Hans Suschny: Manifest (1925)

Hans Suschny: Manifest

Ich spreche vor allem zu allen jungen produktiven Menschen meines engeren Werkkreises Österreich. Ich spreche zu all jenen, die bereit oder auf dem Wege sind, in ihr Hirn einzugreifen und ihre Gehirnzellen umzuschichten.

Wir müssen vor allem den Kampf gegen unsere eigene Natur aufnehmen.

Wir müssen als geschichts- und weltbewußte Individuen den Selbstmord unserer Passivität begehen.

Als solche müssen wir uns auch gegen die äußere Natur, gegen die Elemente, die diese unsere Passivität bedingen, auflehnen.

Ich spreche zu all jenen, die sich befähigt fühlen, auf welchem Lebensgebiete immer, dem heute bestehenden Chaos gegenüberzutreten und es mit festen Händen und zähen Nerven in seine Teile aufzulösen oder seine Elemente neu zu organisieren.

Wir sind zum Großteile in versteinerte Formen eingeschlossen und in Pyramidengräbern erstickt.

Wenn unser Hirn gleichfalls verkalkt ist, lebt es sich ein, oder besser, stirbt es hinein in dieses Steinmassiv.

Wenn wir aber freier leben, gelangen wir zur Wahrnehmung der in Vermischung vegetierenden Elemente und zur Erkenntnis der Organisationsfähigkeit dieser sei es in unserem Hirne dialektisch oder in der äußeren Welt freigewordenen Elemente.

Wir leben, wenn wir jede auftauchende Frage in unseren Gedankenorganismus einbeziehen, unsere Sinne neuen Fragen eröffnen und Lösungen versuchen.

Wir werden zu produktiven Menschen, wir schaffen, wenn wir diese Frage lösen.

Jedes Kunstwerk sei ein gelöstes Problem, und je mehr es dieser Forderung entspricht, umsomehr befriedigt es den Aufnehmer.

Wer aber in der Versteinerung althergebrachter Formen eingeschlossen ist, welche Formen insgesamt gelöste Probleme bedeuten, für den sind eben alle Probleme gelöst, für ihn ist kurzhin alles gelöst, er fühlt kein Bedürfnis nach neuen Lösungen, denn er sieht keine neuen Probleme.

Ihm fehlt aber auch die Aufnahmsfähigkeit neuer Lösungen, das heißt auch neuer Kunstwerke, er steht ihnen fern, fremd und blind gegenüber, sie sind ihm vor allem zu einfach, – welche Eigenschaft ihnen auch wirklich zukommt, da sie eben Lösungen sind -.

Er liebt jedoch die Widerkäue längst gelöster Fragen, er liebt sie in leicht zu hebende ‚zarte‘ Schleier gehüllt, er liebt sie in Symbolen ausgedrückt, in welchen er mühelos den Sinn zu entdecken vermag, seine Langweile ‚sehnt‘ sich nach Komplikationen und er verstrickt sich und zerbröselt immer mehr ihm Chaos.

Wer aber in der Gegenwart die Fragen der Gegenwart erschaut und auffühlt, wer sie zu lösen versucht und wem die Lösung gelingt, der ist ein einfaches, unkompliziertes Individuum einer einfachen, zum Teile noch ihrer Kollektivität unbewußten Gemeinschaft, das darum nur wieder einfache oder nach Einfachheit verlangende Menschen anspricht.

Wir hassen die Problematik und Symbolik im Kunstwerk.

Wir lieben den reinen Stoff, der uns Mittel zur Lösung ist.  

Wir lieben jene Mitmenschen, die von uns Lösungen erwarten, und hassen jene, deren Nerven vom Künstler gekitzelt werden wollen. Hierin liegt auch der Sinn und die Erklärung für unser Verbundensein mit dem Proletariat einerseits und der Technik andererseits.

Der Kampf des Proletariats ist das Ringen nach Problemlösung.

Jedes Werk der Technik ist Problemlösung und daher selbst unproblematisch wie die reife Frucht, wie jeder in sich geschlossene einheitliche Organismus.

Unsere Werke sind ebensolche Organismen.

Sind die in eine neue, vollkommene, reale Einheit gebrachten und nach dieser Einheit verlangenden Elemente des Chaos.

Die verschiedenen Kunstrichtungen unserer Epoche haben sich vergeblich bemüht, eine neue Schaffensbasis zu finden. Was ihnen zum Teile gelang, war die Sprengung der inaktuellen Formen, die Befreiung der Elemente und Elementarformen, aber den neuen Schaffensgrund konnten sie nicht finden. Als Beispiel erhoben sie Malerei und Dichtung im Banne der Musik zur musikalischen Komposition. Erst dem Konstruktivismus gelang es, malerische Formen in ihrem Eigenwerte zu erkennen, die dichterischen Begriffe in ihrem Vollwerte zu denken und daraus neue Organismen zu bauen, zu konstruieren.

Wir schufen den Grundriß und fanden den Spitzbogen [gesperrt gedr. im Orig.]

Damit ist das Werk des Konstruktivismus beendet. Damit begräbt sich der letzte

–Ismus. Wir treten in eine neue Epoche, in die –ismenlose des universellen Schaffens, begeben uns auf die Suche nach einer neuen Hirneinheit. Auf Grundriß und Spitzbogen – den Bau! [gesperrt gedr.]

Österreicher! In den Ländern um euch zerbrechen die Kalkmauern. In den Hirnen ringsum platzen die klassischen Vorurteile. Nur in Wien werden noch immer die Häuserwände mit ‚lieblichen‘// Stukkaturen beklebt, die Zimmer mit violetten Akten und blühenden Landschaften verunstaltet, die Plakatwände mit Pornographien, sentimentalen Liebespaaren und ‚ästhetischen‘, stilisierten, weichfarbigen Reklamen beschmutzt.

In den Konzert- und Theatersälen wird in ätherischen und Trancezuständen traumgeschwitzt.

In den Schulen umklammern Polypenarme die Hirne der Jugend und sie erstickt oder entwindet sich resigniert.

Wer aber seine Muskeln spürt, kommt mit uns.

Wer freiere Luft atmen möchte, geht mit uns.

Ich grüße Ludwig Kassák als den Arm, der mir aus dem Sumpfe half.

Ich grüße Ludwig Kassák als den Kopf und die Füße unserer Bewegung und in seinem Namen all jene, die bereit sind, sich der Erfüllung unserer großen Aufgabe anzuschließen.

Unter den Ventilatoren technischer Ökonomie und wissenschaftlicher Dialektik, unter den Scheinwerfern elementarer Gestaltung und proletarischer Einfachheit.

                                                                                   [Hans Suschny]

In: MA 10 (1925), H. 2, S. 6-7.S