Alfred Polgar

Das Modul befasst sich mit einem der angesehensten und wohl auch einem der vielseitigsten Feuilletonisten und Kritiker der österreichischen Zwischenkriegszeit, der oft als Meister der kleinen Form bezeichnet worden ist. Darüber hinaus war Polgar ein distanziert-ironischer Chronist jener Phänomene, die in Summe das sogenannte Großstadt-Gefühl jener Jahre ergab, war am Theater präsent, hatte ein untrügliches Gespür für bahnbrechende Texte wie z.B. Molnárs Liliom und arbeitete mit den Größen seiner Zeit nebenher auch an eigenen Projekten, mit K. Tucholsky im Revue-Bereich, mit F. Kortner und A. Korda an Filmprojekten, um 1938 nach Paris und 1940 in die USA emigrieren zu müssen, aus der 1951 wohl wieder nach Europa zurückkehrte, allerdings ohne dort außerhalb von Hotelzimmern und Theatersälen sich wieder heimisch fühlen zu können.

Von Evelyne Polt-Heinzl | Juni 2016

Inhaltsverzeichnis

  1. Kulturpolitik und Rezeptionsschleifen
  2. Die Anfänge
  3. Der Theaterkritiker
  4. Der Zeitkritiker
  5. Autor für Kabarett und Theater
  6. Exil – Anderswo ist nie daheim
  7. Keine Rückkehr – keine Heimat

(1) Kulturpolitik und Rezeptionsgeschichte

1951 erhielt Polgar den damals zum ersten Mal vergebenen Preis der Stadt Wien; es blieb seine einzige Auszeichnung in der Zweiten Republik. Den österreichischen Staatspreis für Literatur bekamen andere: 1953 Rudolf Henz und 1954 Max Mell. Aus Sicht der Kulturpolitik der 1950er Jahre mangelte es den Vertriebenen  an Österreich-Verbundenheit.

„Ich bin überrascht, daß mir überhaupt ein Empfang zuteil wurde, noch dazu eine so freundlicher. […] Wahrscheinlich verdanke ich das – zum größten Teil wenigstens – meiner langen Abwesenheit. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich durch eine etwaige längere Anwesenheit nicht diese Beliebtheit wieder aufs Spiel setzen würde“, sagte Alfred Polgar in einem Interview anlässlich seines ersten Wien-Besuchs im Juli 19491. Das war zweifellos eine realistische Einschätzung, denn Polgar hatte ein feines Ohr für die Misstöne des inzwischen hastig reinstallierten Kulturbetriebs, in dem „viele gute alte Bekannte […] schlechte alte Bekannte geworden“ (ebd.) sind. Am 21. April 1948 beschloss das österreichische Parlament die Amnestie für Minderbelastete, am 18. Juli 1952 dann für belastete ehemalige Nationalsozialisten. „Nur ein paar besonders schwer zu Säubernde sind noch in der Fleckputzerei; bald werden auch sie für die neue deutsche Demokratie tragbar gemacht sein“, schrieb Polgar über Die Künstler bereits am 31. Oktober 1947 im Österreichischen Tagebuch. Reichlich unsensibel geriet auch Friedrich Torbergs Nachruf im Forum. Polgar war „gelassen wie ein Irrenarzt, wenn er’s mit den Wirrsäligkeiten des Daseins zu tun bekam“ (FT), heißt es da salopp. Wer „Wirrsäligkeiten des Daseins“ als Tarnbegriff für den NS-Faschismus setzt, hat Polgars klare Kommentare zum kulturellen Wiederaufbau nicht hören wollen.

Polgars Texte wurden nach 1945 in Auswahlausgaben ab 1947 wieder zugänglich gemacht; 1982 bis 1986 erschien im Rowohlt Verlag die sechsbändige Werkausgabe der Kleinen Schriften (KS), verantwortet von Marcel Reich-Ranicki und betreut von Ulrich Weinzierl. Doch schon vorher ist keine Anthologie zu Wien, zur Kunst der ‚kleinen Form’ oder zur ‚Kaffeehausliteratur’ ohne Polgar-Text ausgekommen. Kein anderer Feuilletonist oder Kritiker der 1920er Jahre – weder Alfred Kerr noch Herbert Ihering noch Felix Salten – ist heute annähernd so präsent wie Polgar.

Dieser Position, wenn nicht im Zentrum, so doch am Rande des Kanons, steht eine relativ geringe Aufmerksamkeit der Wissenschaft gegenüber. Einige (meist nicht veröffentlichte) Hochschularbeiten und vereinzelte Artikel – das war lange Zeit alles, was die Germanistik zu bieten hatte. Die gewichtige Ausnahme ist die 1977 erschienene, 1985 neu bearbeitete und 2005 wieder aufgelegte Biographie von Ulrich Weinzierl, auf die sich nach wie vor jeder Beitrag über Polgar beziehen muss. Das erste Symposium zu Polgar fand erst 50 Jahre nach seinem Tod 2005 in Wien statt. Das geringe Interesse der Forschung an Polgar hat wohl auch zu tun mit einer vorsichtigen Haltung der Germanistik gegenüber den kleinen Formen, die nicht in die Gattungstrias Epik-Lyrik-Dramatik passen, vielleicht auch mit den Schwierigkeiten bei der Analyse von Polgars Humor und Sprachwitz.

(2) Die Anfänge

Polgar kam am 17. Oktober 1873 in Wien-Leopoldstadt als Alfred Polak zur Welt; lange verlegte er das Geburtsjahr um zwei Jahre nach vorne. Noch bei den Feiern zu seinem 50. Geburtstag, der sein 48. war, wird er sich an der kleinen Mystifikation seiner unspektakulären Herkunft freuen, von der er sonst kaum etwas mitteilte. „Mein Vater war Musiker.“ Das ist einer von insgesamt sechs Sätzen, mit denen er 1937 für die literarische Monatsschrift Das Wort in einer Biographischen Notiz (KS 3,390) sein damals 64-jähriges Leben zusammenfasst. Ein ganzer Satz, ein Sechstel der Lebensbilanz für den Musiker-Vater, den gescheiterten „Claviermeister“ Josef Polak, der später wenig erfolgreich eine kleine Klavierschule betrieb. Der Vater, heißt es an anderer Stelle unter dem Titel Exzentriks, war „behaftet mit der übelsten Göttergabe: mit unproduktivem Genie, zu schwach für das Große, zu groß für das Kleine“ und musste „in solchem furchtbaren Zwischenreich“ vegetieren (KS 1,362).

Indirekt kommt Polgar noch einmal darauf zu sprechen. Der zweite Text in seiner 1926 zusammengestellten Sammlung Orchester von oben heißt Besuch beim Eremiten. „In meiner Jugend“, so der Eremit, „wollte ich Musiker werden. Bald erkannte ich, daß ich auf diesem Gebiet zum ewigen Dilettantismus verurteilt sei. Ich ließ die Musik.“ (KS 2,147) Die Musik kann man wohl „lassen“, das Gehör, vielleicht auch der Hörzwang, bleibt. Und so hört Alfred Polgar zeitlebens alles, was er sieht, und er hört auch, was für anderer Leute Ohren unhörbar bleibt.

Als Polgar im Prager Tagblatt vom 30. April 1922 von einem Besuch am Ort seiner Kindheit berichtet, meldet sich sofort die Erinnerung an irgendetwas „Widriges, Unkompensiertes, Offenes“ zu Wort. Dieses Etwas, das den fast 50-Jährigen noch immer bedrängt, ist das traumatische Konkurrenzverhältnis zum älteren Bruder Carl Leopold und die Erinnerung an eine Schulabschlussfeier, bei der die beiden Brüder vierhändig die Don-Juan-Ouvertüre vortragen sollten. „Warum mußte ich damals so kläglich patzen, warum? […] Armer Vater! Wenn wir, er im Nebenzimmer, übten, hörte er die falschen Fingersätze und rief die Korrekturen hinein.“ (KS 3,361).

Auch Polgars schulische Karriere verlief nicht besonders erfolgreich: den Besuch des Gymnasiums musste er wegen mangelnder Leistungen abbrechen, 1889 wechselte er in die Handelsschule, wo der spätere dubiose Wirtschaftsmagnat Richard Kola sein Banknachbar war, mit dem gemeinsam er auch das Café Griensteidl zu frequentieren begann. Um Geld zu verdienen, trat er 1895 in die Redaktion der Wiener Allgemeinen Zeitung ein – unter dem Chefredakteur Julius Gans von Ludassy, der 1890 dabei war, als  Arthur Schnitzler von den ersten „Ansätze[n] zu einem lit. Verein Jung Wien“ spricht (AS 1987, 286). Vielleicht konsultierte Polgar deshalb den jungen Schnitzler in seiner Funktion als Arzt, der bei Polgar Bluthusten diagnostizierte. Ulrich Weinzierl sah darin eine der Wurzeln für die ein Leben lang währende eigenwillige Frontstellung der beiden (UW 21f.), die freilich auch mit Schnitzlers Kaffeehaus-Blick auf Polgar als Jugendfreund Stefan Großmanns und Teil von Peter Altenbergs Jüngern zu tun hatte.

Polgars Beziehung zu Altenberg als einer väterlichen Figur war dabei keineswegs ungetrübt. Zum bedingungslosen Verehrer wurde er erst nach Altenbergs Tod 1919, doch noch in diesen Würdigungstexten scheint ein eigenwilliger Unterton mitzuschwingen. Altenberg war „eine große reiche Natur, die Gott, Frauen, Kindern nahe war“, ein „ekstatischer Verkünder des schönen Menschenkörpers, fraulicher Grazie und Holdheit“, er „liebte die letzten Aufrichtigkeiten“ und war „das stärkste erotische Temperament“, dessen ganze „große romantische Leidenschaft“ den „verzauberten Prinzessinnen, den schlafenden Dornröschen“ (KS 4,11–13) galt. So ins Unscharfe formulierte der Stilist Polgar selten.

Sein erster gezeichneter Text, die Elendsstudie Hunger, erschien in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 2. August 1895. 1902 wurde er Burgtheaterreferent der Wiener Sonn- und Montagszeitung. Privat fällt in diese Phase seine unglückliche Beziehung zu Emma Rudolf mit wechselnden Dreier-Arrangements. Auch ein publizistisch ausgetragener Konflikt mit Altenberg scheint unmittelbar hier zu wurzeln (UW 43). Zumindest in seiner Anfangszeit kann Polgar als idealtypische Kaffeehausexistenz gelten: Ein leidenschaftlicher Tarock- und Schachspieler, und als „Mensch ohne Schwerpunkt“, laut seiner Theorie des Café Central idealtypischer Bewohner der Kaffeehaus-Welt. Vieles in seinen ersten drei Prosabänden – Der Quell der Übels (1908), Bewegung ist alles (1909) und Hiob (1912) –, von denen er sich später distanzierte, ist in einer Art Endlosschleife dieser Atmosphäre verhaftet.

(3) Der Theaterkritiker

Doch Polgars Sprache schärfte sich zunehmend und auch sein Blick für gesellschaftliche Problemzonen. Seine Glossen, Feuilletons und Kritiken verdichten sich nach und nach zu einer „Chronik der laufenden Ereignisse“. Das blieb nicht unbeachtet. Im Jänner 1905 engagierte ihn Siegfried Jacobsohn als Mitarbeiter für die geplante Zeitschrift Die Schaubühne/Die Weltbühne. Diese Funktion behielt Polgar auch nach Jacobsohns Tod 1926 unter der Ägide von dessen Nachfolger Kurt Tucholsky unangefochten bei. Bereits 1911 ernannte die Karlsbader Zeitung Polgar zum „besten Kritiker von Wien“ – es war Walter Serner, der das in der väterlichen Zeitung verkündete (UW 32). Legendär wurde Polgars Kampf gegen den Burgtheaterdirektor Alfred Freiherr von Berger, der sein Amt 1910 antrat und im August 1912 mit dessen Tod ein tragisches Ende fand. „Es blieb in Polgars Karriere als Theaterkritiker der einzige Fall einer konsequent und persönlich geführten Polemik“ (UW 68).

Charakteristisch aber ist die Art, wie er das Theater als Narrativ betrachtet. Zum Beginn ist der Titel des Textes, der Polgars 1926 im Rowohlt Verlag erschienenen zweiten Band seiner gesammelten Kritiken Stücke und Spiele eröffnet:

Jetzt bin ich […] Theaterkritiker. Ich sitze, so oft es was Neues gibt, vor dem herabhängenden Vorhang und warte auf den Augenblick, da der Zuschauerraum vom Dunkel überfallen wird, das Geschwätz der Menschen jählings verstummt, als ob eine Riesenfliege endlich den Ausweg durchs Fenster gefunden hätte, da der Gong tönt und es aufrauscht wie ein Schwarm von tausend Plüsch-Vögelchen. Das ist der herrlichste, der eigentliche Herzklopf-Augenblick des ganzen Theaterabends. (KS 6,4)

Diese Beschreibung zeigt auch Polgars Neigung zu synästhetischer Weltwahrnehmung. Er sieht im Gehörten das Unsichtbare und hört auch unhörbare Begleitgeräusche des Gesehenen; die Blickrichtung bleibt immer beweglich zwischen innen und außen, hüben und drüben, Hören und Sehen. Aus dem Verstummen der Menge sieht er das Stimmengewirr als Riesenfliege entweichen, im bewegten Theatervorhang kommt das Insekt in Plüsch-Vögelchen verwandelt zurück.

Und mit knappsten Sprachbildern bekommt Polgar unverbrüchlich Schwachstellen wie Typika eines Autors, eines Werks, einer Theatermode zu fassen. Einer der ersten, der das erkannte, war Arthur Schnitzler. 1905 notierte er im Tagebuch nach Polgars Kritik der Uraufführung von Zwischenspiel: „Hass gegen Polgar. Eigentlich der erste von meinen Feinden, der Talent hat.“ (AS 1991, 165) Positiver urteilte Polgar 1909 über Der Ruf des Lebens, doch Schnitzler irrte, als er das als prinzipielle Haltungsänderung interpretierte. Er wird sich später mit einem Porträt Polgars als Gleissner in seinem Fragment gebliebenen Stück Das Wort rächen. Schnitzler wusste, weshalb er die spitze Feder des „klügsten“ seiner Kritiker hasste: In Der einsame Weg sieht Polgar Schnitzlers Figuren „längs des einsamen Wegs leidwandeln […]. Und wie ein guter Vater sorgt der Dichter für sie […]. Wenn sie ein Bedürfnis haben […], führt er sie alsogleich innerln.“ (KS 5,82f.) Auch wenn solche Kritik Schnitzler im Innersten traf, hielt selbst er an einer abstrakten Wertschätzung fest. „Polgar über E. W.; immerhin zu erwähnen da er doch der interessanteste und bei aller Lausbüberei und Feindseligkeit (zum Theil aus unglücklicher Liebe) gegen mich anständigste Kritiker bleibt.“ (AS 1983, 99)

Unnachahmlich ist Polgars Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge in scheinbar nur leicht verschobene Sprachbilder zu verpacken. Das Ergebnis einer umfangreichen Analyse kann bei ihm zu einer winzigen Formulierung gerinnen: Max Reinhardts „Regiebuch […] darf man sich im Stil eines Feldzugsplans abgefaßt denken“ (KS 5,73), sagt alles über die Megalomanie eines Theaterkonzepts. Auch politische Kommentare verpackte Polgar oft so leise, dass ihre Schärfe mitunter übersehen wurde. „Wenn ein Mund und ein Ohr zusammenstoßen und es klingt wie Jargon, muß nicht immer der Mund daran schuld sein“ (KS 6,122), schreibt er, Lichtenbergs Aphorismus paraphrasierend, über die antisemitischen Untertöne in den Kritiken zu Ödipus in der Bearbeitung von Hofmannsthal und Reinhardt. Und auch für Polgar selbst gilt, was er in seinem Nachruf auf seinen Kollegen, den Musikkritiker Gustav Schönaich in der Wiener Allgemeinen

Zeitung vom 11. April 1906 schrieb: „[E]r verlor nicht einen Augenblick das Bewußtsein, daß unter den Quellen seines Urteils zahllose Fehlerquellen mitrannen“2.

1914 hatte Polgar eine Mansarde im sechsten Stock des Bräunerhofs in der Stallburgasse 2 im ersten Wiener Gemeindebezirk bezogen. In der Skizze Lob der Mansarde outet er sich als bekennender „Hochwohner“ – und es ist, als hätte sich damit Polgars Blick eine neue Weite erobert. Von oben – so der Titel seines Berichts über die beiden amerikanischen Weltflieger Griffin und Mattern in Berlin (KS 1,429f.) – erscheint alles in einer anderen Perspektive, selbst die verspätete Ankunft des Zeppelin über Wien (KS 1,402-405). Welthistorische Ereignisse werden redimensioniert auf das Maß des einzelnen Menschen und damit oft erst in ihrer ganzen Monstrosität und Größe sichtbar. Von oben relativieren sich die Dinge, der Fortschritt ebenso wie das Leid. „Von oben“ kann auch Ignoranz und Unmenschlichkeit indizieren, wie in der Erzählung Auf dem Balkon. Eine vornehme kleine Gesellschaft beobachtet einen Eisenbahnzusammenstoß, der sich aus der sicheren Entfernung als „Spielzeug-Affaire“ zeigt (KS 3,203). Die Erzählung ist erstmals in der Basler National-Zeitung vom 18. März 1936 erschienen. Die gepflegte Konversation in gediegener Atmosphäre streift auch die „Greueltaten, im Nachbarland an Schuldlosen verübt“ (KS 3,202), ohne dass sich die Stimmung nachhaltig trüben würde. Auf dem Balkon ist damit auch eine „Parabel der schuldig-schuldlosen Zeitgenossenschaft des faschistischen Terrors“ (UW 189).

(4) Der Zeitkritiker

Bei Kriegsausbruch 1914 landete Polger, 1896 als „mindertauglich“ befundet und zum Sanitäter ausgebildet, in der „Literarischen Gruppe“ des Kriegsarchivs, gemeinsam mit Rudolf Hans Bartsch, Franz Theodor Csokor, Albert Ehrenstein, Franz Karl Ginzkey, Hans Müller, Rainer Maria Rilke, Felix Salten und Stefan Zweig. Verglichen mit den meisten der Genannten zeugt bei Polgar „an diesem kompromittierenden Ort nur wenig Kompromittierendes aus seiner Feder wider ihn“ (UW 83f., vgl. EB 132–144). Hingegen hat Polgar, soweit die Zensur es zuließ, publizistisch Stellung bezogen.

Um seine Mitarbeiter nicht außer Verdienst zu setzen, hat das Volkstheater seinen Betrieb wieder aufgenommen. Ein löbliches Unternehmen, dessen ökonomischer Zweck die künstlerischen Mittel heiligt. Inter arma schweigen bekanntlich die Musen. Reden sie dennoch, dann schweigt die Kritik. […] Kommen friedlichere Tage, in denen das Theater wieder andere als wohltätige Zwecke verfolgt, wird die Kritik desgleichen tun. (zit. n. UW 80)

Das schrieb Polgar am 18. August 1914 in der Wiener Allgemeinen Zeitung in unmittelbarer Reaktion auf den Kriegsausbruch. Daran hat er sich dann nicht gehalten und oft unvergleichliche Worte gefunden für das Repertoire der Kriegstreiberei, etwa für den „edlen Stabsarzt in Leo Felds Kriegsschmonzette Freier Dienst, „der so tut, als ob er nicht bis fünfe mustern könnte“ (KS 5,115). Mitunter wurden seine Texte in Österreich von der Zensur verboten, konnten aber außerhalb Wiens, gewissermaßen im ,Ausland‘, erscheinen, wie die Skizze Hiob-Rekord im Prager Tagblatt vom 19. Mai 1918.

Die Heranziehung zum Felddienst drohte Polgar des öfteren, zuletzt verhinderte die Einberufung seine Bestellung zum Parlamentsberichterstatter der Wiener Allgemeinen Zeitung. 1918 engagierte er sich in der von Benno Karpeles herausgegebenen Zeitschrift Der Friede, deren erste Nummer im Jänner 1918 erschien. Polgar entwickelte einen immer schärferen Blick für die sozialen Folgekosten des Krieges. Vor allem aber verweigerte er sich schon nach Ende des Ersten Weltkrieg dem raschen Vergessen der Sündenfälle in der Katastrophe. 1919 erschien sein Prosaband Kleine Zeit, und als 1928/29 die beiden Bände Schwarz auf Weiß und Hinterland mit Alltagsskizzen aus den Kriegsjahren folgten, schrieb Walter Benjamin: „Der Krieg hat die überraschendsten Avancements gesehen und eines von ihnen war das dieses Epikuräers […] zum Wortführer aller Streitkräfte der passiven Resistenz.“ (zit. n. UW 94)

Nur wenige hörten wie Polgar von Anfang an aus Filippo Tommaso Marinettis „Symphonie der Kanonenschüsse und der Soldatenlieder“ die „richtige“ Musik des Krieges heraus, „wenn über dem basso ostinato der Geschoße Verwundete und Sterbende ihre Jammerkoloraturen trillern“ (KS 1,124). In der Glosse Gespenster, erschienen in der Zeitschrift Der Friede vom 5. Juli 1918, lässt Polgar alte Firmenschilder von der Vergangenheit vor dem radikalen Zivilisationsbruch durch den Krieg erzählen. Auf den Affichen eines ehemaligen „Reisebureaus“ sieht er Menschen,

die haben noch Blick und Schritt, Lächeln und Stimme von Anno dreizehn. […] Auf ihren Stirnen stehen, unsichtbar, Texte wie auf jenen Firmenschildern. Etwa: frische Butter, Eier, Milch, Schinken und Obst. […] Sie sagen ohne Beben in der Stimme: ‚Mein Sohn geht ins Gymnasium.’ Als wenn auf dem Wege dorthin der Sohn nicht einen Tritt empfangen könnte, der ihn, marsch eins, zwei, hast du nicht gesehen, ins Massengrab spediert. (KS 1,39)

Mit solchen Tonarten-Wechseln organisiert Polgar gerne die Übergänge zwischen den sinnlichen Sphären. Zunächst ‚sieht’ er das Bild der Menschen, dann tragen sie ‚Texte’ auf den Stirnen, die schon fast Rede sind, und schon können wir sie tatsächlich sprechen hören und sehen. Durch diesen unvermuteten Medien-Wechsel, der den Leser überrumpelt und über einen situativen Abgrund hinweg springen macht, entsteht eine Simultanität von Sehen und Hören, wie sie sonst nur Theater und Film zu bieten vermögen. (vgl. dazu: EPH 2007)

Mit demselben kritischen Blick begleitete Polgar auch die Jahre der wirtschaftlichen und sozialen Deregulierung in den 1920er Jahren. „Die Wirklichkeit hat ihre Mühe, diesem Erzähler nachzukommen. Seine Methode, Geschehnisse und Personen des Tages noch warm in den Roman zu übernehmen, ist so neu wie wirkungsvoll“, er kann „gar nicht genug des literarischen Garns spinnen, in das ihm das Leben läuft“, schrieb Polgar 1924 über die Zeitromane Hugo Bettauers (KS 1,361). Zur Analyse der Zeitläufte griff Polgar auch zu satirischen Mitteln. 1921 erschien die erste von insgesamt fünf Zeitungsparodien, in denen er gemeinsam mit Egon Friedell („Polfried“) verschiedene Zeitungen karikierte: 1921 ein Böses Buben Journal, 1922 die Böse Buben Presse, 1923 die Böse Buben Reichspost, 1924 Die böse Buben Stunde und 1925 erschien abschließend Die aufrichtige Zeitung der bösen Buben. Eine Formulierung wie jene über das von der „Erpreßfreiheit“ (zit. n. UW 121) lebende Boulevardblatt in Die böse Buben Stunde vom 17. Jänner 1924 sind in ihrer Knappheit kaum zu überbieten.

Polgar ist ein ebenso unsentimentaler wie unbeeindruckter Chronist jener Phänomene, die in ihrer Summe das neue Großstadt-Gefühl ergeben. Die neue Qualität der optischen Angriffe des Reklamezeitalters registriert er schon im Dezember 1918. Die Plakate wuchern „als bunte Flechte um den Fuß der Häuser. Von den Bedürfnissen der Republik scheint das Mitteilungsbedürfnis am heftigsten. Die Säulen des neuen Regimes sind Litfaßsäulen. […] Es gibt da Plakate, die sind wie angeklebte Trompetenstöße: kurz, signalhaft.“ (KS 1,57) Vielleicht am komplexesten brachte er das Konglomerat aus Unterhaltungsindustrie, Werbeformaten, Musik, Zeitstimmung und Epochengefühl in der Glosse Synkope auf den Punkt, zuerst publiziert in Das Tage-Buch vom 8. März 1924:

Es macht sich allenthalben lebhafte Bewegung zugunsten der unbetonten Taktteile merkbar. Die Akzente verschieben sich, schwanken, stürzen. Die kleinen Leute haben auch schon was mitzureden. Sie behaupten obstinat, dass sie da sind. Der Rhythmus, nach dem die Himmelskörper kreisen, ist nicht so unverbrüchlich fixiert, wie wir dachten. Die Einsteinsynkope hat ihn auf ziemlich irritierende Weise gelockert. […] Der Rhythmus des Kleides wird durch die Betonung der Nacktheit synkopiert. Frau Goldstein spielt mit Herrn Goldstein taktvoll die Ehepièce. Der Ton aber liegt auf dem Skilehrer mit den eisblauen Augen. Ehen ohne Synkopen gab es vielleicht zur Walzerzeit. (KS 2,173f.)

Im März 1919 verließ Polgar nach einem Viertel Jahrhundert die Wiener Allgemeine Zeitung, um den Literaturteil der kurzlebigen Tageszeitung Der Neue Tag zu leiten. Der Verlust einer regelmäßigen Einnahmequelle traf Polgar in den wirtschaftlich unsicheren Zeiten der Inflationsjahre hart. Helfend griff immer wieder sein Freund Rudolf K. Kommer ein; er vermittelte u. a. den Kontakt zur Nachrichtenagentur United Telegraph, was Polgar in den schwierigen Nachkriegsjahren einige Verdienstmöglichkeiten brachte. Polgar setzte seinem Freund Kommer in der Erzählung Kreisel. Studie über einen Zeitgenossen (KS 3,125–137) ein literarisches Denkmal. Vermittlungsversuche, als Korrespondent ins Ausland zu gehen, lehnte Polgar mit dem Verweis auf seine unheilbare Heimatverwurzelung stets ab. Sehr wohl aber pendelte er – verstärkt ab 1925 – zwischen Wien und Berlin. Eine enge Freundschaft verband ihn mit dem Schauspieler-Ehepaar Fritzi Massary und Max Pallenberg, dem er 1921 eine eigene Monographie widmete. 1920 begann seine Mitarbeit am TageBuch, herausgegeben von Stefan Großmann. 1922 erhielt er wieder eine feste Stelle als Theaterkritiker der liberalen Wiener Tageszeitung Der Tag, zugleich schrieb er für das Montagsblatt Der Morgen, ab 1925 verstärkt auch für das Berliner Tageblatt.

1926 erschienen die ersten beiden Bände An den Rand geschrieben und Orchester von oben bei Rowohlt, bis 1933 riss die Reihe seiner Publikationen hier nicht mehr ab, es waren die produktivsten Jahre in Polgars Leben. Die politische Entwicklung aber empfand er als zunehmend bedrohlich. Vor den Nationalratswahlen am 20. April 1927 unterzeichnete er den Aufruf der Sozialdemokratie „Eine Kundgebung des geistigen Wien. Ein Zeugnis für die große soziale und kulturelle Leistung der Wiener Gemeinde“ in der Arbeiter-Zeitung. 1933 folgte mit Ansichten sein letzter Sammelband, der in der Weimarer Republik bei Rowohlt noch erscheinen konnte.

Abb. 1: Arbeiter-Zeitung, 20.4.1927, S. 1
(5) Autor für Kabarett und Theater

1907 war das legendäre Cabaret Fledermaus eröffnet worden, wo im Jänner 1908 der Sketch Goethe von Polgar und Friedelll Premiere hatte und in der Folge eine Aufführungsserie von 300 Vorstellungen erlebte. Bis 1910 produzierten die beiden mehrere Sketches, die dann zum Teilnur unter Polgars Namen publiziert wurden, die Zusammenarbeit der beiden „Dioskuren“ war im Verlauf der Jahre nicht friktionsfrei. Neben Titeln wie Sherlock Holmes in der Parterrewohnung, Die zehn Gerechten oder Die Wohltäter entstanden zwei umfangreichere Stücke, die in Buchform erschienen: Soldatenleben im Frieden und die Operettenparodie Der Petroleumkönig oder Donauzauber, deren satirisches Potential dem durchaus Operetten-affinen Publikum des Cabaret Fledermaus nicht immer bewusst geworden scheint.

Polgar näherte sich dem Theater aber auch ernsthafter an. Der gemeinsam mit Armin Friedmann geschriebene Einakter Talmas Tod wurde im Dezember 1910 in Altona aufgeführt. Im selben Jahr läutete Polgars deutsche Fassung von Ferenc Molnárs 1909 in Budapest uraufgeführter Vorstadtkomödie Liliom im Berliner Lessingtheater den Welterfolg des Stückes ein, dessen Lokalkolorit Polgar radikal überschrieb: Wo immer es inszeniert wird, ist bis heute mit großer Wahrscheinlichkeit das Wiener Riesenrad in Bühnenbild-Sichtweite. Auch als Bearbeiter ist Polgar mitunter tätig, u a. richtet er für die Eröffnungspremiere der Volksbühne unter den Direktoren Stefan Großmann und Arthur Rundt am 12. Dezember 1912 Nestroys Kampl ein. 1923 bearbeitete er mit vielen Problemen für die Salzburger Festspiele Karl Vollmoellers Turandot. Eine 1926 gemeinsam mit Tucholsky geplante Revue Der Untergang des Abendlandes gelangte hingegen über ein paar Szenen, die 1927 in der Weltbühne abgedruckt wurden,  nicht hinaus.

Wie ein abschließender Kommentar zu den Jahren der Weltwirtschaftskrise liest sich schließlich Polgars Farce Die Defraudanten, eine Bearbeitung von Valentin Katajews gleichnamigem Roman. „Alle – stehlen sie! […] Bei der Post bekommen sie schon 14 Tage keine Gage, ausgenommen die Geldbriefträger, die bedienen sich selbst.“ (1931, 11f.) So jammert der Amtsdiener Klapka. Und auch der Oberbuchhalter Prokop und dessen Kassier Vitek schlittern eines Tages in die Defraudation. Sie holen von der Bank das Geld für die Löhnung, gehen in ein Lokal und beginnen zu trinken, ohne selbst noch wahrhaben zu wollen, was sie vorhaben. Amtsdiener Klapka weiß es sofort, geht ihnen nach, holt die beiden Lohnkuverts für sich und die Wartefrau. Die beiden Defraudanten fliehen in die Stadt, kehren aber bald derangiert und reumütig wieder zurück. Das Unglück aber bleibt aus: der Direktor hat mittlerweile selbst defraudiert und sich ins Ausland abgesetzt. Die kleine Summe, die die beiden unterschlagen haben, fällt dadurch nicht auf – ebenso wenig wie die Unterschlagung des Amtsdieners, der den Lohn der Putzfrau eingesteckt hat. In der Tat des Direktors „verschwindet die unsere! […] Die Zwölftausend […] [v]erlieren sich in den Hunderttausenden – […] Wie Klapkas zweihundert in unseren“, jubeln die beiden Defraudanten. „Der Akt geht zur Bearbeitung an das Gewissen. Punktum … Wir sind begnadigt. Von oben kam die Hilfe.“ (ebd., 114) Das ist eine ironische Volte auf die Erfahrung, dass Wirtschaftsverbrechen ab einer bestimmten Höhe der involvierten Beträge meist nicht mehr geahndet werden. In Polgars komödiantischer Kette der Defraudationen darf dieser Erfahrungswert in sein Gegenteil umschlagen.

Auf die Kritik der kommunistischen Roten Fahne, Polgar habe den proletarischen Kontext von Katajews Roman unterschlagen, meinte Polgar, dass der „Brauch des Defraudierens“ kein „Klassenprivileg sei, das Proletarier unbedingt für sich reklamieren müßten (zit. n. UW 161). Gemeinsam mit Fritz Kortner, der dann auch Regie führte, schrieb Polgar das Drehbuch für die von der Vorlage stark abweichende Verfilmung mit dem Titel Der brave Sünder mit Max Pallenberg in der Hauptrolle. Er arbeitete auch mit am Drehbuch für Alexander Kordas Film Zum goldenen Anker (1931) nach einem Stück von Marcel Pagnol sowie an der Verfilmung von Stefan Zweigs Novelle Brennendes Geheimnis 1933.

(6) Exil – Anderswo ist nie daheim

DAHEIM! Anderswo sind Straßen, Mauern, Luft nur Auffänger von Geräuschen, selbst aber stumm. In der Heimat reden sie ihr Eigenes. […] In der Heimat sind Fenster und Menschen durchsichtiger als anderswo. In der Heimat hat die Luft einen Geschmack, wie sie sonst nirgends hat – daß sie überhaupt nach etwas schmeckt, ist schon ein merkwürdiges Heimatsphänomen –, hat das Geräusch des Lebens einen ihm nur hier eigentümlichen Tonfall, redet die Stille ein besonderes Idiom, wie sie sonst an keinem Punkt der Welt es redet. (KS 3,16f.)

Das schrieb Alfred Polgar nicht im Exil, sondern bereits 1930 im Berliner Tageblatt vom 31. Jänner.

Polgar verlässt Berlin nach dem Reichtagsbrand, Wien bleibt bis 1938 offizieller Hauptwohnsitz von Polgar und seiner Frau Elise Loewy, die er 1929 geheiratet hatte. Doch de facto befand sich Polgar ab nun im Exil. Er pendelte zwischen Zürich, Paris und Wien, zunehmend auf ökonomische Unterstützung angewiesen, die u. a. der Schweizer Mäzen und Publizist Carl Seelig großzügig leistete und auch vermittelte. Von seinen Arbeiten für das Prager Tagblatt und Exilzeitschriften wie Leopold Schwarzschilds Neuem Tage-Buch konnte Polgar nicht leben. Er versuchte sich am langjährigen Projekt eines Homer-Romans, an diversen Filmprojekten, von denen die meisten scheiterten. Mit Friedrich Kohner arbeitete er an einer Verfilmung von Knut Hamsuns Roman Victoria. Dieser Film wurde 1935 tatsächlich fertiggestellt mit Luise Ulrich in der Hauptrolle, die beiden Drehbuchautoren blieben ungenannt. Seelig verschaffte Polgar 1935 eine regelmäßige Mitarbeit in der Berner Wochenschrift Die Nation, auch einige Bücher wie Sekundenzeiger (1937) und Handbuch des Kritikers (1938) konnten durch Vermittlung Seeligs in Schweizer Verlagen erscheinen. Noch 1943 betreut Seelig für den Zürcher Oprecht Verlag den Auswahlband Geschichten ohne Moral, dessen erstes Manuskript Polgar bereits 1939 gesandt hatte. Im Sommer 1937 traf Polgar im Salzkammergut mit Marlene Dietrich zusammen, die ihn schon früher großzügig unterstützt hatte, und es entstand der Plan einer Biographie, die Ulrich Weinzierl 2015 posthum veröffentlicht hat.

Nach dem ,Anschluss‘ Österreichs an das Deutsche Reich erhielt Polgar keine Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz, sein Schaffen, so der Schweizer Schriftsteller Verband in einem Gutachten, sei „nicht von derartiger Bedeutung [….], daß er eine wirkliche Bereicherung des geistigen Lebens unseres Landes darstellte“ (zit. n. UW 198). Das Ehepaar reiste weiter nach Paris, wo Polgar im Strom der Emigranten mühsam versuchte, Verdienstmöglichkeiten zu finden, zu denen auch Inserate für eine Schweizer Zigarettenfabrik gehörten. Mitte Juni 1940 musste das Ehepaar Paris verlassen und saß mit zahllosen Flüchtlingen in Montauban fest. Durch einen Vertrag als Drehbuchautor bei Metro-Goldwyn-Mayer erhielt Polgar ein Visum für die USA. Nach dem illegalen Grenzübertritt zu Fuß über die Pyrenäen konnte sich das Ehepaar am 4. Oktober 1940 auf der „Nea Hellas“ nach New York einschiffen und traf am 13. Oktober in New York ein. Bereits eine Woche später reiste Polgar weiter nach Hollywood, um seine wenig erquickliche Arbeit im Studio – gemeinsam mit Alfred Döblin und Walter Mehring – anzutreten. Nach einem Herzinfarkt und dem Scheitern aller Versuche, in der Filmindustrie Fuß zu fassen, übersiedelte Polgar 1943 nach New York. Er war in verschiedene Zeitschriften-Projekte der Exilszene eingebunden, u.a. in der Austro American Tribune, und begann amerikanische Theaterstücke zu übersetzen. Eigene Texte zu publizieren gelang ihm kaum; im Männermagazin Esquire erschienen 1942 zwei Geschichten, in Harald Ross‘ intellektuellere Zeitschrift The New Yorker schaffte er es nicht. Sein Briefwechsel mit seinem Freund Rudolf Kommer aus den Exiljahren (vgl. dazu: IPF) gibt einen Einblick in die zunehmend verzweifelte und resignierte Verfassung Polgars.

(7) Keine Rückkehr – keine Heimat
Abb. 4: Austro American Tribune, Nr. 8, March 1946, S. 7

Im Mai 1949 reiste Polgar zum ersten Mal nach Europa und traf nach Aufenthalten in Paris und Zürich am 30. Juni in Wien ein, verbrachte die Sommerfrische in Salzburg, reiste im Oktober nach Deutschland weiter und publizierte nach seiner Rückkehr im Aufbau sein ernüchterndes Notizbuch von einer Europa-Reise. Der zweiten Teil dieses Notizbuches wurde 2005 neu vorgestellt (EPH/SPS 225–228). Im Mai 1951 reiste er neuerlich nach Europa – auch nach Berlin zur Präsentation seines Bandes Begegnung im Zwielicht. Er verbrachte – wie in den folgenden Jahren häufig – längere Zeit in seiner Wahlheimat Zürich, wo er stets im Hotel Urban Quartier nahm; seine Mansarde in der Stallburggasse war arisiert worden, seine Schwester deportiert und ermordet. Bis zu seinem Tod am 24. April 1955 in seinem Hotelzimmer folgte ein ruheloses Reiseleben zwischen Österreich, Deutschland und der Schweiz. 1954 holte ihn das Theater in der Josefstadt in den literarischen Beirat des Hauses. Bis zuletzt besuchte Polgar an allen Orten, an denen er sich befand, die Premieren, um darüber zu berichten. Seine Texte erschienen in der Süddeutschen Zeitung, dem Wiener Kurier oder in Die Neue Zeitung, dem Organ der amerikanischen Besatzer in Deutschland.

Abb. 5: Begegnung im Zwielicht (1951), Cover | Dokumentationsstelle für österr. Literatur

Und Polgar blieb ein kritischer Beobachter der Restaurationsjahre in Österreich mit einem scharfen Blick für alle Schieflagen. An Rudolf Kalmars 1946 erschienenem KZ-Bericht Zeit ohne Gnade schätzte er vor allem, dass Kalmar Wiener Impressionen bei der Verschleppung 1938 und nach seiner Heimkehr 1945 überblendet. Das zeigte den plötzlichen Gedächtnisverlust der Bevölkerung, um „das schläfrige Gewissen der Mitwelt am Eindämmern zu verhindern. Sie ist schon mitten drin im Vergessen und Verzeihen“, so Polgar, „weil dies die bequemste Art ist, sich mit dem Geschehenen innerlich abzufinden“ (AP 1947). Als sein Verleger Ernst Rowohlt 1951 den autobiographischen Roman Der Fragebogen des einstigen Freikorpskämpfers Ernst von Salomon veröffentlichte, der 1922 am Mord an Walther Rathenau beteiligt war, protestierte Polgar zwar heftig, aber das Buch wurde dennoch ein Bestseller der 1950er Jahre.

In Franz Bleis Bestiarium seiner Zeitgenossen, ist DIE POLGAR eine „feine, stille, silbergraue Maus“, die unermüdlich „über die verstimmte Leier der Zeit läuft“ (FB 57) und dabei gnadenlos die Misstöne hörbar macht. Polgar hat „nicht nur die ganz großen Dinge klein gemacht, sondern auch die ganz kleinen groß. Oft und oft machte Polgar aus einer Mücke einen Elefanten, der sich dann auch wie ein solcher benahm: im Porzellanladen der Unkultur“ (OB). „Zum zehnten Todestag“, so Ulrich Weinzierl am Ende seiner Biographie, beschloss die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen „Alfred Polgar-Preis für die Kleine Form“ zu stiften, der „bis heute kein einziges Mal verliehen wurde“ (UW 242f.).


Literaturangaben

Zitierte Literatur

  • AP 1947 = Alfred Polgar: Zeit ohne Gnade. In: Österreichisches Tagebuch. Jg. 2, Nr. 11, 29.3.1947; auch in: Austro American Tribüne. New York, Nr. 8, März 1947, S. 3.
  • AP 1981 = Alfred Polgar: Lieber Freund! Lebenszeichen aus der Fremde. Hg., Einl.: Erich Thanner. Wien, Hamburg: Zsolnay 1981.
  • AS 1983 = Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. Hg.: Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik, Reinhard Urbach. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1983.
  • AS 1991 = Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. Hg.: Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik, Reinhard Urbach. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1991.
  • EB = Elisabeth Buxbaum: Des Kaisers Literaten. Kriegspropaganda zwischen 1914 und 1918. Wien: Edition Steinbauer 2014.
  • EPH 2007 = Evelyne Polt-Heinzl: Vom Sehen und vom Hören. (Sprach)Musik bei Alfred Polgar. In: EPH/SPS, S. 37–60.
  • EPH/SPS = Der Untertreiber schlechthin. Studien zu Alfred Polgar. Hg.: Evelyne Polt-Heinzl, Sigurd Paul Scheichl. Wien: Löcker 2007.
  • FB = Franz Blei: Das große Bestiarium der Literatur. Mit farbigen Karikaturen von Rudolf Großmann, Olaf Gulbransson und Th. Th. Heine. Frankfurt/M.: Insel 1982 (Insel Taschenbuch. 6609).
  • FT = Friedrich Torberg: In memoriam Alfred Polgar. In: Forum. Mai 1955, S. 184.
  • IPF = Alfred Polgars Briefe an Rudolf Kommer aus dem amerikanischen Exil. Hg. v. Ines Pirker-Fohringer. In: EPH/SPS, S. 231–275.
  • KS = Kleine Schriften. Hg.: Marcel Reich-Ranicki, Ulrich Weinzierl. 6 Bde. Reinbek: Rowohlt 1982–1986.
  • OB  = Otto Basil: Alfred Polgar gestorben. In: Neues Österreich. 26.4.1955.
  • UW = Ulrich Weinzierl: Alfred Polgar. Eine Biographie. Wien: Löcker 2005.

Primärwerke (chronologisch)

  • Der Quell der Übels und andere Geschichten. München: Albert Langen 1908 (Kleine Bibliothek Langen. 90).
  • Egon Friedell / Alfred Polgar: Goethe. Eine Szene. Wien: C. W. Stern 1908.
  • Egon Friedell / Alfred Polgar: Der Petroleumkönig oder Donauzauber. Musteroperette in vier Bildern. Wien: (Kabarett Fledermaus) 1908.– Bewegung ist alles. Novellen und Skizzen. Frankfurt/M.: Rütten und Loening 1909.
  • Egon Friedell / Alfred Polgar: Soldatenleben im Frieden. Ein zensurgerechtes Militärstück, in das jede Offizierstochter ihren Vater ohne Bedenken führen kann. Wien: Hugo Heller 1910.
  • Brahms Ibsen. Berlin: Erich Reiß Verlag 1910.
  • Hiob. Ein Novellenband. München: Albert Langen 1912.
  • Kleine Zeit. Berlin: Gurlitt 1919.
  • Max Pallenberg. Berlin: Erich Reiß Verlag 1921 (Der Schauspieler. Eine Monographiensammlung. 9).
  • Gestern und heute. Dresden: Rudolf Kaemmerer Verlag 1922.– An den Rand geschrieben. Berlin: Rowohlt 1926.
  • Orchester von oben. Berlin: Rowohlt 1926.
  • Ja und Nein. Schriften des Kritikers Bd 1–3: Kritisches Lesebuch. Stücke und Spieler. Noch allerlei Theater. Berlin: Rowohlt 1926.
  • Schriften des Kritikers Bd 4: Stichproben. Berlin: Rowohlt 1927.
  • Ich bin Zeuge. Berlin: Rowohlt 1927.
  • Schwarz auf Weiß. Berlin: Rowohlt 1928.
  • Hinterland. Berlin: Rowohlt 1929.
  • Auswahlband. Aus neun Bänden erzählender und kritischer Schriften. Berlin: Rowohlt 1930.
  • Bei dieser Gelegenheit. Berlin: Rowohlt 1930.
  • Der unsterbliche Kaspar. Kleine Kasparspiele. Leipzig u. a.: Strauch (1930).
  • Die Defraudanten. (Nach Motiven aus dem gleichnamigen Roman Valentin Katajews). Komödie in drei Akten. Berlin: Rowohlt 1931.
  • Ansichten. Berlin: Rowohlt 1933.
  • In der Zwischenzeit. Amsterdam: Allert de Lange 1935.
  • Sekundenzeiger. Zürich: Humanitas 1937.
  • Handbuch des Kritikers. Zürich: Oprecht 1938.
  • Geschichten ohne Moral. Zürich, New York: Oprecht 1943.
  • Im Vorübergehen. Aus zehn Bänden erzählender und kritischer Schriften. Ausw.: H. M. Ledig. Stuttgart, Hamburg: Rowohlt 1947.
  • Anderseits. Erzählungen und Erwägungen. Amsterdam: Querido 1948
  • Begegnung im Zwielicht. Berlin: Blanvalet 1951.
  • Standpunkte. Hamburg: Rowohlt 1953.
  • Im Lauf der Zeit. Reinbek: Rowohlt 1954 (rororo Taschenbuch. 107).

Posthum (Auswahl):

  • Ja und Nein. Darstellungen von Darstellungen. Hg.: Wolfgang Drews. Hamburg: Rowohlt 1956.
  • Im Vorüberfahren. Hg.: Friedrich Luft. Frankfurt/M.: Büchergild Gutenberg (1960).
  • Bei Lichte betrachtet. Texte aus vier Jahrzehnten. Hg.: Bernt Richter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1970 (rororo Taschenbuch. 1326/1327).
  • Die Mission der Luftballons. Skizzen und Erwägungen. Hg.: Fritz Hofmann. Berlin: Volk und Welt 1975.
  • Die lila Wiese. Skizzen und Feuilletons. Hg.: Wilhelm Lüderitz. Ill.: Marianne Schäfer. Berlin: Eulenspiegel 1977.
  • Taschenspiegel. Hg., Nachw.: Ulrich Weinzierl. Wien: Löcker 1979.
  • Sperrsitz. Hg., Nachw.: Ulrich Weinzierl. Wien: Löcker 1980
  • Der unsterbliche Kasperl. Ein Spiel für das Hanswursttheater (1922). Wien, München: Sessler 1984 (Der Souffleurkasten).
  • Das große Lesebuch. Hg., Vorw.: Harry Rowohlt. Zürich: Kein und Aber 2003.
  • Lauter gute Kritiken. Mit einem Interview von Robert Musil. Hg.: Harry Rowohlt. Zürich: Kein und Aber 2006.
  • Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin. Hg., Nachw.: Ulrich Weinzierl. Wien: Deuticke im Zsolnay Verlag 2015.

Weitere Sekundärliteratur (Auswahl)

  • Christine Aquatias: Satire bei Alfred Polgar. Das Feuilleton zwischen Alter und Neuer Welt. In: Jeanne Benay, Alfred Pfabigan, Anne Saint Sauveur (Hg.): Österreichische Satire (1933–2000). Exil – Remigration – Assimilation. Bern: Lang 2003 (Convergences. 29), S. 169–182.
  • Hermann Dorowin: Metapher und Paradox in den Schriften Alfred Polgars. In: H. D.: Mit dem scharfen Gehör für den Fall. Aufsätze zur österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert. Wien: Edition Praesens 2002, S. 41–59.
  • Hermann Dorowin: „Ein […] Makkabäer im Lande der Philister.“ Alfred Polgars radikaler Zeitkommentar der Zwanzigerjahre. In: Primus-Heinz Kucher, Julia Bertschik (Hg.): „baustelle kultur“. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 397–411.
  • Eva Philippoff: Alfred Polgar dans l’émigration française. In: Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche. Jg. 10, 1984, Nr. 19, S. 99–117.
  • Sigurd Paul Scheichl: Alfred Polgar nach 1945 – kein Amerikaner in Wien. In: Jörg Thunecke (Hg.): Echo des Exils. Das Werk emigrierter österreichischer Schriftsteller nach 1945. Wuppertal: Arco 2006 (Arco Wissenschaft), S. 201–218.
  • Janet Stewart: Egon Friedell and Alfred Polgar: Cabaret in Vienna at the Turn of the Last Century. In: W. E. Yates, Allyson Fiddler, John Warren (Hg.): From Perinet to Jelinek. Viennese Theatre in its Political and Intellectual Context. Oxford u. a.: Lang 2001 (British and Irish Studies in German Language and Literature. 28), S. 155–165.
  • „,Würde‘ ist ein Konjunktiv“. Der Emigrant Alfred Polgar. Aus dem Briefwechsel von Paul Kohner. In: Filmexil 1994, Nr. 4, S. 6–26.
Abbildungsverzeichnis

Sämtliche Covers stammen aus der Dokumentationsstelle für österreichische Literatur bwz. der Exilbibliothek/Literaturhaus Wien

  • Abb. 1: Eine Kundgebung des geistigen Wien. Ein Zeugnis für die große soziale und kulturelle Leistung der Wiener Gemeinde. In: Arbeiter-Zeitung, 20.4.1927, S. 1.
  • Abb. 2: Alfred Polgar: Sekundenzeiger (1937), Cover
  • Abb. 3: Alfred Polgar: Geschichten ohne Moral (1943), Cover
  • Abb. 4: Austro American Tribune, Nr. 8, March 1946, S. 7.
  • Abb. 5: Alfred Polgar. Begegnung im Zwielicht (1951), Cover
  • Abb. 6: Alfred Polgar: Standpunkte (1953), Cover
  • Abb. 7: Alfred Polgar: Ja und Nein (1956), Cover

  1. (p. r.) Alfred Polgar: Ich bin überrascht … Blitzinterview in einem Wiener Hotel. In: Der Abend. 4.7.1949.
  2. a.p.: Gustav Schönaich. In: Wiener Allgemeine Zeitung, 11.4.1906, S. 2f.