Friedrich Adler: Brief an Leo Trotzky (1919)

Friedrich Adler: Brief an Leo Trotzky

Werter Genosse Trotzky!

            Während meiner Haft war ich der Gegenstand mannigfaltiger Kundgebungen. So wurden unter anderem Kasernen und Kinder, Regimenter und Straßen nach mir benannt. Natürlich alles ohne meine Zustimmung, die man ja wegen der Gefängnismauern und anderer Hindernisse nicht einholen konnte. Wenige Tage nachdem ich herauskam, hatte ich aber bereits Gelegenheit, eine weitere solche Ehrung unter Hinweis auf meine Abneigung gegen den Personenkultus zu verhindern, wie Ihnen vielleicht aus meiner Broschüre „Nach zwei Jahren“ bekannt ist.

            Nun melden die Zeitungen, daß mir auf Ihren Antrag eine Ehrung aberkannt wurde, von deren Existenz ich bisher allerdings nichts wußte. Ich erfahre gleichzeitig, daß ich bisher Ehrenmitglied des russischen Sowjetkongresses gewesen und es fernerhin nicht mehr sein soll. Ich weiß nicht, ob die Zeitungsnachricht wahr ist, oder zu jenen 25 Prozent der Meldungen über Rußland gehört, die frei erfunden sind.

            Aber wie immer es mit dieser nicht einmal platonischen Ehrenmitgliedschaft stehen mag, jedenfalls erscheint sie mir recht belanglos, ich hatte niemals Sinn für Titel und Orden. Ich würde auch an sich über die Sache kein Wort verlieren, aber da Sie in dieser schweren Zeit sogar Muße für solche Zeremonien zu haben scheinen, wage ich es, Sie für ein paar Augenblicke in Anspruch zu nehmen, um Sie gerade durch dieses Beispiel – daß nicht einmal mir diese Ehrenmitgliedschaft bekannt geworden war – daran zu erinnern, wie wenig wir voneinander wissen.

            Seit wir im August 1914 Abschied nahmen, als Sie mit dem letzten Zuge vor den Mobilisierungstagen Oesterreich verließen, hatten wir nicht Gelegenheit, uns zu sprechen oder auch nur zu schreiben. Und so wie zwischen einzelnen Genossen die Verbindung abriß, so war es zwischen den Staaten überhaupt, ob sie nun „feindlich“ oder neutral gewesen. Auch heute ist das noch lange nicht überwunden. Wir wenigstens haben das Gefühl, über Rußland nahezu gar nicht Zuverlässiges zu wissen, wir sind noch immer auf Berichte angewiesen, die in ihren Schrecknissen und Verklärungen lebhaft an die Schilderungen der Reisenden über das alte Wunderland Ophir gemahnen, und deren Wahrheitswert durch die politisch Leidenschaft pro oder kontra sicherlich nicht erhöht wird. Gerade in den letzten Tagen hatten wir wieder ein drastisches Beispiel dafür. Eine Gruppe von Georgiern, die vor wenigen Wochen Moskau verlassen haben, passierte Wien auf der Reise in ihre Heimat. Sie bestand aus Bolschewiken und Antibolschewiken. Was die einen weiß schilderten, malten die anderen mit gleichem Temperamente schwarz, und umgekehrt. Welche von beiden Schilderungen der Wahrheit näher kam, vermögen wir absolut nicht zu entscheiden. Wir sind daher nach wie vor in unserem Urteil über die sozialistische Bewegung in anderen Ländern äußerst zurückhaltend, und werden in dieser Vorsicht immer wieder bestärkt, wenn wir erfahren, wie wenig es den Genossen anderer Länder gelingt, die Besonderheiten unserer Lage zu erfassen.

            Neben aller Bewunderung für die Energie und Ausdauer, die Sie und Ihre Freunde auch in den verzweifelten Situationen in den zwei Jahren Ihrer Herrschaft immer wieder bewiesen haben, bestand bei mir stets die lebhafteste Beunruhigung darüber, daß Sie gerade diese Schranken, die der Einsicht in die Verhältnisse anderer Länder durch die Schützengraben gezogen wurden, nicht einzuschätzen vermögen. Am schlimmsten war diese Beunruhigung, als ich von meiner Zelle aus Ihnen zusehen mußte, wie Sie in Brest-Litowsk agierten. Was ich vom Anfang dieser Verhandlungen an befürchtet habe, trat in aller Schrecklichkeit ein. Sie rechneten mit der Reife der revolutionären Entwicklung in Oesterreich und Deutschland, als ob Sie davon etwas wissen könnten, während es doch nur Ihre Wünsche waren, die Sie in Ihre politischen Entschlüssen projizierten. Und ebenso wie Sie die Bedeutung des Jännerstreikes 1918, insbesondere was Deutschland betrifft, falsch eingeschätzt, haben Sie sich immer wieder über das Tempo der Entwicklung den ärgsten Täuschungen hingegeben. Ich maße mir nicht an, zu entscheiden, ob Sie auch bezüglich der Entwicklung in Rußland die Zeitdistanzen nicht abzuschätzen vermochten, was Deutschland und Oesterreich betrifft, sind Sie jedenfalls von einer Illusion in die andere verfallen.

            Sie glaubten Oesterreich zu kennen, weil Sie vor dem Kriege längere Zeit in Wien gelebt haben. Aber bereits Ihre glänzende wenige Wochen nach Kriegsausbruch geschriebene Broschüre enthielt Irrtümer über die Vorgänge in unserer Partei. Und je länger der Krieg andauerte, um so mehr wuchs die Isolation. Ich konnte das sehr anschaulich an dem Verhalten Ihrer Freunde in meinem speziellen Falle erkennen. Nach dem Attentat im Oktober 1916 zeigte sich Lenin vollständig verständnislos für die Situation, aus der es hervorging, und gehörte eigentlich zu dem großen Chor derjenigen, die es verurteilten. Nach meinem Prozeß wieder wollten Ihre Freunde mich durchaus für sich reklamieren, [G. J. ] Sinowjew nach geradezu zum Bolschewiken stempeln. Wie weit das für Ihre Freunde damals taktische Zweckmäßigkeit oder ehrlicher Irrtum war, vermag ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls dürfen sie heute nur ihre mangelnde Einsicht und nicht mich anklagen, wenn Sie nun erkennen, daß ich zwar ein revolutionärer Sozialdemokrat bin, aber durch aus nicht die bolschewistische Taktik als alleinseeligmachend anzuerkennen vermag. Daß sowohl das Attentat als der Prozeß richtiger eingeschätzt werden konnten, beweist Martow, der in beiden Fällen den klaren Blick bewies und im Wesentlichen richtig urteilte.

            Aber über diese zwar psychologisch interessanten, aber sachlich belanglosen Irrtümer hinaus glaubten Sie zur Zeit des Umsturzes im November 1918, in die Arbeiterbewegung in Oesterreich eingreifen zu wollen. Sie sandten Geld her. Dagegen ist an sich sicher nichts zu sagen. Auch wir sandten in Betätigung internationaler Solidarität unseren bescheidenen Mitteln entsprechend so oft wir konnten materielle Unterstützung an Bruderparteien ins Ausland. Aber in diesem Falle war es doch anders. Nicht eine Partei suchte Geld, sondern zum Geld wurde eine Partei gesucht. Leider konnten Sie neben dem Geld nicht auch etwas politischen Verstand mitsenden. Und so entstand jene Serie von politischen Fehlern, die man als Tätigkeit der kommunistischen Partei in Deutschösterreich bezeichnet. Mir war von Anfang an klar, daß es unvermeidbar sei, daß sich zu der ökonomischen Basis – nämlich dem russischen und später ungarischen Geld – eine Partei finde, der Absplitterungsprozeß in unserer Arbeiterbewegung infolge Ihres Eingreifens notwendig eintreten müsse. Aber ich habe diesen Prozeß mehrmals gefördert, weil ich ihn nach bestem Wissen und Gewissen für ein Unglück für die proletarische Aktion hielt. Die Leute der neuen Partei kamen damals am 3. November, einen Tag, nachdem ich das Gefängnis verlassen, zu mir mit dem naiven Ansinnen, ich möge ich Führung übernehmen. Ich habe sogleich abgelehnt und wenn ich jetzt alles rückschauend überlege, so kann ich heute wie in jedem Augenblick dieses ganzen Jahres aussprechen, daß es ein großes Unglück für die revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse gewesen wäre, wenn ich mich von Stimmungen hätte fortreißen lassen und nicht den Weg sozialistischer Pflicht gegangen wäre. Und daß ich diesen großen Fehler nicht gemacht, das ist es, was Sie und Ihre Freunde, die die Dinge hier nicht trennen und durch politische Kinder „informiert“ werden, mir nicht verzeihen. Aber ich brauche nur auf den Friedhof hinübergehen, den Ungarn jetzt darstellt, um vollständig darüber beruhigt zu sein, daß ich zwar nicht Ihren Wünschen gemäß, aber im wahren Interesse der proletarischen Revolution handelte, wenn ich dabei mitwirkte, das Proletariat Deutschösterreichs vor entscheidenden Niederlagen zu bewahren und es kampffähig zu erhalten.

            Ich bin heute in der merkwürdigen Lage, daß meine russischen Freunde aller Richtungen mit mir unzufrieden sind. Aber gerade, daß alle von Axelrod bis Lenin in der Unzufriedenheit mit mir einig sind, gibt mir die Zuversicht, daß vielleicht doch ich es bin, der auf jenem Wege ist, der allein zu einer kraftvollen Internationale des revolutionären Weltproletariats führen kann.

            Meine Ansichten darüber Ihnen im Einzelnen auseinanderzusetzen, übersteigt den Rahmen dieses Briefes. Hoffentlich wird es bald einmal mündlich möglich sein. Vorläufig bestehen allerdings leider noch die Fronten, die Sowjetrußland von der übrigen Welt absperren und mich zwingen, diese anspruchslosen Zeilen zu drücken, damit sie vielleicht doch Aussicht haben, Sie zu erreichen.  

Mit sozialistischem Gruße ihr                       

                                                                                   Friedrich Adler

In: Der Kampf. Sozialdemokratische Wochenschrift, 13.12.1919, S. 805.