliche Sport durch Einzelrekorde sprengt, die Befreiung von den Konventionen der alten Unkultur. Daß die Gemeinde Wien das Stadion nicht nur sportlichen, sondern auch künstlerischen Veranstaltungen widmen will, entspringt völlig der Tendenz, die der Arbeitersport verfolgt; der proletarische Kampfeswille und der sozialistische Kulturwille sind die Adlerflügel, die den Arbeiter­sport über den bürgerlichen Sportbetrieb hinaustragen.

All das wird bald im Stadion weithin sichtbar werden; wenige Tage nur trennen uns von der ArbeiteroIympiade, von dem internationalen Massenfest in Wien. Aus allen Ländern kommen junge Sportler, junge Sozialisten nach Wien, um hier mit der Kraft ihrer gestählten Körper für den Sport, mit der Leidenschaft ihrer Gesinnung und der Schwungkraft ihrer Solidarität für den Sozialismus zu demonstrieren. Diese Stadt wird ein wundervolles Schauspiel er­leben: über den drückenden Alltag und die lähmende Sorge hinaus wird uns die sozia­listische Jugend den Schimmer einer schöneren Zukunft zeigen, die Ahnung einer helleren Welt verleihen. Und diesem Schau­spiel sozialistischen Kulturwillens wird der

Kongreß der Internationale folgen, sozialistischer Kampfeswille wird die Waffen prüfen und die Richtung weisen. Bekenntnis zu einer neuen Kul­tur, die den Körper heiligen und den Geist nicht zum hochmütigen Tyrannen, sondern zum treuen Diener der Gemeinschaft machen soll, Lebensform der jungen Generation und Fahnenweihe der Zukunft – das wird die

Arbeiterolympiade sein. Bekenntnis zum Klassenkampf des Proletariats gegen den Kapitalismus, Abschätzung aller Möglichkeiten und Wahl der richtigen Methoden, Vorbereitung einer Welt, in der solche Olympiaden nicht Flammensignale in der Finsternis, sondern taghelle Siegesfeste sind – das wird der Kongreß der Internationale sein.

Die jungen Sportgenossen werden in Wien das Stadion finden, den idealen Schauplatz für ihre Veranstaltungen. Die Internationale aber wird in Wien eine Stätte finden, wie kaum in einer Stadt: eine Partei, die das ganze, das einige Proletariat verkörpert, wird ungezählte Arbeiter­ herzen, in denen der Sozialismus nicht ein kaltes Denkmal, sondern lodernde Flamme ist.

In: Arbeiter-Zeitung, 12.7.1931, S. 3.

N.N.: Bilder vom Wiener Elend (1919)

             Das Elend der Erwerbslosen ist so grenzenlos, daß sich von seiner Tragik niemand einen Begriff machen kann. Der „Verein soziale Hilfsgemeinschaft“, dem Frau Anitta Müller vorsteht, sucht die zur Bekämpfung des Elends geschaffenen Institutionen weiter auszubauen und ruft die ganze Bevölkerung zur organisierten Mithilfe auf. Im Zuge dieser sozialen Aktion veranstaltete der Verein gestern abends im mittleren Konzerthaussaal einen Lichtbildervortrag. Wie Schriftsteller Bruno Frei, der als erster am Vortragspult stand, betonte, nütze alle private Wohltätigkeit angesichts der maßlosen Dimensionen des Elends nichts; der Abend sei vor allem der Aufklärung und Organisation der Besitzenden gegen das Elend gewidmet, es könne künftig nicht bei einem Almosen bleiben, der Schenkende müsse für den Sehnsuchtsschrei nach dem Leben, der ihm aus den Elendsquartieren entgegenschallt, ein Stück seines Lebens, ein Stück seiner Freude geben. Frau Anitta Müller, die ihm im Vortrag folgte, sprach auf die gleiche entschlossene Weise. Wenn schon das gesprochene Wort eine Anklage gegen das bisherige soziale System, ein gequälter Aufschrei aus einem tiefen Verstehen war, so zwang die große Reihe von Lichtbildern, die im wahrsten Sinn des Wortes Schattenbilder menschlichen Schicksals sind, zu einem geradezu grauenhaften Erkennen der unausprechlich traurigen Lage, in der sich viele Tausende der in unserer nächsten Nähe wohnenden Mitmenschen befinden. Die Wiener Spaziergänge, die man da hauptsächlich durch Favoriten, Lichtental und den zweiten Bezirk machte, enthüllten nicht etwa Armut, nein, ein schwärendes Dahinsiechen, ein körperliches und seelisches Verkrüppeln, einen Herd von Volksseuchen und unerhörtesten Verwahrlosungen. Ihrer Elf in eine Küche gesperrt, mit Tuberkulose, Rachitis, Rheumatismus und nagendem Hunger, lichtlos, freudelos, hoffnungslos. Kinder mit rachitisch aufgeweichten Beinen rutschen jahrelang in feuchten, schimmligen, unmöblierten Kellerlöchern herum, haben vielleicht nie die Sonne gesehen. Den Erwachsenen geht es nicht besser. Eine alte Pfründnerin, tuberkulos, liegt seit Jahren im feuchten, schmutzstarrenden Bett, sie ist von der Welt völlig abgeschlossen, und die Handreichungen der Menschen, die sich ihr nahen, bewirken nur soviel, daß sie nicht plötzlich auslischt, sondern in einer entsetzenerregenden Einsamkeit langsam dahinstirbt. Ist es leichter, das Elend zu ertragen, wenn man es gesellig erträgt? Da liegen in den Massenquartieren, in denen ein Bett für eine Nacht heute mit K. 1.- bis 1.50 bezahlt werden muß, ihrer sechzig beisammen. Es gibt Leute, die schon seit Jahrzehnten Stammgäste in den Massenquartieren sind; absoluter Mangel an Licht, Luft und Reinlichkeit zehren schwer am Leben. Es greift aber nichts so schwer ans Herz als die schier unendliche Bilderserie vom Kinderelend in Wein, die, wie Anitta Müller erzählt, nur ein ganz geringes Bruchstück der Wirklichkeit ist. In der Tat, da ist mit halben Maßregeln nichts ausgerichtet. Es muß in vollem Umfang geholfen werden. Und es ist nicht die geringste Zeit dazu, zu zaudern. Sonst haben wir keine Gegenwart und keine Zukunft.

In: Der neue Tag, 23.5.1919, S. 14.

Innozenz [  ]: Des Bischof grüner Tisch. (1928)

Der interessante Fall ergibt sich, daß ein streitbarer Kirchenfürst, der durch seine Hirtenbriefe und theoretischen Überzeugungen in der letzten Zeit mit den Meinungen und Taten seiner eigenen Glaubensgenossen in argen Widerspruch geraten ist, in die Öffentlichkeit flüchtet und einer Wiener Lokalkorrespondenz eine moraltheologische Abhandlung übergibt, um vielleicht doch noch über den Weg der Presse das Ohr des großen Publikums zu finden, das auf dem Wege normalseelsorgerischer Tätigkeit anscheinend nicht mehr gefunden wird. Wir reden vom Linzer Bischof Johannes Gföllner, der für die nächste Woche das seltene Synedrion einer Diözesansynode in seine Stadt zusammen­gerufen hat, um wieder einmal engeren Kon­takt mit den anderen Seelsorgern seiner Diö­zese zu gewinnen, von jenem Bischof, über dessen Versetzung in ein römisches Ausgedingamt seit einiger Zeit so viel gemunkelt wird, der nun aber in einer Art Hilferuf an die Öffentlichkeit den Schwanengesang vorbereitet.

Das Thema der bischöflichen Ausführungen ist nicht gang neu. Es ist unter den großen Fragen, die heute an die katholische Kirche herantreten, auf die sie aber in ihrer Hilflosigkeit keine rechte Antwort mehr weiß: Krieg, soziale Frage, Körperkultur, nicht die unbedeutendste. Körperkultur ist nun einmal die Signatur unserer Zeit und noch stärker vielleicht der kommenden. Wir haben uns fast zweitausend Jahre verhäßlicht, geschwächt, verschmutzt und sind trotz intensivsten Seelenkults nicht um einen Deut moralisch weitergekommen. Nun will sich wenigstens der Körper aus Scholastik, Dogmatik und Intellektualisierung retten — und das ist der Sinn der neuerwachten Wanderlust, des Sportes, der Gymnastik, der Rhythmik, der Badekultur, des Weekends. So groß, so unwiderstehlich, so hinreißend ist die Bewegung, daß sich selbst die engsten Glaubensfreunde der Bischöfe ihr nicht mehr ent­ziehen können. Katholische Mädchen wandern mit katholischen Knaben, katholische Turnerin­nen üben und zeigen sich im Schauturnen neben katholischen Jünglingen, katholische Touristen klettern auf die Berge mit katholi­schen Touristinnen und müssen nicht selten gemeinsam auf dem Heulager nächtigen, katho­lische Bürgermeister errichten ausgezeichnete Strandbäder. Es ist ein Prozeß, der selbst in unserem kleinen Österreich schon Millionen er­faßt hat. Und katholische Mädchen machen voll Begeisterung die hygienische Mode der kurzen Haare und Kleider mit. Mit einem Wort: die Hirtenbriefe predigen ins Leere, die Bischöfe bleiben Rufer in der Wüste.

Es ist das tragische Schicksal der katholischen Kirche, die in einem tieferen Sinne ihre historische Mission noch nicht beendet haben müßte, daß sie gegenüber den Ereignissen, den Wissenschaften und den Forderungen des Tages stets um ein Beträchtliches zurück­ bleibt und erst allzuspät einlenkt. So war es vor Jahrhunderten mit der Entthronung der geträumten Sonderstellung der Erde im Weltmittelpunkt, im 19. Jahrhundert mit dem Entwicklungsgedanken, so ist es heute mit den praktischen Forderungen, die sich aus Pazifismus, sozialer Not und körperlicher Renaissance ergeben. Man weiß, die Kirche wird eines Tages nachhinken und die Forde­rungen der Zeit erfüllen. Man weiß aber auch, es wird zu spät sein.

Innerhalb der retardierenden Elemente der Kirche gibt es nun Persönlichkeiten, die stärker erkennen, wo in diesem oder jenem Punkte unsere Zeit der Schuh drückt, und andere, die gänzlich den Kontakt mit ihr ver­loren haben. So behaupten nun die Franzosen beispielsweise, daß ihr Pariser Erz­bischof Dubois ein durchaus zeitgemäßer Mann sei. Die Pazifisten und Kriegsgegner behaupten Ähnliches von unserem Professor

Ude. Sogar von katholischen Priestern hört man hie und da, die für die sozialen Notwendigkeiten unserer Generation volles Ver­ständnis aufbringen. Zu den anderen Persönlichkeiten aber, die blind durch ihre Epoche gehen und nur mehr wenig lernen können, gehört der Linzer Bischof, dem sogar die geist­lichen Musikkonzerte in den Kirchen ein Greuel sind. Hätte er sehende Augen und ein weises Herz, er hätte längst sehen können, wie // die Körperkultur unserer Tage – von weni­gen Ausnahmen und Übertreibungen abgesehen – und der Sport in unsere reineren Leiber neue, reinere Seele einziehen läßt, wie die Ferien vom Stadt-, Geschäfts- und Profitleben auch Ferien vom Herz- und seelenlosen Wirtschafts-Materialismus unse­rer Epoche bedeuten, wie neue psychische Qualitäten — Hilfsbereitschaft, Hochherzig­keit, Aufopferung, Ritterlichkeit, Heldentum – im gemeinsamen Kampfe mit Raum und Zeit und Widrigkeiten der Natur erwachsen. Hätte er sehende Augen…! Aber welcher dieser streitbaren Männer war je in den Felsen und Schutzhütten, in den Strömen und Strandbädern, bei Turn- oder Tanzfesten? Sie urteilen nur nach dem Hörensagen und sind daher zur Blindheit verdammt. Darf man sich wundern, daß dann die eigenen Schafe den Hirten nicht mehr vertrauen! Was soll ein katholischer Turner – der  täglich von sportlichen Wettkämpfen liest und sonntags mit Kind und Kegel selbst auf den Sportplatz als Zuschauer zieht – denken, wenn er hört, sein Bischof verlange, daß er Weib und Tochter zu Hause lasse? Daß das öffentliche Schauturnen „möglichst“ einge­schränkt, daß die gymnastischen Feste „tun­lichst“ nicht von beiden Geschlechtern gemein­sam veranstaltet werden? Im ganzen Leben spielt sich heute alles in gemeinsamer Arbeit von Mann und Frau, die mehr und mehr Kameraden werden, ab und gerade beim Turnen sollen die Geschlechter einander fliehen? Und was sollen übrigens in solch „seelenwichtigen Belangen“, wie sie Bischof Gföllner aufzählt, ein „tunlichst“ und „möglichst“ bedeuten? Wenn die Seele wirklich in Gefahr ist, da sollte es doch nur ein „Ent­weder – Oder“ geben! Und warum auf ein­mal – nur dem Badner oder Gmundner Bürgermeister und ihrer Gemeindekasse zu­liebe – die Konzession des gemeinsamen Badens von Männern und Frauen (bloß die Ankleideräume sollen getrennt werden!), nach­dem man jahrelang das Familienbad perhorresziert und anathematisiert hatte! Glaubt man denn wirklich, die Gläubigen vergessen so schnell? Glaubt man wirklich, die Vernunft sei uns allen schon so durchgegangen, daß nur etwas für Schwimmer, Badende und Strandflaneure bischöflich gutheißen lassen, aber für Gymnastiker und Rhythmiker mit dem Bann belegen?

Die katholische und die übrige Welt wird die Auslassungen Dr. Johannes Gföllners mit mehr als gemischten Gefühlen hinnehmen. Selbst wo sie Richtiges und Treffendes in ihnen entdecken wird— und bei gutem Willen wird man auch manches Vernünftige dort finden— wird sie beklagen müssen, daß es sich selbst entwertet und im Wust, zeitfremder Pseudodogmatik und Moraltheologie untergeht. Sie wird erkennen, daß die Ein­sichten am grünen Tisch des bischöflichen Palais entstanden sind und nicht im lebendi­gen Leben. Der grüne Tisch des Bischofs aber und die Sehnsucht der Welt nach Gesundheit, Kraft, Schönheit, Tatenlust und Natur­verbundenheit, das sind Dinge, die nicht mehr zur Deckung zu bringen sind. Und daher muß die Welt – auch die katholische – an den Produkten des zeitfressenden, grünen Tisches lächelnd vorübergehen.                                                                             Innozenz.

In: Der Tag, 17.8.1928, S. 1-2.

N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen? Dr. Max Graf Thun-Hohenstein und seine Körperkultur. (1930)

N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen? Dr. Max Graf Thun-Hohenstein und seine Körperkultur.

Es lohnt sich, Dr. Max Graf Thun-Hohenstein, dessen neuartige Körperkultur revolutionierend zu wirken anfängt, einen Besuch abzustatten. Zu den bisher mehr oder minder lebhaft besprochenen Sensationen seiner Schule gehört, daß dort die Menschen auf allen Vieren kriechen. Kopfschüttelnd sah ich unlängst diesem Treiben zu, als einer von den Be­geisterten, die eben ihre mühsam erlernte Kunst erprobt hatten, mir mit spöttischem Humor sagte: „Haben Sie schon einmal gesehen, daß ein Pferd Gelenksübungen macht? Ich meine so: Zwanzigmal niederhocken und wieder aufstehen, Beine seitwärts stoßen, je zehnmal Kopfkreisen links und rechts, nicken mit dem edlen Haupte und so fort. Ich habe noch kein so dummes Roß gesehen. Und auch den Leuten, die Pferde trainieren, fällt es nicht ein, das stolze Roß durch solche Übungen mit der nötigen Geschmeidigkeit und Muskulatur zu versehen. Also, was tun diese Leute? Sie lassen dem Pferd seine natürlichen Bewegungen und bestreben sich nur, diese zu veredeln oder noch besser: die Gangart rein herauszuarbeiten.“                                                                                                                           

Graf Thun hatte in seinen Holzpantoffeln und seinem wallenden violetten Sportmantel, der ihm fast das Aussehen eines Priesters der Naturlehre gibt, lächelnd zugehört. Was sollte aber ich mit solcher Weisheit anfangen? Graf Thun erläutert: „Die natürliche Bewegung ist das beste Training für Mensch und Tier. Gymnastische Uebungen macht man zeitweise, aber man bewegt sich den ganzen Tag. Kann man sich richtig bewegen so wird man auch jeden Sport ganz leicht erlernen und die mühselige Dressur des Sportlers wird, was die Grundbegriffe der Körperkultur anbelangt, zu neunzig Prozent erspart.“ Der Mann mit dem Humor kann sich nicht enthalten, diese Belehrung des Grafen Thun fortzusetzen: „Ein Mann, der zehn Minuten täglich trainiert, ganz so, wie es im Büchel steht, und während der übrigen Zeit des Tages seinem Körper alle Bewegungsfreiheit läßt, scheint nur einem Frommen ähnlich, der jeden Sonntag zwar eine halbe Stunde in die Kirche geht, während der übrigen Woche aber nur zum Schaden seiner Mitmenschen auf der Welt ist.“ „Ja, aber wie lernt man sich richtig bewegen?“

Graf Thun behauptet, die aufrechte Bewegung des Menschen sei nicht wesentlich verschieden von der horizontalen des Tieres, sie ist „nur“ transponiert. Er hat die Bewegungen der Tiere jahrelang studiert und nimmt sie als Vorbild für die Übungen, die er den Menschen vorschreibt. Warum aber soll der Mensch Übungen auf allen Vieren machen und warum nimmt Graf Thun gerade das Pferd als ideales Vorbild? — Nun, es gibt eben auch unter den Tieren eine Stufenleiter der Ent­wicklung und das Pferd dünkt ihm hinsichtlich der Bewegung als das entwickeltste und edelste. Es ist auch einer Veredlung seiner Bewegungen durch den Menschen fähig. Wieder mengt sich der Sarkastiker ein: „Wenn Sie sich beispielsweise einen Igel zum Vorbild nehmen, so zweifle ich stark, ob es Ihnen gelingen // wird, seine Gangart zu veredeln. Aber im übrigen steht Ihnen das frei, Sie können sich auch eine mährische Mastente zum Modell Ihrer Bewegungen erwählen.“                                      

Noch immer aber bleibt für den Besucher die Frage ungeklärt: Warum um Himmels willen dieser Reigen von Menschen, die auf allen Vieren kriechen?                                            

Da setzt sich wieder die Philosophie des Grafen ein: Der Mensch soll deshalb Vierfußbewegungen üben, weil er so zur Grundlage seiner transponierten Zweifußbewegung zurückkehrt und sich selbst auf diese Art ungeahnte Quellen des Körpergefühls, der Balance und der Kraft eröffnet. Tut er dies oft, so kehrt er gewissermaßen zu seinen Uranfängen zurück und — so setzt der Mann mit der Ironie unaufgefordert fort — entwickelt eine Kraft wie der selige Antäus. Und kaum daß er diese Pointe von sich gegeben hat, schöpft er schon neue Kraft, indem er auch die Hände zu Gehwerkzeugen macht und wild davon stürmt. Er sieht weder einem Menschen, noch einem Pferd ähnlich, eher einem anderen Tier, über das der selige Darwin beredten Auf­schluß gegeben hat.

Die Groteske dieser Art Körperkultur aber schwindet von Minute zu Minute, wenn man in den Übungssälen des Grafen Thun länger verweilt. Seine Erklärungen sind stets ungemein plausibel. Besonders interessant sind seine Parallelen zur Musik. Die Übungen des Grafen beruhen auf dem „Schritt“, dem „Trapp“ und dem „Galopp“, diesen vier Formen legt er musikalische Taktarten zugrunde. Den Walzer führt er auf den Galoppsprung zurück, dem seiner Ansicht nach der Dreivierteltakt innewohnt. Erinnert man sich recht, so trifft diese Anschauung des Grafen zu. Denn einst wurde der Walzer auf sechs Schritte getanzt und der Anblick der Menschen, die sich in seinem Takt bewegten, glich einer Herde junger Pferde. Und das Schnauben — mengte sich der inzwischen zurückgekehrte Sarkastiker ein —, besorgten die Mütter, die gerührt längs der Wände saßen.

Graf Thun ist aber nicht nur ein Reformator der Körper­bewegung, er ist auch Philosoph und Psychologe. Zu seinen Tieren zählt auch immer eine Reihe von Affen, die maßlos auf­ einander eifersüchtig sind. Wird der eine liebkost, wird der andere böse. Kürzlich befreite sich einer der größeren Affen aus seinem Käfig, stürzte sich auf ein kleines Kapuzineräffchen und erwürgte es auf der Stelle. Und dies nur deshalb, weil der Graf knapp vorher das Äffchen gestreichelt hatte. „Was sollte ich tun?“ erzählt der Graf. „Sollte ich den Mörder strafen? Hätte er gewußt, warum ihm Strafe widerfährt? Ich versuchte es, ihm seine Missetat zu Bewußtsein zu bringen, indem ich ihn ignorierte. Und siehe da, der Affe fing an trübsinnig zu werden, er aß nichts mehr und wäre fast eingegangen, wenn ich mich nicht noch im rechten Moment seiner erbarmt hätte. Und ich Unmensch hätte im ersten Augenblick fast ebenso an ihm gehandelt, wie er an seinem Stammesbruder.“

Man sieht, Körperkultur und Ethik vertragen sich recht gut, wenn man sie nur richtig zu begreifen vermag.

In: Neues Wiener Journal, 15.8.1930, S. 9-10.

N.N.: Der derzeitige Stand der internationalen Kulturbundbewegung. Mitteilungen des Prinzen Karl Rohan. (1925)

Der Generalsekretär der Fédération Internationale des Unions Intellectuelles, Prinz Karl Anton Rohan, hat kürzlich in einer Pressekonferenz nähere Mitteilungen über die bisherige Tätigkeit sowie über das Aktionsprogramm des Kulturbundes gemacht, wie es schon vom kommenden Herbst angefangen in extensiver Weise zur Durchführung gelangen soll. Man erfuhr von den Fortschritten, die die Bewegung fast allen Ländern Europas bereits gemacht hat. Im Italienischen Kulturbund zum Beispiel sitzen Fascisten und Antifascisten friedlich nebeneinander, was in Anbetracht der hochgespannten Gegensätze gerade in diesem Lande höchst bemerkenswert ist. Internationalen Ausdruck fand die Bewegung zum erstenmal in der gründenden Versammlung der Fédération Internationale des Unions Intellectuelles im vergangenen November in Paris, an der bereits zehn Nationen teilnahmen. Ein genau detailliertes Aktionsprogramm legte sowohl die Ziele als auch die Arbeitsmethoden der nationalen Kulturbundorganisationen fest. Im wesentlichen handelt es sich dabei um die Organisierung des internationalen geistigen Austausches, von  Durchreiseerleichterungen, Empfängen Veranstaltung von Vorträgen usw. Auf dem großen

Bankett, das unter dem Vorsitz des jetzigen Ministerpräsidenten Painlevé den Schluß dieses Kongresses bildete, und bei welchem sämtliche Redner in ihrer Sprache begannen, sich selbst übersetzten und Französisch endeten, ereignete es sich zum erstenmal, daß vor einem offiziellen und überparteilichen Frankreich eine deutsche Rede gehört werden konnte. Ja, mehr als das: Als Painlevé dem Vertreter Deutschlands, Kurt Wolfs, das Wort erteilte, brach eine förmliche Applaussalve los. Die menschlich warme Atmosphäre, die dadurch entstand, kennzeichnete auch die darauffolgende Soiree, auf der Deutsche und Franzosen sowie

Angehörige aller möglichen anderen Nationen sich in einer Weise zu einander fanden, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Der nächste Internationale Kongreß findet am 2., 3. und 4. November d. J. in Mailand statt.

Dieser raschen internationalen Entwicklung entsprechend war es notwendig auch den Wiener Kulturbund auf eine breitete Grundlage zu stellen. Vor wenigen Tagen erfolgte

die konstituierende Sitzung des erweiterten Gründerausschusses. In der aus diesem Anlasse ausgegebenen Kundgebung heißt es: „Bisher sind in sechs europäischen Hauptstädten Vereinigungen geschaffen worden, die das erschütterte Fundament der gemeinsamen  Voraussetzungen geistigen Lebens wieder aufdecken. In ihrer Zusammenarbeit knüpfen sie an die dauernden geistigen Zusammenhänge Europas an, um sie wieder lebendig zu machen

und weiter zu führen. Der „Kulturbund“ und seine Schwesterorganisationen verfolgen dieses Ziel auf dem allein sicheren Boden der freien Berührung einzelner Persönlichkeiten. Er glaubt, seinen Absichten dadurch am besten zu dienen, — daß er sich bewußt jenseits aller politischen Ziele stellt; er ist sich des zuletzt identischen Wesens und Gehaltes Europas sicher, daß er gerade in der Bejahung und Entfaltung der national selbständigen Ideale den Weg zur Erreichung seines Endzweckes sieht. Nach den Jahren des ersten Aufbaues steht der Kulturbund in Österreich bereits vor den ersten praktischen Erfüllungen seines Gedankens Ein internationaler geistiger Verkehr von hoher und lebendiger Intensität ist organisatorisch vorbereitet Er verlangt nun auch in Wien, wo die Bewegung wurzelt, die Teilnahme und Mitarbeit aller jener, die über allen Gegensätzen nicht eine höhere geistige Gemeinschaft und ihre fruchtbaren Anregungen verlieren wollen.

Auskünfte erteilt das Sekretariat des Kulturbundes, Wien, 6. Bezirk, Linke Wienzeile 4.

In: Neue Freie Presse, 22.6.1925, S. 6.

Gina Kaus: Die Kameradschaftsehe. (1928)

             Die Kameradschaftsehe, meint Bertrand Russel, ist die einzige Lösung für die sexuelle Not unserer Jugend. Die Jahre zwischen sexueller Reife und materieller Unabhängigkeit sind erfüllt von dem sinnlosen Kampf, den die gesellschaftliche Heuchelei gegen das natürliche geschlechtliche Bedürfnis führt; dieses Bedürfnis, durch die Schwierigkeiten, die seiner Befriedigung entgegenstehen, gewaltig gesteigert, führt, vom geraden Wege abgedrängt, zu Ausschweifung und häßlicher, verlogener Promiskuität.

             Der gerade Weg aber, meint Russel, ist die Kameradschaftsehe. Sie soll sich dadurch von der landesüblichen unterscheiden, daß sie nicht für die Ewigkeit gedacht und deshalb im gegenseitigen Ein-//verständnis ohne weiteres lösbar ist, daß sie nicht zum Kinderkriegen da ist, und daß der Mann keinerlei Alimentationspflicht gegenüber der Frau hat.

             Praktisch läßt sich gegen diesen Vorschlag nicht das mindeste einwenden, um so weniger, als er praktisch bereits vielfach durchgeführt wurde, denn es gibt heute in allen Ländern eine Menge sehr junger Menschen, kinderlos, auf Termin und auf „geteilte Rechnung“. Es ist dazu gar kein legislatorischer Akt notwendig, bei gutem Willen von beiden Seiten kann die Kameradschaftsehe bequem durch die Maschen der bestehenden Ehegesetze schlüpfen.

Vor 20 oder 30 Jahren, in Wedekinds Tagen, schien die Erkenntnis, daß die Heuchelei schuld ist an der sexuellen Not der Jugend, unerschütterlich. Sie ist längst erschüttert, und die Beschmuser des Krantz-Prozesses immer wieder eine „Frühlingserwachen“ in der Steglitzer Tragödie sehen wollen, so sahen sie dies aus Blindheit. Denn hier waren Wedekinds kühnste Forderungen erfüllt, die Halbwüchsigen waren nicht nur sexuell aufgeklärt, sie waren auch sich selbst überlassen, betätigten sich wie sie wollten, und wenn sie trotzdem in tiefste Verwirrung gerieten, so zeigt dies, daß die Pubertätsnot auch durch einen passenden Beischläfer und günstige Lösung der Lokalfrage nicht gebrochen wird. Vor allem – diese Pubertätsnot wird nicht so einfach erlebt. Dem kühlen Beobachter auch der eigenen Jugend mag scheinen, daß aller Pein und Angst ein psychologisches Bedürfnis zu Grunde lag, dessen Befriedigung, wie sich später ergab, einfach und ungefährlich war. Er hat dann aber vergessen, daß dieses Bedürfnis, als es seine Adoleszenz verwirrte, nicht zielbewußt auftrat, wie das Bedürfnis nach Speise und Trank, sondern untrennbar verwoben mit den tiefsten und empfindlichsten Persönlichkeitsproblemen. Das ist nun freilich nicht in der Natur, sondern an der „Kultur“ gelegen, aber nicht bloß an jener, die einen Gänsefüßchentritt verdient, weil sie eigentlich Heuchelei heißt, sondern an all dem, was im Verlauf der Jahrtausende aus dem Männchen, das nach einem Weibchen verlangt, einen Mann gemacht hat, der im Weg zum Weib den entscheidenden Weg zum Du sieht, und mit Recht fürchtet, ihn zu verfehlen. Die übertriebene Bedeutung des Geschlechtlichen für den Halbwüchsigen liegt weit weniger am Mangel an Gelegenheit es auszuleben, als an der Angst vor dieser Gelegenheit. Nicht weil er kein Mädchen seiner Kreise findet, sondern weil er vor diesen Mädchen Angst hat, geht der Knabe zur Prostituierten. Es ist die Schülerangst vor einer Prüfung in einem Gegenstand, auf den man sich nicht vorbereiten kann. Es handelt sich um Liebe. „Bin ich ein Mensch, den man lieben kann? Werde ich, wenn ich meine Gefühle an einen anderen Menschen hänge, nicht grausam gekränkt, enttäuscht, verlassen werden? Und was wird die Liebe aus mir machen?“ Das sind //die Fragen, die, gleichzeitig mit dem Geschlechtstrieb auftretend, diesen gefährlich und beängstigend erscheinen lassen; und man müßte nicht nur jeden verschleiernden Puritanismus, man müßte neun Zehntel aller Kunst, Lied und Drama und Malerei von den jungen Menschen fernhalten, um sie daran zu hindern, dem ersten Zusammenstoß mit dem andern Geschlecht mit übertriebener Erwartung und mit Angst entgegenzusehen. Von dieser ängstlichen Erwartung ist ein weites Wegstück bis zum kameradschaftlichen Eheausflug. Eben jenes Wegstück, das so gefährlich ist und an allerlei Abgründen vorbeiführt. –

             Bleibt das Problem der Ehe. Für jeden nicht religiösen Menschen  kann ein würdiger Sinn der Ehe ausschließlich in der gemeinsamen Verantwortung für die kommende Generation bestehen. Von männlichen Mitgift- und weiblichen Alimentationswünschen abgesehen, kann nur der Gedanke an das Wohl erwünschter Kinder einen Sinn in das tolle Unternehmen bringen: Gefühle, von denen wir wissen, daß sie endlich und unwillkürlich sind, über ihr Ende hinaus unter die Zucht unserer Willkür stellen zu wollen. Junge Menschen haben aber nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, solange sie innerlich und äußerlich nicht imstande sind, sie zu tragen, die Verantwortung für die kommende Generation abzulehnen; wenn sie trotzdem nicht auf die Liebe verzichten wollen, so müssen sie irgendeinen Ausgleich mit der herrschenden Moral treffen, da es nun einmal nicht jedermanns Sache ist, auf die zu pfeifen.

             Also Kameradschaftsehe? Eine Interimslegitimation für die Jahre des Prüfens vor dem ewigen Binden, die Jahre des ungenügenden Einkommens und der möblierten Zimmer? Meinetwegen! Aber wissen, daß es eine Konzession an die alte Tante Heuchelei ist, ein Nachgeben vor dem Hotelportier oder der Zimmervermieterin und anderen obrigkeitlichen Instanzen. Und aufgepaßt, daß die alte Tante nicht den Ehrgeiz am provisorisch gedeckten Tisch einnimmt, denn die Legitimität hat’s in sich. „Diese Ehen sollen im gegenseitigen Einvernehmen leicht lösbar sein, ohne Gerichtsverfahren…“ Aber Herr Russel, bei gegenseitigem Einvernehmen ist jede Ehe leicht lösbar (sogar in Österreich, dem schwärzesten Winkel des Erdballs), das Gerichtsverfahren besteht, betreibt man es gemeinsam, in ein paar langweiligen, aber durchaus harmlosen Wegen zu vollkommen desinteressierten Beamten, und alle Scheußlichkeit liegt nur darin, daß eine Scheidung meist erfolgt, wenn das gegenseitige Einverständnis schon getrübt ist. Wenn auch eine solche Kameradschaftsscheidung durch keine Kinder- und Alimentationsprobleme kompliziert wäre, es bliebe dennoch die Hauptschwierigkeit, die Freigabe des einen durch den andern, nämlich es Nicht-mehr-Liebenden durch den Noch-Liebenden; denn die Liebe beginnt zwar meist bei beiden zugleich, und wenn bei dem einen etwas später, so ist // das kein Unglück; aber sie endet leider fast immer bei dem einen etwas früher, und das ist das Unglück.

             In diesem Augenblick wird der Liebesenttäuschte, was immer er vordem war, zum Legitimisten, er pocht auf seinen Schein, und das gegenseitige Einvernehmen kommt erst notdürftig zustande, bis in allerlei grausamen Verfahren der letzte Rest Kameradschaft totgetrampelt ist. Es ist ganz unverständlich, warum Herr Russel, wenn er schon die Legislatur bemüht, für seine Kameradschaftsehen, die nichts Drittes schützen sollen, weder ein Kind noch eine sittliche Idee, nicht verlangt, was die Menschenwürde unter allen Umständen gebietet: daß sie gelöst sind, sobald auch nur ein Teil die Lösung wünscht.

             Wäre dieser letzte Punkt durchzusetzen, so ließe sich, wie gesagt, nichts dagegen einwenden, daß zwei junge Menschen, um ungestört Weekend-Ausflüge mit erotischen Perspektiven machen zu können, die in Betracht kommenden Instanzen geziemend verständigen, und dafür von ihnen in Ruhe gelassen werden.

In: Das Tage-Buch, H. 10/1928, S. 401-404.

Jacques Hannak: Kunst und Sport. (1927)

Zunächst einmal müssen Wir zwei falsche Beziehungen aus unserer Betrachtung ausschalten. Nach den im Sport heutzutage überhandnehmenden professionellen Darbietungen könnte man nämlich geneigt sein, in den berufsmäßigen Ausübern des Sports selbst etwas wie eine Künstlertruppe zu sehen. Und umgekehrt ist es ja auch schon vorgekommen, daß man den Heldentenor vor aller Öffentlichkeit als Goalkeeper, den Räuber Moor als Mittelstürmer und die heilige Johanna als Tennisgirl bewundern konnte. Dies beides trifft nicht den Kernpunkt der Frage, im Gegenteil, verwischt nur die wirklichen Zusammenhänge zwischen Kunst und Sport.

Ob man den Artisten — und das ist heute der erstklassige Professionalsportler — einen Künstler nennen soll, ist Frage der Definition‚ und Wir mischen uns in diese Wortabgrenzung gar nicht ein. Die interessiert uns auch nicht, weil wir gerade umgekehrt prüfen wollen, worin sich Sport von aller übrigen Kunstausübung unterscheidet, warum er wert ist, als eine Erweiterung des Lebensgenusses aufgefaßt zu werden, die nicht schon im Bereich der Kunst liegt, ihr immanent, sondern jenseits ihrer Grenzen gesucht werden muß. Und ebenso werden wir uns nicht aufhalten bei der Betrachtung von Theaterkünstlern, Schauspielern, Sängern, die aus oft sehr durchsichtigen Gründen ihrem Publikum anstatt von den Weltbedeutenden Brettern einmal Vom grünen Rasen des Sportplatzes her kommen wollen.

Wenn wir also wirklich ernste Beziehungen zwischen Kunst und Sport herstellen wollen, dürfen und können wir uns gar nicht daran halten, daß auch der Piccaver Fußball spielt und daß auch der Uridil schon auf der Bühne aufgetreten ist, sondern müssen in die Tiefe gehen, müssen die Wirkungen untersuchen, die Kunst und Sport auf die Massen ausüben. Da ist zunächst eine charakteristische Unterscheidung zu machen: die Kunst fordert den Zuschauer, den Betrachter, der Sport fordert den Ausübenden. Das heißt: Nicht jeder kann Theater spielen, nicht jeder kann malen, nicht jeder kann künstlerisch tanzen, aber jeder kann Sport betreiben, jedermann steht es offen, zu schwimmen, zu rudern, zu ringen, Fußball zu spielen, zu wandern, Ski zu fahren. Das Wesen der Kunst ist der Künstler, das Wesen des Sports ist der Dilettant. Gewiß gibt es auch Dilettantentheater,  Dilettantenmusikkonzerte‚ Dilettantenzeichner und -maler, aber ihr Vergnügen wird auf private Zirkel beschränkt bleiben, wird eine unter Umständen geistig sehr hoch stehende, aber doch private Betätigung sein. Und anderseits gab und gibt es gewiß auch  weltberühmte, ganz in die Öffentlichkeit gerückte Sportler, Wie: Nurmi, Suzanne Lenglen, Vierkötter, Lindbergh‚ berühmte Fußballmannschaften‚ wie: Newcastle United, Prager Sparta oder Uruguay. Aber gerade weil diese Auserwählten‚ Auserlesenen vor aller Welt‚ vor einem Parkett von Kunstgenüßlingen spielen und agieren‚ hat man instinktiv den Sport gegen diese Berühmtesten des Sports — abzugrenzen begonnen. Die tiefe Abneigung, die im Volke gegen den Sportprofessionalismus besteht, die übrigens unverdiente Geringschätzung, die die breiten Massen denselben Professionals, an deren Sportartistik sie sich begeistern, innerlich entgegenbringen‚ sie ist der sicherste Beweis dafür‚ daß man in den „großen“ Sportveranstaltungen wohl eine Schau, wohl ein erstklassiges Theater erblickt, aber nicht das wirkliche Wesen des Sports. Auf einem Krautacker‚ wo ein paar bloßfüßige Buben sich um einen Fetzenball balgen, auf einer Wiese, wo Ausflügler fröhliche Übungen im Springen und Laufen austragen, in einem Schwimmbassin, wo durcheinander alt und jung, Männlein und Weiblein, Patzer und Könner im //

In: Der Kampf, H. 7 (Okt.) 1927, S. 2-3.

Else Feldmann: Die Stätte des Grauens. (1920)

             Mitten unter Gärten ein riesiger Palast, weiß und blank mit prachtvollen Steinfliesen, alles voll Sonne, Sauberkeit, wohin man blickt, die Hälfte der Wände ist getäfelt, alles andere mit Ölfarbe gestrichen, weiße Lackmöbel in den großen Sälen; hier ist allen „Anforderungen der Neuzeit“ Rechnung getragen, ein Schaustück moderner Einrichtung, wie überhaupt modernen Wesens, ein „Triumph der Hygiene des XX. Jahrhunderts“ mit seiner weißen Helle: das ist Lainz, die Stätte des Grauens; denn wenn man näher hinsieht – und das Nahehinsehen auf die Dinge erscheint mir erste Menschenpflicht, erster Weg der Erkenntnis zum Unterschied von der „Wegschau-Theorie“, die von ganzen Ländern und Staaten geübt wird – mit welch traurigem Erfolg, wissen wir – wenn man näher hinsieht, bemerkt man, daß dieses weiße Glänzen wie ein Symbol auf diesem Riesenhause mit seinen 5800 Einwohnern liegt – es ist ein einziges weißes Totenlaken.

Versorgungshaus – Siechenhaus, welche Grausamkeit schon in den Namen! Wenn keine andere Qual an den Seelen dieser Unglücklichen zehrte, sie hätten allein damit genug: es ständig zu fühlen und zu wissen, daß sie sich im Siechenhause befinden.

Die Ideen großer Menschen von Plato bis Popper-Lynkeus beschäftigen sich mit den Fragen: Wie verringert man die Leiden der Menschen? Wie stellt man es an, die Menschen glücklicher zu machen?

In Lainz wird nach der umgekehrten Methode vorgegangen.

Es gehörte das Genie der Brüder Goncourt dazu, zu schildern, wie an wehrlosen, alten Menschen Grausamkeiten begangen werden. Ich kann auf dem kleinen Raum einer Tageszeitung heute nicht mehr als einige Stichproben geben von dem, was ich gesehen und erlebt habe.

Da ist zunächst der Belag. 4000 Menschen haben Platz. Seit den letzten Jahren ist ein steter Überbelag von 1800, im ganzen sind es also 5800 Menschen, daher sind in jedem Zimmer, in jedem Saal die Erdlager. Die alten, kranken Menschen liegen auf einer Matratze am Fußboden — eine Sterbende sah ich dort liegen, sie hatte die Hände gefaltet und sah mich mit verglasten Augen an; sie war ein Menschenskelett mit weißem Haar: eine Verhungerte. Es sterben täglich (an Normaltagen) zehn bis fünfzehn Personen; dafür werden täglich fünfzehn bis zwanzig neue eingebracht, manchmal auch dreißig bis vierzig. Seit die Not in Wien so groß ist, werden die alten Leute, die vor dem Krieg ruhig in den Familien ihr Leben zu Ende leben konnten, in Lainz abgegeben. — Es ist begreiflich: ein Mensch mehr kann heute in einem armen Haushalt ein Verhängnis ein — wie erst ein Mensch, der alt, krank und pflegebedürftig ist, teure Arzneien braucht. Man entledigt sich der alten Leute, man gibt sie nach Lainz, um wieder seine zwei Hände frei zu bekommen. Daher die Überzahl und Erdlager.

In zweiter Reihe steht die Ernährung. An dem Tage, an dem ich draußen war, gab es zu Mittag Wassersuppe, Haferreis mit Bohnen; an einem andern Tag war Gerstel mit Bohnen; die Schwerkranken bekommen Milchreis, aber von Milch ist nicht die Spur; ich habe es gekostet, es schmeckt so ekelhaft und abscheulich, daß einem davon schlecht wird. Die Bohnen waren hart, der Haferreis stach wie Nadeln, das ganze war pappig, ohne Fett und roch angebrannt. Um 11 Uhr rollten die Fahrküchen durch die Säle, um 12 Uhr kamen sie die Teller holen, ein Rieseneimer holte die übriggebliebenen Speisen; aus einem Saale mit vierzig Kranken kam ein voller Eimer heraus; die Kranken hatten fast alles stehen gelassen — mancher Teller war nicht berührt und so wanderte das Essen sofort zu den Schweinen in den Stall, die dick und fett werden. Begreiflich — ein alter, schwacher Magen kann harte Bohnen und stacheligen Hafer nicht vertragen; auf diese Weise bleiben die alten und siechen Leute selbst ohne dieses Minimum Nahrung. Sie gehen an Entkräftung zugrunde. Man soll es nicht glauben, wie zähe so ein altes Leben sein kann; so ein Sterben dauert oft Wochen, ja Monate. Wenn nie an Sterbehilfe gedacht werden kann, hier könnte wirklich daran gedacht werden, und es wäre nur eine Tat der Menschlichkeit. In Lainz, in diesem Riesenpalast, drängt sich einem der Gedanke der Sterbehilfe auf, wie nirgends sonst.

Ich muß mich damit begnügen, das Körperliche erzählt zu haben — und dann muß man, wie gesagt, auch ein Goncourt sein…

***

Die ergreifende Schilderung unserer Mitarbeiterin, deren Zuverlässigkeit wir erprobt haben, läßt leider keinen Zweifel daran aufkommen, daß auch das sozialistisch-republikanische Regierungssystem unfähig ist, den Ärmsten der Armen einen lebenswürdigen Unterhalt zu gewähren. Mit Erstaunen wird man schließlich fragen, wo bleiben die nach Hunderten von Millionen Kronen bewerteten Liebesgaben der fremden Missionen, wenn die gebrechlichen, schwer leidenden Greise des Siechenhauses Hungers sterben müssen?

In: Neues Wiener Journal, 11.4.1920, S. 6.

Ernst Fischer: Das Unbehagen in der Kultur (1930)

Sigmund Freud, der große Begründer der Psychoanalyse, versucht mit wachsendem Bemühn, die Methoden und die Erkenntnisse seiner Lehre zur Deutung gesellschaftlicher Erscheinungen heranzuziehn. Waren schon Totem und Tabu und die Massenpsychologie bedeutende Versuche, Entwicklungsgeschichte und Sozialprozesse psychoanalytisch zu enträtseln, so sind seine beiden letzten Schriften Die Zukunft einer Illusion und Das Unbehagen in der Kultur großartige Auseinandersetzungen mit der Religion und mit der Kultur.

In dem ersten der beiden mit diamantener Klarheit und wunderbarer Präzision geschriebenen Bücher wird die Religion als infantile, kindische, illusionistische Weltanschauung entlarvt. Gedankenbeladener aber und perspektivenreicher als dieses mutige Bekenntnis eines freien Geistes ist die Untersuchung über das Wesen und die Problematik der menschlichen Kultur, die tiefe Analyse des „Unbehagens“, das untrennbar, unlösbar mit ihr verknüpft ist. Wir finden in dieser Schrift soziologische Gedankengänge, die höchster Bedeutung, eindringlichster Durchdiskutierung wert sind. Man wird sehen, daß dieser gewaltige Denker in seiner dialektischen Psychologie eine Ergänzung zu unserer dialektischen Geschichtsbetrachtung bringt, deren geistige Wirkung noch gar nicht abzuschätzen ist.

Das Buch beginnt als Kommentar zu der Religionskritik, die Freud in der Zukunft einer Illusion entwickelt hat. Ein Freund schreibt ihm, er habe die Religion nicht richtig verstanden, sie sei mehr als ein kindisches System, sie sei ein „ozeanischesGefühl; Freud erwidert, er müsse bekennen, daß ihm dieses ozeanische Gefühl völlig fremd sei, trotzdem wolle er versuchen, ihm wissenschaftlich gerecht zu werden. Dieses ozeanische Gefühl sei zweifellos älter als das Ichgefühl und das Ichbewußtsein, es sei das Lebensgefühl des Säuglings, des kleinen Kindes, das noch nicht gelernt hat, sich von der Welt zu isolieren, das noch mit allen Dingen unmittelbar und hemmungslos verbunden ist wie mit der Mutterbrust. „Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenden, ja eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entspricht.“ Das „ozeanische“ Gefühl des religiösen Menschen ist Erinnerung an das lebenstrunkene Glück des noch nicht zum Ichbewußtsein erwachten,// noch nicht zur Persönlichkeit verknoteten Menschen, ist ein Zurücktauchen in den Urzustand, in den Infantilismus. Das Lebensgefühl des Kindes, die Bindung an einen mächtigen Vater, der straft und lohnt, ist der entscheidende Inhalt aller Religionen.

Zwei Elemente aber wirken mit: die Frage nach dem „Zweck“ des Lebens und das „Schuldgefühl“ aller Menschen, das „schlechte Gewissen“, das Gewissen überhaupt.

Mit der intellektuellen Rechtschaffenheit des strengen Forschers lehnt Freud es ab, über den „Zweck“ zu philosophieren, all den tiefsinnigen Kauderwelsch über den „Sinn des Lebens“ wiederzukäuen. Metaphysik ist ihm zuwider; er überläßt sie den intellektuellen Falschmünzern aller Art und schlägt sich lieber mit den Dämonen der Tiefe als mit den spinnwebdünnen Engelsgestalten fragwürdiger Überwelten herum. Er schiebt also alle Behauptungen über den „Sinn des Lebens“, die von den Menschen vorgeschoben werden, sacht und behutsam wieder zurück und beschäftigt sich nur mit dem, was alle Menschen wirklich erstreben, was stets die Zweckrichtung ihres Denkens und Tuns bestimmt; das aber, was wir suchen, in mannigfaltigen Formen und auf vielfach verschlungenen Wegen, ist das Glück. Und das ist zweierlei: Lustgewinnung und Leidvermeidung. Positiv: die Erhöhung, die Steigerung des Lebensgefühls in Lust; negativ: die Sicherung des Lebens gegen Leid, gegen Schmerz.

Die Tendenz der Kultur ist Leidvermeidung, Beseitigung, wenigstens Verminderung der Gefahren, Schmerzen und Leiden, die dem Menschen von der Natur, von den Mitmenschen und von den eigenen Trieben drohen. „Das Wort Kultur bedeutet die ganze Summe von Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz der Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“, definiert Freud in erfreulichem Gegensatz zu den Mystikern und romantischen Schwindlern, die uns einreden wollen, „Kultur“ sei ein geheimnisvolles, überirdisches Wesen und unterscheide sich ganz und gar von der „Zivilisation“. Vielleicht müßte man ergänzend noch sagen, daß die Kultur nicht nur die Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen, sondern auch die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu seinem eigenen Ich, zu regeln versucht; aber davon wird noch die Rede sein.

Die Grundelemente der Kultur sind nach Freud: Naturbeherrschung, Reinlichkeit, Ordnung, Schönheit, Geistigkeit und Gerechtigkeit. Die meisten dieser Kulturelemente müssen teuer bezahlt werden: mit einer ungeheuren Einschränkung der Triebfreiheit, mit einem Verzicht auf hemmungslose Lustgewinnung, mit einer Unterwerfung des Menschen unter mannigfaltigen Zwang; denn der Mensch ist durchaus nicht reinlich, ordentlich, geistig und gerecht. Die Kultur produziert also nicht nur Dämme gegen das Leid, nicht nur Sicherungen und Annehmlichkeiten, sondern auch Unlustgefühle; denn jede Drosselung eines Triebes bringt Unlust. Es entsteht daher zweierlei: ein Mißtrauen des Menschen gegen die Leistungen und Einrichtungen der Kultur, die dumpfe Frage, ob all der Komfort nicht zu teuer bezahlt, ob all der Fortschritt nicht ein Betrug sei, und eine leidenschaftliche Sehnsucht nach der Freiheit und Anarchie des Urzustandes, der phantastisch verklärt und überwertet wird. Das Märchen von einem verlorenen Paradies, einer „ozeanischen“ Freiheit und Seligkeit bemächtigt sich vieler Menschen; das „Unbehagen in der Kultur“ wird zur Kulturfeindschaft, zur Rebellion gegen die Kultur. Diese Rebellion ist entweder eine kindische Verneinung aller Kultur oder eine Verneinung dieser unvollkommenen, widerspruchsvollen Kultur, in der wir leben (reaktionäres Rebellentum der Maschinenstürmer aller Art oder revolutionäres Rebellentum des Sozialismus). Schließlich bleibt für den einzelnen, der sich um sein Triebleben geprellt, allzu vieler Lustmöglichkeiten beraubt sieht, noch die Flucht in Rausch und Neurose, der Auflehnungsversuch der Psychose.

In diesem Zusammenhang prägt Freud ein Wort von erschreckender Intensität. Er weist darauf hin (schon Nietzsche hat darauf hingewiesen), daß wir den Göttern der alten Religionen immer ähnlicher werden; sie waren „geschwind wie der Wind“, flogen über Länder und Meere, lebten hoch im // Gebirge, das kein Mensch erstieg— unsere Technik hat diese ältesten Menschheitsträume zum Teil verwirklicht, „die Götter waren Kulturideale“, wie Freud das formuliert. Aber es wird uns vor unserer Gottähnlichkeit bange, wir sind abhängig von Apparaten und Maschinen, es fehlt uns die schwebende Heiterkeit des Olymps. Der Mensch der Technik ist ein „Prothesengott“. Es gibt nur wenige Worte, die mit solch unheimlicher Sicherheit unser Schicksal demaskieren.

Dieser Prothesengott, der die Natur seinem Willen zu unterwerfen versucht, muß auch die eigene Natur den kulturellen Leistungen und Einrichtungen unterwerfen. Er muß auf anarchische, die Ordnung, die Reinlichkeit, die Gerechtigkeit gefährdende Triebe verzichten, er muß andere, mit Urgewalt das Leben vorwärtstreibende Triebe sublimieren. Wie er den Wasserfall zwingt, in tausend Gassen und Stuben elektrisch leuchtende Augen aufzuschlagen, so muß er seine Sexualität zwingen, in Arbeit und Politik, in Kunst und Wissenschaft sich schöpferisch zu wandeln. Die Einschränkung des Sexuallebens ist eine der wichtigsten Kulturforderungen. Die „vollsinnliche Liebe“, die sich naturhaft-tierisch im Sexualakt befriedigt, wird zurückgedrängt, die „zielgehemmte Liebe“, der Eros, der Ideale produziert und gesellschaftliche Leistungen vollbringt, gewinnt an Macht und Einfluß. „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist schwer geschädigt; es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung begriffenen Funktion, wie unser Gebiß und unser Kopfhaar als Organe zu sein scheinen.“ Eine der bedeutendsten Möglichkeiten der Lustgewinnung, vielleicht die bedeutendste, die Sexualität, wird also mehr und mehr der Kultur, der Sicherung des Menschen, zum Opfer gebracht; man könnte — und auch da findet man bei Freud Grundlegendes — von einer teilweisen „Kastration“ der Menschheit durch die Kultur  sprechen. Kein Wunder, daß ein wachsendes Unbehagen in der Kultur entsteht!

Aber wichtiger noch als die Einschränkung der Sexualität ist die Einschränkung

des „Aggressionstriebes“, wie Freud die asozialen und antisozialen Instinkte des Menschen nennt. Der Mensch ist der Feind des Menschen — die Kultur aber fordert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Diese „Idealforderung“ ist übertrieben und unerfüllbar; mit großer Skepsis lehnt Freud sie ab, nicht nur, weil der „Nächste“ keineswegs liebenswert ist, sondern auch, weil eine so allgemeine und allumfassende Liebe den Eros verdünnt und entwest. Aber der Forscher konstatiert: Wie mächtig, wie unüberwindlich muß der Aggressionstrieb sein, wenn die Kultur ihm solche extreme Gebote entgegenschleudert, wie leidenschaftlich das Verlangen, ihn zu befriedigen, wenn als Sicherung gegen ihn das Unmögliche gefordert wird! Der Mensch darf den „Nächsten“ nicht schlagen, nicht quälen, nicht töten— nein, er soll ihn lieben, er soll ihn wenigstens unangetastet lassen. „Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“ Die Entladung des Aggressionstriebes ist Lustgewinnung, der Mensch ist nicht gut — aber die Sicherheit gebietet, daß man ihm diese Lustgewinnung verwehrt.

Die Gewalt des Aggressionstriebes erkennend — und wahrlich: nur ein oberflächlicher Optimist kann leugnen, daß in jedem Menschen ein wildes Tier nach Entfesselung lechzt! —, ist Freud gezwungen, nicht nur einen Urtrieb, die Sexualität, den Eros, anzunehmen, sondern ihm einen zweiten entgegenzusetzen, den Zerstörungstrieb, den Destruktionstrieb, den Todestrieb. So verführerisch das klingt— Freud selber scheint bei der Einführung des Todestriebes in sein System ein leises Unbehagen zu fühlen. Er findet, wie er selber sagt, für den Nachweis des Todestriebes nicht das große wissenschaftliche Material wie für andere Elemente seiner Lehre, und er sieht sich außerdem genötigt, eine Theorie, die ihm besonders lieb war, die Libido-Theorie, wesentlich einzuschränken. Er hat lange Zeit hartnäckig behauptet, daß die Libido (das sexualbetonte Verlangen), das Urwesen jedes Triebes, das Urphänomen des Lebens sei. Nur langsam hat er, in unterirdischen Auseinandersetzungen, mit Alfred Adler und C. G. Jung, die Libido-Theorieabgeschwächt: Adler lehrt, die Libido, der Sexualtrieb, sei nur eine Form des // Geltungstriebes, des Willens zur Macht; Jung behauptet, die Sexualität sei die einzige Urkraft, aber ein Stück dieser Urkraft sei von der Kultur aufgesogen, umgewandelt, „desexualisiert“ worden und stehe nun der Sexualität als etwas Fremdes gegenüber. Nach tiefem Zögern hat Freud sich veranlaßt gesehen, der Sexualität einen anderen Trieb, den Todestrieb, entgegenzusetzen, und die Libido-Theorie folgendermaßen zu formulieren: „Ein jeder Trieb ist Libido belegt, aber nicht alles an ihm ist Libido.“ Eros und der Todestrieb sind die großen Gegenspieler.

Außenstehenden war die Libido-Theorie nie so wichtig wie den orthodoxen Psychoanalytikern; trotzdem scheint die neue Formel nicht unbedenklich. So sehr der düstere Dualismus Freuds, die Lehre, daß ewiger Zwiespalt, ewige Gegensätzlichkeit das Wesen des Lebens ist, unserem Dasein und seinen Problemen gerechter wird als jeder „Monismus“, jede Erklärung menschlichen Fühlens, Denkens und Tuns aus einer einfachen Wurzel — so regt sich doch die Frage, ob diese Gegensätzlichkeit, das Widerspiel „Eros — Todestrieb“ unser Leben beherrscht. Daß der Zerstörungstrieb, der Todestrieb nicht etwas Krankhaftes, „Unnatürliches“ ist, sondern ein urgewaltiges Element, könnte hundertfältig nachgewiesen werden: aber ist es methodisch richtig, diesen Destruktionstrieb vom Eros zu trennen, ihn dem Eros entgegenzusetzen? Ist er nicht vielmehr mit dem Eros identisch, ein Teil von seiner Kraft, enthalten im Wesen aller Lust? In vielen alten Mythologien ist der Gott der Lust auch der Gott der Zerstörung, sind Zeugung und Vernichtung nur zwei Funktionen einer dämonischen Macht. Und daß sie sich selber vernichten will, ist charakteristisch für jede Lust. Sollte die Dialektik des Lebens, der tragische Zwiespalt unseres Daseins, nicht in einer anderen Antithese, in einer anderen Gegensätzlichkeit zu suchen sein?

Ehe wir versuchen, diese Frage zu beantworten (mag sein, daß die Antwort falsch sein wird!), müssen wir uns mit der entscheidenden sozialpsychologischen Entdeckung Freuds beschäftigen.

Untrennbar verknüpft mit aller Kultur ist das Schuldgefühl, das schlechte Gewissen, das Gewissen überhaupt. Was aber bedeutet das?

Die Kirchengläubigen machen sich die Antwort leicht: „Das Gewissen ist die Stimme Gottes in den Menschen — und damit Schluß!“ Wir hingegen haben uns daran gewöhnt, zu sagen: „Das Gewissen ist die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum.“ Aber so richtig das ist, immer bleibt doch die Frage bestehen: Und wie gelingt es der menschlichen Gesellschaft, in jedem einzelnen zur Instanz des Gewissens zu werden? Wie verwandelt sich die Autorität in eine „innere Stimme“? Wie Angst vor der Strafe in Schuldgefühl? Durch welchen Mechanismus wird es bewirkt, daß objektive gesellschaftliche Notwendigkeiten (Sitte, Sittlichkeit, Moral) zu subjektiv empfundenen ethischen Verpflichtungen werden? Daß wir uns vor Strafe fürchten, ist durchaus plausibel— aber daß wir uns selber für Gedanken und Wünsche, deren Realisierung von der Gesellschaft bestraft würde, mit schlechtem Gewissen strafen, wie wollen wir das erklären?

Freuds Genialität hat eine Erklärung gefunden.

Der Meister der Psychoanalyse sagt: Das Gewissen ist nichts anderes als der Aggressionstrieb, der Zerstörungstrieb, dem es verwehrt wird, nach außen zu wirken, der sich daher nach innen entlädt. Dem „Ich“ wird ein sadistisches „Über-Ich“ zugesellt, das mit der Kultur, mit all den Hemmungen und Zurückdrängungen des Destruktionstriebes wächst. Denn der Destruktionstrieb ist unsterblich: läßt die Gesellschaft ihn nicht frei, so rächt er sich am Individuum.

Und wie entsteht dieses „Über-Ich“, dieser grausame Peiniger, dem sich das „Ich“ unterwirft?

Zuerst, so lehrt Freud, entsteht das „Ich“. Daß das „Ich“, das Persönlichkeitsbewußtsein, nicht mit uns geboren wird, daß es sich erst allmählich kristallisiert, wissen wir alle erfahrungsgemäß. Der Säugling ist aufgelöst in dem „ozeanischen“ Gefühl, von dem schon die Rede war; er fühlt sich eins mit dem Mutterleib, mit allem, was ihn umgibt. Langsam wird er gezwungen, // zu unterscheiden: war die Geburt die erste Trennung, das erste Zerreißen allumfassender Zusammenhänge, so ist die Verweigerung der Mutterbrust, die Entdeckung des eigenen Körpers eine weitere Trennung. Und nun wird ununterbrochen das Leben des Kindes eingeschränkt; die erste „Erziehung“, das Aufrichten mannigfaltiger Hemmungen beginnt. Andererseits aber reißt das Kind Stücke der Welt, aus der es sich löst, gierig in sich hinein; was wir „Nachahmung“ nennen, ist nichts anderes als der Prozeß der Aneignung, ja, der Identifizierung mit den Menschen rings um das Kind, in erster Linie also mit den Eltern. Das Kind stopft immer mehr Umwelt in sich hinein, erfüllt sich mit Wort und Bewegung, mit reichem Lebensmaterial; es unterscheidet die Dinge, die Menschen, es scheidet, unterscheidet sich selbst von der Umwelt— aber noch immer ist es kein „Ich“. Jeder weiß, daß das Kind längst schon eine „Persönlichkeit“ ist, aber noch immer von sich und den anderen Menschen in der dritten -Person spricht, daß es längst schon einen trotzig-betonten Eigenwillen hat, aber ohne das dazugehörige „Ich“. Nicht: „Ich mag nicht!“, sondern: „Der Poldi mag nicht!“ ist die Kundgebung dieses seines Willens.

Das „Ich“ entsteht nun (allerdings schon in frühem Stadium, lange vor der Bewußtwerdung) aus der Liebe des Kindes zu seinem eigenen Körper, zu seinem eigenen Selbst. Diese frühe Sexualität, diese „Autoerotik“, wird schöpferisch und erfindet, zur eigenen Lust, das eigene „Ich“, das Subjekt-Objekt der Liebe, bündelt alles der Umwelt entrissene Material zusammen, eignet es im „Ich“ sich selber zu, sich selber an.

Und das „Über-Ich“? Das Kind empfängt alles von den Eltern (oder von den stellvertretenden Erwachsenen), es „identifiziert“ sich mit ihnen, es liebt in ihnen sein eigen Ich. Aber auch alles Unangenehme kommt von den Eltern, alle Einschränkung der Freiheit, alle Hemmungen der Triebe, alle Unlust des Verzichtenmüssens; so haßt das Kind in den Eltern auch das ordnende, das strafende, das „kulturele“ Prinzip, die Gewalt der Autorität und die Macht des Gesetzes. Untrennbar verschlungen sind beide Elemente: Liebe und Haß, Eros und Aggressionstrieb. Das Kind will seinen Eltern gleichen, den großen, allwissenden und allmächtigen Göttern, es spielt „Vater und Mutter“, es identifiziert sich mit den Allesüberragenden. Gleichzeitig will sich das Kind an den Eltern rächen, will es das Verhältnis umkehren, will es sie schlagen und „erziehen“, wie es selber geschlagen und „erzogen“ ird — aber wie kann es das in seiner Schwäche und Ohnmacht? Es wendet, so sagt Freud, den Aggressionstrieb gegen sich selber, gegen Vater und Mutter, die es in sein eigenes Ich aufgenommen, mit denen es sich identifiziert hat. Der Mechanismus der „nach innen verschobenen Aggression“ produziert das Gewissen, das „Über-Ich“.

Entwicklungsgeschichtlich stellt sich das in einem wissenschaftlichen Mythos dar, für den exakte Beweise fehlen, der aber recht überzeugend klingt: Die Söhne der „Urhorde“ erschlagen“ den Urvater, den fürchterlichen Tyrannen. Da er tot ist, erlischt der befriedigte Haß und das Gefühl erwacht: Wir haben einen Menschen getötet, den wir liebten. So entsteht das Schuldbewußtsein, die Reue — vor dem Schuldgefühl und dem Gewissen. Dann aber wird das „Über-Ich“ aufgerichtet: die Angst, ermordet zu werden, wie der Vater ermordet wurde, produziert gesellschaftliche Sicherungen dagegen, der gehemmte Zerstörungstrieb wendet sich nach innen, gegen das „Ich“, das sich mit dem toten Vater identifiziert. Mit einem Mord hat die Kultur begonnen; sie setzt dem Vernichtungstrieb „Leistungen und Einrichtungen“ entgegen, aber der Dämon ist unüberwindlich. Er zerfleischt nicht mehr den Vater, den Bruder, den Mitmenschen (wenigstens ist das Nicht die Regel), er zerfleischt, nach innen wütend, den Vater, den Bruder, den Mitmenschen in der Seele des Individuums. „Das Gewissen entsteht durch Unterdrückung einer Aggression und verstärkt sich durch jede neue Unterdrückung.“ So wächst mit der Kultur das Gewissen, das Schuldgefühl, das „Über-Ich“ — und mit ihm das Unbehagen in der Kultur.

Damit werden auch zwei scheinbare Widersprüche erklärt: daß das Gewissen desto feiner, desto unerbittlicher funktioniert, je weniger der Mensch „sündigt“, und daß Unglück das Schuldgefühl steigert. Der Mensch, dessen Aggressionstrieb weniger gehemmt ist, entlädt ihn weniger nach innen als der Mensch, der nichts „Böses“ tut und daher alles in seinem „Über-Ich“ aufspeichert. Oder: das Kind, das weniger geschlagen wird, findet weniger äußere Anlässe, gegen die Eltern loszugehen als das verprügelte, verwahrloste Kind — daher wächst sein Gewissen, sein Schuldgefühl. Das Unglück jedoch wird instinktiv als Strafe gewertet: wer aber straft, an wem soll der Mensch sich rächen? Er findet im eigenen Ich den strafenden Vater und züchtigt ihn mit Schuldgefühl und schlechtem Gewissen.

Ist dieser Mechanismus zu kompliziert? Nun: alles, was die Menschen als „selbstverständlich“ abtun, ist in Wahrheit verteufelt kompliziert. Trotzdem glaube ich, daß manches anders, wenn man will, „einfacher“, zu deuten wäre als Freud es deutet. Er hat uns den Weg gezeigt und die Mittel gegeben — versuchen wir, mit seinen Elementen unsere Auffassung, das Gewissen sei die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum, zu stützen.

Wir haben geschildert, wie das „Ich“ entsteht: aus einer Fülle von Elementen, die das Kind sich aneignet, die es, alle Erwachsenen „nachahmend“, in sich aufnehmend, in sich aufstapelnd, zu einem Bündel zusammenfaßt, der Umwelt entreißt und im Ichbewußtsein ordnet; dazu kommen alle die Einschränkungen, alle die Hemmungen und Zwänge, die das uferlose Lebensgefühl dämmen und in Maß und Regel zurückdrängen. Wesentlich daran ist, daß sich das „Ich“ aus lauter gesellschaftlichen Elementen zusammensetzt; denn alles, was die Eltern, die ersten Erzieher, sagen und tun, ihr Gang und ihre Sprache, ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten, sind ja allgemeinstes Gesellschaftsgut. Nicht sie haben die Worte erfunden, die das Kind von ihnen lernt, die Gesellschaft hat sie produziert, sie sind das eigentliche Medium des Sozialen, der menschlichen Beziehungen, nicht sie haben ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten erdacht, sie teilen sie mit Millionen, sie sind, als Erzieher und als Vorbilder, einfach die Repräsentanten des Menschengeschlechtes, der menschlichen Gesellschaft, Menschheitsgöttern gleich über das Kind geneigt. Das ganze Material des „Ich“, alle Erfahrungen, alle Erkenntnisse, alle Einschränkungen, sind also nur ein Stück Gesellschaft; trotzdem ist das „Ich“, in sich selber verliebt, Isolierung von der Gesellschaft, Loslösung, Losreißung von der ganzen Umwelt, lustvolle Verkrampfung in das eigene Wesen. Daher ist der Zwiespalt von allem Anfang an da: aus gesellschaftlichen Elementen bestehend, ist das „Ich“ gleichzeitig das, was sich in schroffsten Gegensatz zu allem „Nicht-Ich“ stellt — und diese dialektische Spannung, diese Vereinigung tiefster Widersprüche ist sein wahres Wesen. So entsteht gleichzeitig mit dem „Ich“ das „Über-Ich“, die Gesellschaft im Individuum, die Summe aller Erfahrungen, Erkenntnisse, Einschränkungen, denen das „Ich“ seine Existenz verdankt.

Das Ich hat nur eine Tendenz, kennt nur einen Trieb— den leidenschaftlichen Willen, sich immer radikaler zu isolieren, sich selber in höchster Freiheit und Macht, in höchster Erotik und Schöpferkraft zu genießen, sich immer mehr Umwelt anzueignen, in Liebe und in Zerstörung, in Selbstvergottung und Weltvernichtung. Die Gesellschaft hat nur eine Tendenz: sich gegen Gefahr und Zerstörung, gegen den hemmungslosen Lust- und Vernichtungstrieb zu schützen, zu konservieren, zu erhalten, zu mäßigen. Zwei Urtriebe prallen gegeneinander, in der Geschichte und in der Seele jedes Menschen: der Erhaltungstrieb (Arterhaltungstrieb, Selbsterhaltungstrieb, „Wille zum Leben“) und der Steigerungstrieb (Lusttrieb, „Wille zur Macht“, die Terminologie ist nicht so wichtig). Der dionysische Lust- und Todestrieb, der das „Ich“ erzeugt hat, und der apollinische Erhaltungstrieb, der die Gesellschaft produziert und das Leben zu sichern bemüht ist, sind aber so ineinandergekettet, ineinandergewoben, daß einer ohne den anderen nicht bestehen kann, obwohl einer der Todfeind des anderen ist. Sie sind das „Ich“ und das „Über-Ich“, verknotet in einer Seele, diese Seele ununterbrochen // gestaltend, sie sind die Persönlichkeit und die Gesellschaft, der Eros und die Vernunft. Ja, ihre Verschlingung ist so intensiv, daß einer sich oft die Maske des anderen leiht, daß einer sich oft des anderen bedient, um seine Pläne durchzusetzen: Der Erhaltungstrieb bedient sich bei der Fortpflanzung des Lusttriebs, der Lusttrieb bedient sich des Erhaltungstriebes, wenn er den Menschen vorgaukelt, irgendein Abenteuer, ein Nordpolflug oder die Jagd nach einer Frau seien eigentlich sehr nützlich und vielleicht sogar ein Dienst an der Menschheit. Darin, in diesem tragischen Dualismus, in diesen ewigen Versuchen des Ich, alle Hemmungen zu zerstören und allen Schranken zu entfliehen (was ihm im Tode, sich selbst vernichtend, gelingt), und in den ewigen Versuchen der Gesellschaft, jede Regung des Ich zu unterdrücken, mag das innerste Wesen des Lebens, mag alles Dasein begründet sein.

Aber Freud selbst deutet auf den letzten Seiten des Buches diese Dialektik an, wenn er sagt: „In der individuellen Entwicklung fällt, wie gesagt, der Hauptakzent meist auf die egoistische oder Glücksstrebung, die andere, „kulturell“ zu nennende, begnügt sich in der Regel mit der Rolle einer Einschränkung. Anders beim Kulturprozeß; hier ist das Ziel die Herstellung einer Einheit aus den menschlichen Individuen bei weitem die Hauptsache, das Ziel der Beglückung besteht zwar noch, aber es wird in den Hintergrund gedrängt; fast scheint es, die Schöpfung einer großen menschlichen Gemeinschaft würde am besten gelingen, wenn man sich um das Glück der einzelnen nicht zu kümmern brauchte.“ Mit bewunderungswürdiger Präzision wird da die Zwiespältigkeit des Gesellschaftsprozesses formuliert; aber wie fügt sich das in das System, das Freud vorher entwickelt hat? Die Lösung ist kühn und genial: Die gesellschaftliche Tendenz der innigen Aneinanderkettung immer größerer Menschengruppen ist Libido-bedingt, der durch die Kultur in der Einzelpersönlichkeit unterdrückte Sexualtrieb findet einen sozialen Ausweg, er bindet den Menschen an den „Nächsten“ und an den Fernsten, er produziert im Laufe der Kulturgeschichte die „Menschheit“. Also nicht die Not, der Hunger, der Selbsterhaltungstrieb, sondern der Sexualtrieb ist das Wesentliche; er wird vergesellschaftet und wirkt vergesellschaftend.

Wie aber, wenn man auch darin das Widerspiel des Erhaltungstriebes und des Lusttriebes erblickt? Es scheint ja doch, als sei in erster Linie der Erhaltungstrieb gesellschaftsbildend, als wachse aus der Not die gesellschaftliche Notwendigkeit; die Tendenz der Gesellschaft ist Einschränkung des „Egoismus“, der Persönlichkeit, des Lusttriebes. Gleichzeitig aber sieht der Einzelmensch den Sinn der Gesellschaft in der Entfaltung seiner Persönlichkeit, weniger in der Sicherung aller als in der Bürgschaft für eigene Lust. So verschränken sich hier wie überall Erhaltungstrieb und Lusttrieb. Man untersuche nur irgendein soziales Gebilde, etwa eine Partei; man wird erkennen, daß jede Partei wesentlich eine Interessengemeinschaft, nicht eine Lustgemeinschaft ist; aber sie kann nicht ohne den Lusttrieb, ohne den Lebenssteigerungstrieb bestehen, sie muß Fahnen und Feste, Lieder und Symbole produzieren, Ideale und andere Elemente der Lust, sie muß ihre Mitglieder auch gefühlsmäßig aneinanderbinden, sie muß schließlich das Glücksstreben  des einzelnen berücksichtigen, um die Zwecke der Gesamtheit erfüllen zu können. Daraus können, ja müssen immer wieder Konflikte zwischen dem Lustwillen der Persönlichkeit und der Notwendigkeit der Gemeinschaft entstehen.

Ein anderes Beispiel: Der Einzelmensch will den sexuellen Lusttrieb hemmungslos befriedigen, die Gesellschaft muß ihn einschränken, zu Kulturleistungen sublimieren. Der Erhaltungstrieb bemächtigt sich in der Sexualität des Lusttriebes; die Arterhaltung interessiert das Individuum weniger als die Lustbefriedigung, in der Sexualität aber werden beide zusammengefaßt. Der Erhaltungstrieb jedoch, der gesellschaftliche Sicherungen baut, drängt auch die Sexualität immer weiter zurück, die Kultur zerstört die Sexualität. So entsteht folgende Situation: Immer mehr Sexualität wird an den kulturellen Erhaltungstrieb abgegeben; die Sexualität wird „schwer geschädigt“, weniger Kinder werden gezeugt; andererseits versucht der Lusttrieb, je vollkommener die Kultur wird, desto entschiedener sich aus den Fesseln des Erhaltungs- // triebes, der blinden Sexualität, zu befreien und eine Erotik zu produzieren, die Glück ohne Folgen, unfruchtbarer Genuß ist. Dieses Widerspiel gefährdet aufs höchste den Bestand der Kulturvölker. Das heißt: Mit der Vergesellschaftung wächst der Individualismus, mit den Sicherungen, die der Erhaltungstrieb aufbaut, das Freiheitsverlangen, der Glücksanspruch des Individuums — und die Vollkommenheit der Kultur wäre gleichzeitig ihre Selbstaufhebung, da jeder Kulturmensch sich ihrer nur bedient, um sein Ich auszugenießen.

So finden wir überall diese Dialektik, diesen Widerspruch zweier entgegengesetzter Triebe, der gedanklich nicht zu lösen und dessen ununterbrochene Lösung das Leben ist. Nicht Lusttrieb und Destruktionstrieb, sondern Lusttrieb und Erhaltungstrieb, nicht Eros und  der Todesdämon, sondern Eros und Ananke (die Not, die Notwendigkeit) wirken ewig gegeneinander, binden sich ewig zur Synthese unseres Daseins…

„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, die Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden »himmlischen Mächte«, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“

Mit diesen Worten voll reifer Weisheit endet das Buch. Uns obliegt es, die Methoden und Erkenntnisse des einzigartigen Mannes unserem Weltbild einzufügen und die Wege, die er durch den Urwald der Menschenseele gebahnt hat, weiterzugehen— bis zu einer marxistischen Sozialpsychologie, die heute noch nicht existiert.

In: Der Kampf, H. 6/7/1930, S. 282-287.