1928 | Egmont Colerus: Politik

Im Burgtheater wurde 1928 Egmont Colerus‘ Drama Politik uraufgeführt. Nachfolgend finden Sie fünf Besprechungen.

  1. D. J. Bach: Alles, nur keine Politik! „Politik“ von Egmont Colerus im Burgtheater.
  2. Hans Brecka: (Theater, Kunst und Musik. Burgtheater.) „Politik.“ Drama von Egmont Colerus
  3. Raoul Auernheimer: „Politik“ von Egmont Colerus
  4. Leopold Jacobson: Burgtheater. Zum erstenmal „Politik“, Drama von Egmont Colerus
  5. Alfred Polgar: Wiener Theater

D. J. Bach: Alles, nur keine Politik! „Politik“ von Egmont Colerus im Burgtheater.

„Politik ist Interesse, Interesse ist Partei.“ Daher sich jeder bessere Mensch von Politik fernhalten sollte. Gut. Doch warum befolgt dies der Dichter eines Dramas nicht, das sich „Politik“ nennt? Auch die Verneinung der Politik und der versuchte Beweis, daß sie verneint werden müsse, sind Politik, wenngleich Antipolitik. Du liebe Güte, man soll von Künstlern kein politisches Verständnis verlangen, man braucht sie politisch gar nicht ernst zu nehmen. Doch anders steht der Fall, wenn sie sich da selber ernst nehmen, und wär’ es nur in ihrer politischen Antipolitik. Da kommt dann solch ein Stück heraus wie diese „Politik“, das mit einem Aufwand an Worten, Kostümen und Begebenheiten ein Nichts von einem Problem verdecken möchte. Ja, freilich, das Verhältnis des einzelnen, der Individualität zur Vielheit, zur Masse, das Verhältnis der individuellen Freiheit zum Zwange der Gemeinschaft oder auch nur der Organisation, wie sie eine Partei darstellt. Dieses Verhältnis könnte ein tragisches Problem darstellen, ist als solches wiederholt wirklich gelebt und in aller Wahrhaftigkeit dargestellt worden. Aber weil einer so gar nicht zur Politik taugt wie dieser unglückselige Schwätzer Anafesto, deshalb allein sind weder Politik noch Partei verwerfliche Dinge. Er ist ritterlich, tugendhaft, alle behaupten dies von ihm; schade, daß er sich in allerlei Staatshändel mengt. Zu spät erkennt er, daß es besser sei, sich den „Mündungen der Kartaunen“ gegenüberzustellen als einem Phrasenschwall aus politischen Kindermündern. Da ist eine Haupt- und Staatsaktion wie weiland im Theater des achtzehnten Jahrhunderts, da sind Kunstbetrachtungen, literarische Lesefrüchte, Kostüme – ach, wie kniet sich das Burgtheater in das alles hinein! Rüstungen werden nicht mehr getragen, aber man hört das Blech scheppern und die Seide rauschen. Trotz alledem, man darf Egmont Colerus wohl nicht nach diesem Drama allein beurteilen. Er hat einmal, in einem interessanten Roman, den „Dritten Weg“ gesucht. Da war jenes Problem, um das er sich diesmal umsonst bemüht, wenigstens zum Teil wirklich vorhanden. Ein „Marco-Polo“-Roman zeigte ihn schon mehr auf dem Wege zum historischen Kostüm; sollte ihn Robert Neumann in seinem lustigen Parodienbüchlein „Mit fremden Federn“ wirklich durchschaut haben, da er Schwulst einer übertreibenden Sprache als das Kennzeichen des Schriftstellers Colerus darstellt? Es ist wohl eine Ungerechtigkeit, aber auch der böse, verzerrende Witz hat da etwas richtig gesehen. Verläßt Colerus diese Methode (und Methode heißt auch nichts andres als Weg), so kann er auf jenen dritten Weg zurückfinden, der mit seinen Zweifeln, seinen Uebertreibungen, seinen Utopien viel fruchtbarer ist, selbst wenn das Ziel nie er[reicht] werden könnte.

Das Burgtheater, wie gesagt, tat, was es konnte: es fühlt sich fast geborgen, wenn die Angelegenheit um ein paar Jahrhunderte zurückliegt. Die Damen Wagener und Pünkösdy, die Herren Hartmann, Marr, Siebert, Georg Reimers, Devrient, sind zum Erfolg aufgeboten, dazu noch Herr Treßler, der in vorzüglicher Maske („historisch“ wie das Ganze) den Pietro Aretino als eine Art Mittelding zwischen einem Operettenhelden, den der Künstler in nächster Zeit spielt, und dem Mephisto, den er später spielen soll, darzustellen sucht; da es anscheinend auf den Text nicht ankommt, kann man ja wirklich die Rollen ein bißchen durcheinanderbringen. Was übrigens den historischen Aretino angeht, so war er wohl ein übler Geselle, doch eine bedeutende Persönlichkeit. Da er aber in diesem Stück keine großartigen Phrasen von sich geben darf, die seinem Wesen auch gar nicht entsprächen, so schrumpft er zu einem Schweinehund, einem ärgerlichen Skribenten ohne Persönlichkeit zusammen; wie sollte ihm der Darsteller das Format geben? Historische Kartons sind eben meistens riesengroß und haben doch nur selten Format, das heißt Größe. Indes, Pomp gefällt, zumal im Burgtheater. Es gab sehr viel Beifall, Hervorrufe für den Dichter und stürmisches Verlangen nach Paul Hartmann.

In: Arbeiter-Zeitung, 16.3.1928, S. 3.

Hans Brecka: (Theater, Kunst und Musik. Burgtheater.) „Politik.“ Drama von Egmont Colerus.

Politisch Lied ein garstig Lied? Nein! sagt Egmont Colerus, ein unerbittliches, grausiges Lied. Politik: Ein Spinnennetz, das die Menschen umstrickt, ein Labyrinth, in dessen kalten Gängen man sich verirrt und sich den Kopf anrennt. Die Träger der Politik sind Parteien, die mit brutaler Machtgeste vom einzelnen die Einordnung, Unterordnung verlangen. Die Parteien verkünden „Wahrheiten“, jede eine andere. Daran wird der einzelne, der für sich, auf seine Weise nach seiner Wahrheit strebt, unfehlbar zuschanden. Auch dies ist Politik: Diesen Einzelnen, durch sein Wahrheitsuchen Gefährlichen unschädlich zu machen. Politik: Eine Kunst, eine Leidenschaft, eine Dämonie, für den einen verderblich, für den anderen edler Lebensinhalt, für manchen auch Geschäft.

Gewiß ein Thema, von dessen in alle Zeiten und Weiten hinausgreifenden Kreisen sich der alte Rudolf Hawel nichts träumen ließ, als er seine kleine Lokalkomödie „Die Politiker“ schrieb. So leicht macht es sich Egmont Colerus nun allerdings nicht. Sein Zugriff ist leidenschaftlich, inbrünstig, sein Ringen mit dem Stoff hat wilde Angriffslust. Aber gedeiht sein Werk erheblich weit über ein lokal und historisch umgrenztes Drama hinaus? Ergeben sich Erkenntnisse, die auch außerhalb jenes Venedig zur Zeit der Hochrenaissance, in dem das Stück spielt, Geltung besitzen? Das ist die Frage, die zu erheben man wohl berechtigt ist, da dieses Drama einen so allgemeinen in allen Jahrhunderten und in allen Ländern aktuellen Begriff zu seinem Namen wählt. Nun: Colerus bekundet auch hier wieder, in seinem ersten (zumindest ersten bekanntwerdenden) Drama die schon in seinen Romanen geübte Kunst historisch überzeugender Einfühlung in ferne Zeiten, aber karg ist das Echo, das für uns heutige Menschen noch so etwas wie einen lebendigen Nachhall bedeutet. Das zwiespältige Licht, in dem er die Politik jenes alten Venedig sieht, wirft wenig Schein auf die Politik unserer Tage. Nur ein paar nebensächliche Tendenzen billiger Natur kann man heute noch unterschreiben. Zugegeben: Diese Feststellung bedeutet keinen Vorwurf, ja sie wird überhaupt nur durch den verallgemeinernden Titel des Dramas notwendig. Wie könnte es auch anders sein, da die Voraussetzungen dieser Dichtung sich aus einer Staatsform herleiten, die heute längst nirgends mehr in der ganzen Welt besteht?

Vergegenwärtigen wir uns zum Verständnisses des Dramas diese Staatsform. Das damalige Venedig war eine oligarchische Republik, beherrscht vom „Großen Rat“, der „Signoria“, der den „Rat der Zehn“ mit der Vollzugsgewalt betraute, aber in allerletztem Sinne beherrscht wurde vom „Rat der Drei“, jener furchtbaren Staatsinquisition, die einer geheimen Feme glich und mißliebige Personen nach Belieben im Meer verschwinden lassen oder in die Bleikammern stecken konnte, je nachdem es das angebliche oder tatsächliche Staatswohl verlangte. Mißliebig aber wurde jeder, der allzu mächtig, allzu erfolgreich, allzu volkstümlich wurde. Wie wenig läßt sich diese Republik, in Wirklichkeit eine von drei Menschen ausgeübte Tyrannis, etwa mit unserer demokratischen Republik vergleichen! Sie machte furchtbare Jagd auf den besonderen, auf den verdienstvollen Mann. Die demokratische Republik ehrt eines solchen Mannes Verdienste und betraut ihn mit Verantwortung. Nein, wahrhaftig, die Politik jenes Venedig hat mit der unserer Zeit und namentlich mit der unserer Heimat nichts gemeinsam.

Das Drama beginnt damit, daß der edle Anafesto zu seiner eigenen furchtbaren Ueberraschung in den „Rat der Drei“ berufen wird. Dieser Anafesto hat sich durch allzu freie, eigentlich schon rebellische Reden auffällig gemacht, er ist ein Liebling des Volkes. Dadurch, daß man ihn in den „Rat der Drei“ aufnimmt, stellt man ihn vor die große Entscheidung: Sie einzufügen in die Politik des Rates, seinen ganz anders gerichteten Ideen abzuschwören, oder zugrunde zu gehen. Dieser Anafesto ist aus mancherlei Gründen gefährlich. Blendende Gaben des Geistes zeichnen ihn aus, seine Braut ist die Tochter des Dogen, Giuditta, er ist befreundet mit dem erfolgreichsten Feldherren Venedigs, dem Condottiere Carmagnola. Der besorgte Weitblick der Männer im Rate sieht voraus: Zwei solche Männer, das Heer auf ihrer Seite, den Dogen im Bunde . . . das könnte Gefahr für den Staat bedeuten. Einer von diesen beiden muß fallen. Carmagnola wird heimlich gefangen gesetzt. Anafestos Empörung darüber ist grenzenlos, aber er muß sie zügeln, da er nun selber im „Rat der Drei“ sitzt. Spottweise wird er der „Ethiker“ der Inquisition genannt. Die beiden anderen sind Tribuno, der starre, strenge Wahrer des Staatswohles, der „Pathetiker“ der Inquisition und Galla, der auf Eigeninteressen bedachte „Zyniker“. Anafesto kennt die Gefahr, die ihn immer enger umstrickt. Es fehlt nicht an Warnungen. Noch zeigt sich ihm eine allerletzte Chance: Wenn er sich mit Giuditta ins Privatleben zurückziehen, der Politik entsagen, sich für alle Zeit mundtot machen lassen würde, könnte er sich retten. Aber dazu vermag er sich nicht zu entschließen. So, von Verzweiflung immer stürmischer bedrängt, stößt er sich selber den Dolch in die Brust, ein Opfer der Politik, ein tragischer Held seiner Idee. Nun ist Carmagnola gerettet, er wird wieder an der Spitze des Heeres für Venedig streiten dürfen.

Dieses Bild einer in des Wortes wörtlichstem Sinne über Leichen schreitenden Politik wird ungemein wirkungsvoll mitten in die übermütige Musik des venezianischen Faschings hineingestellt, es wird fast überreich mit einer bunten Fülle von Episoden umgeben. Wir sehen das Treiben politischer Hetären und dekadenter Dichter, Tintoretto, einen der großen Maler der Renaissance, den ganzen zügellosen Heerbann einer Karnevalsnacht. Ist es diese verwirrende Menge mehr oder minder schmückenden Beiwerkes, die es mit sich bringt, daß die Idee des Stückes nicht immer mit wünschenswerter Klarheit erkenntlich bleibt? Man ist Zeuge einer geheimnisvoll verstrickten Aktion, deren Fäden man verliert. Schöne, pathetische Worte, gehäuft und geballt, ergeben manchmal beängstigende Rätselberge. Gewiß, die Sprachgewalt dieses Dichters hat antiken Zug und Tonfall. Unbestreitbar auch, daß dieses Drama in seinem Bau imponierende Formen zeigt. An starken dramatischen Elementen, die dem Romandichter schwerlich jemand zugetraut hätte, ist dieses Werk reich genug, daß man es als Verheißung hinnehmen kann. Im übrigen aber muß sich die Freude, wieder einmal einem Oesterreicher auf dem Burgtheater zu begegnen, letzten Endes doch wohl mit einer gewissen respektvollen Anerkennung bescheiden.

Das Burgtheater ist dem Drama mit aller seiner Liebe zu Hilfe gekommen. Direktor Herterich scheint es sich zum schönen Grundsatz gemacht zu haben, die Stücke österreichischer Autoren in eigene Regieobhut zu nehmen und sie besonders sorgfältig zu betreuen. So ergab sich denn eine höchst sehenswerte Aufführung, deren darstellerische Glanzleistungen, der edel männliche Anafesto des Herrn Hartmann, der bei aller Starrheit seiner politischen Einstellung doch immer von einem Zug menschlicher Güte geadelte Tribuno des Herrn Devrient und der Galla des Herrn Siebert sind. Ganz prachtvoll auch, ein schwärmerisch-furioser Künstler der Kreide und des Pinsels, der Tintoretto des Herrn Marr, der in Ketten knirschende Carmagnola des Herrn Höbling. Frau Pünkösdy wirkt für die Giuditta vielleicht etwas robust und Frau Wagner gibt uns, wenig auf Anmut bedacht, die tröstliche Gewißheit, daß die Hetären des damaligen Venedig niemandem gefährlich werden konnten. Herr Georg Reimers stattet den Dogen mit Größe und Würde aus, während Herr Treßler als Dichter Aretino dem Königsschwager aus „Vasantasena“ einen äffischen Zwillingsbruder schenkt. Von hoher Schönheit und reichem Stimmungszauber sind wieder einmal die Bühnenbilder Professor Geylings.

Die Erstaufführung wurde mit freundlichem, freilich nicht eben übermäßig stürmischem Beifall aufgenommen.

In: Reichspost, 16.3.1928, S. 8-9.

Raoul Auernheimer: [Burgtheater] „Politik“ von Egmont Colerus.

Der Vorhang hebt sich und enthüllt ein venezianisch düsteres Gemach. Daß es venezianisch ist, verrät ein Wandbehang, aus dessen Gewebe der Löwe von San Marco droht; verrät auch die Tracht und das Aussehen des Ratsherrn am Schreibtisch, die – schwarzer Samt mit weißer Verbrämung, weißes Haar und schwarzer Bart – dunkel an Bildnisse der venezianischen Schule gemahnen. Vor dem Schwarzen, der sitzt, steht ein rotgekleideter junger Mann, der aus dem Munde des Thronenden staatsmännische Belehrungen empfängt. Um sie zu veranschaulichen, greift der Schwarzsamtene nach drei spannenhohen Holzfiguren, die, Kegeln nicht unähnlich, den Rat der Drei, die oberste, noch über dem Dogen stehende, Herrschergewalt Venedigs andeuten. Zwei von ihnen können jederzeit den dritten unschädlich machen, zwei Schwarze den Roten, der Rote im Bunde mit dem einen der beiden Gleichfarbigen den andern. Denn es ist so eingerichtet, in diesem „magischen Dreieck“, dessen Frontveränderungen das Volk bezahlen muß – es ist so eingerichtet, daß die schwarze Mehrheit den Roten umwerben muß, daß aber auch der Rote ohne einen Teil der Mehrheit nicht seine Pläne verwirklichen kann. Venedig? Mag sein, daß es im alten Venedig so war. Im neuen Oesterreich ist es gewiß nicht anders.

Von dieser Anzüglichkeit lebt Colerus’ Stück, ein zwar hitziges, aber nicht eben dramatisches Leben. Es ist ein Erzählerstück, ein Bilderstück. Nach jenem ersten, in dem der neugewählte Drei-Mann, Anafesto, schaudernd an die Stelle seines ertränkten Vorgängers Veliero tritt, folgen noch fünf weitere Bilder, die der Titel „Politik“ in einem lockeren Rahmen faßt. Der junge Anafesto, über Nacht zur Schwindelhöhe der Macht emporgestiegen, macht drei Erfahrungen, bevor er schwindelnd in die Tiefe stürzt. Die erste heißt Leone Carmagnola. Das ist der Condottiere der Republik, der Sieger von Morea, der dem neuen Triumvir in der ersten Stunde seines Amtsantrittes gefesselt, mit einer Binde über den Augen, vorgeführt wird, in Anklagezustand versetzt. Warum? Weil er zwar glänzend gesiegt aber dabei „jenseits der Befehle“ gehandelt hat. Die zweite Erfahrung folgt der ersten auf dem Fuße. Tribuno, der schwarz-weiße Greis, indem er den Anafesto in sein neues Amt einführt, übergibt ihm einen Schlüssel, der den Geheimschrank der Republik aufschließt. In diesem Schrank liegen zwei Urkunden. Die eine betrifft den Prozeß Carmagnolas, in diese darf er Einblick nehmen. Die andere ist ein Vorakt über ihn selbst, den zu lesen man Anafesto warnt. Aber, nachdem er seine Neugier, nicht ohne wiederholte Schwächeanwandlung, vierundzwanzig Stunden lang bezähmt hat – das Stück spielt, wohl der Hintergrundsmusik zuliebe in der Faschingsnacht -, macht ihn, und das ist die dritte Erfahrung, Tribuno selbst mit dem Inhalt dieses Schriftstückes bekannt. Anafesto hat einmal, vor mehreren Edelleuten, „feurig“ die These vertreten, „jeder höhere Mensch sei zugleich Anhänger der Demokratie und der Tyrannis“. Damit kann man ihn, so muß er jetzt erfahren, jederzeit verderben. Es geht streng her in Venedig.

In Wahrheit freilich ist sein Verbrechen ein ganz anderes. Anafesto gehört jetzt zu denen „da oben“, von denen während des ganzen Stückes immer nur mit äußerster Scheu gesprochen wird, und er wird noch obendrein von Giuditta, der Tochter des Dogen, geliebt, deren Liebe er erwidert. Wenn es ihm nun gelänge, den unschuldig verurteilten Carmagnola zu befreien, so hätte er alle Trümpfe in der Hand: das Heer, die Exekutive und die geheime Staatsgewalt, oder, wie Tribuno sich ausdrückt: „die Dynastie wäre fertig“. Darum hat er zu wählen: entweder die Macht oder Giuditta; und wenn er Giuditta wählt, so wird Carmagnola erdrosselt. Indessen, Anafesto wählt anders. In einer expressionistischen Szene, in der die Gespenster der Politik, zu dramatischen Gestalten verdichtet, von allen Seiten leibhaftig auf ihn eindringen, der von einem Scheinwerferlicht grell übergossen mit seinem Gewissen ringt, kehrt sich der Stahl, den er gegen einen seiner Mitregierenden zückt, unversehens gegen ihn selbst, und er fällt, ein Opfer der Politik. Colerus „Drama“ ist also eigentlich ein Trauerspiel. Die Kategorie, zu der es sich bekennt, ist verschwommen wie sein Inhalt.

Aus Bildern bestehend, rettet es sich schließlich in das Bild. Farbengleißend ist das Innere des Dogenpalastes vor uns aufgetan, das schwelgerische Prunkgemach eines reichen Handelsherrn, der mit einer Hetäre scherzt, oder die Werkstatt Tintorettos, der des Dogen Töchterlein halbnackt als Diana malt. Zwischen den erfundenen Gestalten, die karyatidengleich die Schwibbogen einer ziemlich nebelhaften Problematik tragen, bewegen sich auch geschichtliche, neben Tintoretto und Aretino auch dessen liederliches Schwesterlein, die um manches Staatsgeheimnis wissende Beppa Aretina. Auch in allerhand Kunstgeheimnisse wird der Zuschauer eingeweiht und über den Unterschied zwischen dem Sfumato und der Morbidezza Tizians und der Furia des Tintoretto gründlich aufgeklärt. Tintoretto bemüht sich mit allen seinen Riesenkräften um die vornehme Morbidezza, aber da es schließlich zum Malen kommt, vergißt er – was gut beobachtet ist – alle seine guten Vorsätze und wirft mit äußerster Furia das Bild des Aretino auf die Leinwand, mit einer riesenhaften Pistole sein Maß nehmend. Ganz ähnlich ergeht es dem Verfasser dieses malerischen Bilderstückes. Er wollte offensichtlich dem Problem der Politik zu Leibe rücken und diese Problematik dramatisch gestalten; was zustande kam, sind aber nur einige hitzige Romankapitel, deren furioser Stil auch etliche Stilblüten ans Licht treibt. Zumal die Regieanmerkungen, in die sich der stückeschreibende Romanschriftsteller erfahrungsgemäß am liebsten flüchtet, sind in dieser Hinsicht aufschlußreich. So erfahren wir beispielsweise in der effektvollen Schlußszene, daß in dem Augenblick, da Anafesto, tödlich getroffen, mit den Worten niedersinkt: „Der Einzelne macht dem Ganzen Platz!“, alle auf der Bühne versammelten „Schemen“ unisono aufzukreischen haben, „wie wenn der Sturm durch Waldschluchten fährt“. Tribuno spricht in einem besonders feierlichen Augenblick „wie das jüngste Gericht“. „Wie ein bedrohtes Vöglein“ sinkt Giuditta am Schluß des ersten Aufzuges in sich zusammen. Mit „eckigen Blicken“ durchmißt einer den Raum; „furchtbare Schauer durchrieseln“ ihn oder sie, bevor sie oder er „mit verkrampftem Antlitz“, „heiser“ oder „gell“, „weiterschäumend“, zu reden beginnen. . . . Auf Colerus’ mitteilsamen Romanen liegt oft ein Nachglanz der Makart-Zeit; auf diesem Drama gleichfalls. Wäre die expressionistische Geisterszene am Schlusse nicht, die ein Selbstgespräch in Visionen auflöst, so könnte es ungefähr auch eines der schwächeren dramatischen Werke von Paul Heyse sein. Auch die kunstgeschichtlichen Anwandlungen und die Ateliergespräche deuten in die gleiche Richtung.

Das Burgtheater macht aus dieser venezianischen Bilderreihe das einzige, was daraus zu machen ist, ein üppiges Bilderbuch. Die Schauplätze, die Trachten, die Beleuchtungswunder sorgen für die Augenlust des Zuschauers, die besten Sprecher. Mar Devrient als Tribuno an der Spitze, für die Ohrenlust des Hörers in den oft theatralisch hochgeschwungenen, immer sehr wortreichen Auftritten. Wirklich gestaltet und somit dankbar im schauspielerischen Sinne sind höchstens Aretino, den Treßler, meisterhaft schon in der Maske, aus federnden Gelenken spielt, sowie, in einem gewissen Abstand, Beppa – Frau Wagener, Galla – Herr Siebert – und der in seiner schwerfälligen Plumpheit fast rührende Tintoretto des nach Morbidezza krankenden, sich seiner Furia schämenden Herrn Marr. Rein dekorativ, wie es in der Verfassung Venedigs vorgesehen gewesen sein mag, wirkt der Doge des Herrn Georg Reimers. Des Dogen Töchterlein ist Frau Pünkösdy, die dieser papierenen Romanfigur gleichfalls kein rechtes Leben einzublasen vermag.

An den Helden des Renaissancedramas, den durchaus nicht renaissancemäßig empfindenden und schwankenden Anafesto wendet Paul Hartmann sein schönstes Können. Sein ungemeiner Aufstand, sein herzgewinnender Freimut und jeder Zauberglanz eines von reinem Idealismus erfüllten Wesens, der jede seiner Gestalten umfließt, kommen auch dieser zustatten, und es ist nicht seine Schuld, wenn dieser fragwürdige Held, der nicht weiß, was er will, Fiesco und Egmont in einer Person, und eben darum weder das eine noch das andere, uns bei aller aufgewandten Wärme nicht recht warm macht. Ein verschwommener Charakter, von dem wir erst im sechsten Bild erfahren, daß er auch ehrgeizig ist, und nicht einmal von ihm selbst erfahren, geht er eigentlich nicht so sehr an der Politik zugrunde als an der Meinung des Verfassers, daß man an der Politik zugrunde gehen müsse, weil das Staatswohl vorgeht. Demnach wäre also jeder anständige Politiker ein Märtyrer – eine tiefpessimistische Auffassung, die vielleicht mehr in heimischen Erfahrungen begründet ist als in venezianischen. Die Politik? hat Napoleon zu Goethe gesagt: Die Politik ist das Schicksal. Nach Colerus ist sie das Unglück. Das ist nicht napoleonisch, aber wienerisch, und es muß darum noch lange nicht wahr sein.

In: Neue Freie Presse, 16.3.1928, S. 1-2.

Leopold Jacobson: Burgtheater. Zum erstenmal „Politik“, Drama von Egmont Colerus.

Zwischen Gedächtnis und Erinnerung hat schon der alte Christoph Friedrich Haug einen Unterschied gemacht. Gedächtnis haben nur kalte Seelen, Erinnerung aber die fühlenden. Es ist jetzt gerade so eine Zeit der Gedenktage, da man von Wedekind spricht und von Ibsen, weil der eine zehn Jahre tot ist und der andere vor hundert Jahren geboren wurde. Es fließt Tinte und es gibt Kniebeugen. Es gibt auch Wertungen von oben herab, denn die Standpunkte erhöhen sich mit der Anzahl der verstrichenen Jahre. Was einmal zur Zeit sprach wird unterwegs nur eine Angelegenheit des Papiers, der Gesamtausgabe, der Betrachtung, des Wissens um Literatur. Es war Kampf? Gott ja, aber die Aufregung hält vor kühleren Erwägungen doch eigentlich nicht stand, nicht wahr?

Das Gedächtnis gibt die Ueberlegenheit, die Erinnerung bringt das Blut in Bewegung. Die Enge des Theaters wurde gesprengt. Von der Bühne aus wurde der Stoß in die Herzen geführt. Man geriet ins Schlachtgetümmel, und nicht neue Sachlichkeit, nur neuer Geist entschied. Die Großen und die Kleinen standen auf, und Einstellung war so viel wie Umstellung. Es ging um Dinge der Kunst, um Denken, um Gefühl, um Seele. Auch der Zuschauer wurde zum Akteur. Das war die Zeit des neuen Dramas, die Zeit der neuen Dramatiker, von denen jeder auszog, diesen Stoß ins Herz zu führen. Man lernte, daß er das Wesentliche des Theaters sei, denn Theater sollte wirklich so viel wie Kunst und Kunst so viel wie Erneuerung des Lebensgefühls bedeuten.

Das Schöpferische des Theaters ging vom Autor aus, heißer Kopf und heißes Herz. Jetzt hat ihn der Regisseur abgelöst, der nur einen Umweg zum Ursprungsweg bedeutet. Man ruft, schreit nach dem neuen Dramatiker. Man hat den Expressionismus erfunden, der sich selbst überwand, weil er knochen- oder gehirnweich war. Es kam der Zeit-Dramatiker, der Mann mit der Tendenz, aber es wurden bloß Plakate der Gesinnung affichiert. Es kam der Rhythmus, das Tempo; aber es waren immerzu bloß Begriffe für eine Absicht. (Wenn auch Absicht allein schon eine Sache ist, die man erfreut notiert.) Wie es auch sei: Blut bleibt immer dicker als Wasser. Das was man die Krise des Theaters nennt, ist nicht das Unterhaltungstheater; das hat es immer gegeben, wird es immer geben und ist nicht zu verwerfen; doch ein Beharrungszustand führt zur Entwertung, zur Erschöpfung der Idee, fälscht den Charakter.

Ein neuer Dramatiker? Man horcht auf. Ist es ein Signal? Wird eine Tür aufgerissen, ein Tempel gestürzt, eine eherne Tafel zerbrochen? Entflieh, du alter Traum, entflieh! Ach, es geht nur um eine Vermehrung des Besitzstandes. Man kommt nicht reicher, als man scheidet. Man bleibt unbewegt, sagt Ja, sagt Nein, sagt Ja und Nein, weil das eine so gleichgültig ist wie das andere.

Egmont Colerus, den das Burgtheater aufführt, ist ein neuer Dramatiker, was nicht dieselbe Bedeutung hat wie ehedem, obwohl es sie haben sollte. Es heißt bloß: die Vorstellung eines neuen Mannes, der fürs Theater schreibt. Egmont Colerus hat bisher nur Romane verfaßt, in denen Vergangenheiten lebendig wurden. Die Beziehungen zur Gegenwart lassen sich herauslesen oder auch nicht. So steht es auch um sein Erstlingsdrama: „Politik“. Weil wir aber schon dabei sind, kann es nicht schaden, sich an ein gutes Wort Börnes zu halten, der in seinen dramaturgischen Blättern die Erfahrung preisgab, daß schwache dramatische Dichter wohl daran tun, sich starke historische Personen zum Gegenstand zu wählen. Bei Egmont Colerus begegnet man diesem großen Faltenwurf. Zeit der Hochrenaissance, Venedig, Staatsinquisition oder der Rat der Drei, die Schwarzen, der Rote, der Doge, der Condottiere, der Maler Robusti, genannt Tintoretto, der Dichter Bacci, genannt Aretino. Man bekommt einen unendlichen Respekt. Es heißt nicht bloß, es geht auch um Politik, und die Handlung umfaßt den Zeitraum von Fastnachtmontag abend bis Faschingdienstag nacht. Um den Aschermittwoch braucht man dann nicht mehr besorgt zu sein. In höflicher Umschreibung heißt dieses Eintauchen in Vergangenheiten: moderne Probleme in ein historisches Gewand kleiden. Direkt herausgesagt heißt es: eine Maske aufsetzen, um den Mangel modernen Zeitausdrucks zu verhüllen. Egmont Colerus ist zweifellos ein begabter Geschichtenmacher, der sich einem Stoff liebevoll hingibt, ihn in seinen Verästelungen verfolgt, um die Spannungsmöglichkeiten Bescheid weiß und Schicksale sieht. In vielen Romanen steckt oft ein Stück, aber es ist nicht ganz dasselbe, wenn man in einem Stück mehr den Roman herausschmeckt. Das ist bei diesem Drama der Fall. Es trägt ein altes, überspieltes Gewand, und die Gedanken, die geistig geklärt sind, passen sich ihm an. Sie bewegen nicht, sie sind nur lehrhaft. Sie rufen nicht auf, sondern stellen nur anheim. Sie sammeln Gedachtes und geben ein Beispiel.

Dieses hier dreht sich um das Schicksal eines jungen Ethikers, des Roten, der in den historischen Rat der Drei gewählt wird. Diese furchtbaren Drei hielten das Schicksal des Staates Venedig in ihren Händen, waren die unsichtbaren, von niemand gekannten Gebieter der Inquisition, die Wahrer der reinen Staatsidee, die über allen anderen Erwägungen zu stehen hatte. Der junge Anafesto ist nun einer von denen „da oben“ geworden, um über die „da unten“ zu richten. Man merkt gleich, daß der Ethiker neben dem Pathetiker und Zyniker eine unbequeme Rolle bekommt. Er scheint politisch nicht sehr beschlagen, weil er die Falle nicht merkt, in die er geraten ist. Wohl denkt man, daß er, dem die Redlichkeit des Herzens und die Lauterkeit der Idee gehört, den Triumph schließlich an sich reißen wird, aber dem Autor geht es ums Gegenteil. Gerade dieser muß der Politik zum Opfer fallen. Anafesto ist der Freund eines verdienstvollen Condottiere, hätte also die Armee für sich; Anafesto ist aber auch der zukünftige Gatte der Tochter des Dogen und somit wäre auch das Volk auf seiner Seite. Wenn aber Anafesto bei seinen individuellen Freiheitsideen verharrt, bedeuten diese Umstände die Gefahr eines Umsturzes, der Staat fällt ihm zur Beute und das Gesetz ist in Gefahr. Politik, nichts als Politik, muß helfen. Der Zweck heiligt die Mittel. Man stellt Anafesto die Wahl, auf die Braut zu verzichten; er widerstrebt. Man läßt ihm die Braut, aber er soll nur Privatmann sein; das kann er nicht. Er weiß, daß es dann erst recht um ihn geschehen ist. Einen Ausweg gibt nur der Tod. Er endet durch Selbstmord, oder es töten ihn, wie symbolisch angedeutet wird, die Gedanken. Die Politik, die da fand, daß Einer zu viel im Staate ist, hat sich von ihm befreit.

Politik geht verschlungene Wege und der Dramatiker folgt ihr. Er sieht sie überall am Werke, natürlich auch in der Kunst, und so läßt er auch den leibhaftigen Tintoretto, den Aufrührer gegen die Morbidezza, gegen das Gleichmaß, ein kräftiges Wörtlein sagen. Das kräftigste lautet: „Wahr sein heißt frei sein von Wahrheiten.“ Das ist auch auf die Politik zu beziehen, über die noch ein Dutzend anderer Sinnsprüche und Beispiele zu verzeichnen ist. Als Leitspruch hätte Colerus, um sich viel Gedankenarbeit zu ersparen, die Bismarcksche Definition hinsetzen dürfen: „Es ist in der Politik so, als wenn man mit unbekannten Leuten in einem unbekannten Lande geht, und wenn der eine seine Hände in die Tasche steckt, so zieht der andere seinen Revolver schon.

Für Aufstieg und Fall des Helden hat Egmont Colerus die üblichen Theatermittel zur Hand. Er hat Auftritte, Abgänge, Diskussionen, Aktschlüsse; er hat Edelmut und Bosheit, Schwarz und Weiß zur Verfügung. Sein Hohnlachen lautet wirklich: Hahaha, und seine Ironie: Hehe, aber er vergißt auch das Hihi nicht. Sein politisches Bekenntnis neigt zum Ethiker, aber auch der Pathetiker steht ihm nicht fern, nur vom Zyniker scheint er wenig wissen zu wollen.

Der neue Mann gibt redlich altes Theater. Er hat nur den Kulissen etwas zu sagen und die sind im Burgtheater sehr schön, weil der Fundus reich ist. Er hat auch den Schauspielern nichts Neues zu sagen, denn sie brauchen nur Rollen darzustellen, die sich dem Kostüm anschmiegen. Die Darsteller spielten auch aus dem Kostüm heraus, offenbar um die Alterswerte zu betonen. Wie herrlich lachte Höbling seinen langgezogenen Hohn! Es war eine „Ha!“-Skala ohne Ende, und wenn er „Abscheulich!“ rief, kniete er sich hinein, daß er ein wundervolles „Abuscheulich!“ herausbrachte. Hilde Wagener spielte eine Kurtisane und kletterte dazu in die höchsten Tonlagen, um ihren dramatischen Schmerz kreischend verströmen zu lassen. Herr Treßler fand für den Pietro Aretino eine fabelhafte Maske, aber er stelzte herum wie der Hahn am Mist, und wenn er nicht gerade krähte, meckerte er. So wenig der Autor dem Pietro Aretino ein geistiges Gesicht zu geben imstande war, so sehr scheint Tintoretto seine Liebe zu haben. Diesen Kraftlackel von Maler gibt Herr Marr mit dem Vollbewußtsein eines Kunstpropagandisten: eine biedere Dämonie trifft er gut. Sehr gehalten, sehr würdig und eindrucksvoll in der Linie ist der düstere Inquisitor Devrients und der Zyniker des Herrn Siebert bekommt zuweilen eine schauspielerische Charakterform. Für Paul Hartmann blieb der unglückselige Held des Stückes. Es ist eigentlich eine passive Rolle; mehr geschoben als schiebend. Eine Sprechaufgabe, in der es nur Töne der Lauterkeit gibt und des redlichen Herzens. Darüber hinaus hat er nichts zu zeigen oder zeigt es nicht. Es ist schönes Theater, aber ohne heißen Atem. Sein Gefühl bekommt einen edlen Schwung, wenn er mit der Geliebten zusammentrifft, die Frau Pünkösdy zur renaissancehaften Gestaltung übernimmt. Wenn sie einmal, nur mit einer kurzen Tunika bekleidet, im Maleratelier dasteht, gibt sie jedem Revuegirl etwas vor. Von den übrigen Burgtheatergirls, so das Faschingstreiben und die Lust in Venedig markieren, kann man nicht das gleiche behaupten.

Das Stück, von Herterich auf die Bühne gestellt, tat beim Publikum jene Wirkung, die ein feierliches Drama zu tun hat. Man rief den Autor, klatschte ihm lebhaft zu und machte Politik auf eigene Hand.

In: Neues Wiener Journal, 16.3.1928, S. 3-4.

Alfred Polgar: Wiener Theater.

„Politik“,

ein Drama von Egmont Colerus. Spielt in der heftigsten Renaissance. Übermenschen fürchterlich! Tod ist die kleinste Unannehmlichkeit, die passieren kann, Leidenschaft das Hausbrot der Seele, das schlichteste Kleid noch hat großen Falte[n]wurf, die geringste Rede noch bedeutenden Tonfall, niemand ist vor seinem Nächsten sicher zu preisen, jeder Weg führt über einen Abgrund (welcher gähnt), unheimliche Gewalten herrschen, von noch unheimlicheren beherrscht, was immer einer tut oder läßt; es ist riskant, die Geschäfte, die besorgt werden, Faltenwurf, die geringste Rede noch bedeutenden Tonfall, nie sind zum größten Teil finster, Mord ist das Kleingeld der Staatsraison, Furcht und Geheimnis die Grundmauern der inneren Politik.

Um vom Wesen dieser Politik – und mit ihr der Politik überhaupt – in einem starken Gleichnis und Beispiel zu handeln, hat Colerus seine sechs venetianischen Tafelbilder komponiert. Sechs große Szenen, so üppig in der Farbe, auch des Dialogs, wie sich dies für ein Renaissance-Stück geziemt. Der halbe Gobineau tritt auf oder wird zumindest genannt. Die Luft ist voll von Brennbarem; doch trotzdem, daß es heiß zugeht in „Politik“, fehlt den Gestalten Lebenswärme. Ihre Herkunft aus einem Panoptikum der Kulturgeschichte können sie nicht verleugnen, Gefühl und Ansicht, so lebhaft sie beide äußern, wirken wie Stücke eines seelischen Kostüms, das ihnen, beweglichen Schaupuppen aus einem vornehmen Dichter-Atelier, umgetan ist. Von berühmten Solisten der Renaissance erscheinen: Tintoretto, der durch sein Wiederwesen, besonders aber im Gespräch mit des Dogen Töchterlein, leicht an Hans Sachs erinnert (vielleicht mag dies aber nur eine Ähnlichkeit im Barte sein), und Aretino, den ich mir geistreicher vorgestellt hätte. Seine Schwester, der Buhlerei zugewandt, jedoch auch um Liebe wissend, ist eine Kurtisane großen Stils; sie macht der Unehre Ehre. Den schaurigen „Rat der Drei“ führt ein Mann mit weißem Haar und schwarzem Bart. Das charakterisiert ihn. Er ist die unbedingte Staatsraison, von Grausamkeit düster unterkellert. Der Zweite im Rat nennt sich einen Zyniker und ist auch, wie alle dieses Fachs, ein Genußmensch. Vor zwei Tagen haben er und sein Amtsgenosse einen wirklich netten Kollegen, nur weil dieser beim Volk so beliebt, in den Kanal getan, morgen werden sie kaum umhin können, aus gleichem Grund den siegreichen Condottiere ein bißchen foltern oder erdrosseln zu lassen; mein Gott, das sind so kleine Spesen der großen Politik, da darf man nicht engherzig sein. Der Dritte im Rat, Anafesto, erscheint als die Lichtfigur des Spiels, aber was vermag sein Helles gegen das Dunkel der politischen Ideologie? Es ist ihm gar nicht wohl „da oben“, auf dem Dach der Republik sitzt er als ein Jüngling, der sich nicht zu helfen weiß, und so wird Absturz unvermeidlich. Die lächerlichste Figur des Stücks macht der Doge, obgleich er schon vormittags im vollen Ornat ausgeht. Wir sehen ihn bei Tintoretto, den er bittet, sich doch nicht laut über Tizian zu moquieren. Kein Mensch schert sich um ihn. Er ist das reichvergoldete fünfte Rad am Staatswagen.

Aus diesen Figuren, deren Sein und Schicksal uns ganz gleichgültig läßt, formt der Dichter die dramatischen Zeichen, in denen seine Vision vom Politischen sich ausdrückt. Er hält Politik, mit Recht und manchem Seitenblick auf Gegenwärtiges, für eine louche gefährliche vieldeutige Sache. Er nennt sie ein Spinnennetz. Keiner gerät schadlos zwischen ihre Fäden, der nicht das Zeug hat, sich selbst dort als Spinne zu etablieren. Über Freiheit und Zwang, über Widersprüche zwischen dem Ethos des Privat- und des Staatsmanns wird im Schauspiel Kluges gesagt, der Knäuel politischer Logik in seiner ganzen hoffnungslosen Verfilzung aufgezeigt, und die Schnittpunkte, wo politisch Recht und menschlich Unrecht, politisch Gut und menschlich Böse einander schneiden, scharf fixiert. Als Lehre aus dem Beispiel – wenn man nicht die Erkenntnis, in der politischen Theorie, wie in allen anderen, entscheide nicht die bessere Wahrheit, sondern die bessere Dialektik, dafür nehmen will – ergibt sich eigentlich etwas, was Colerus kaum sagen wollte, nämlich: der Staat selbst ist das Hassenswerte. Er ist der abscheuliche Götze, dem Menschenopfer fallen unerhört; die Politik, das heißt Ritus und Priester, sind nur ein sekundäres Übel.

Egmont Colerus hat gewiß Beachtenswertes zu sagen. Doch über das leere pathetische Theater, das er drum herummacht, kommt kein Mann hinweg.

Das Burgtheater ist da in seinem Element. Geradezu lebendig wird es in so totem Wasser. Welche Lust am dekorativen Sprechen und Gehaben, am Bilderbuch-Zauber, am Großartigen, das doch nur das Theatralische ist. Wie Öldruck legt sich’s auf die Brust des Zuschauers.

Paul Hartmann ist Anafesto. Dieser befindet sich in der Lage einer heroischen Maus im Katzennest. Ein passiverer Held ist gewiß noch nie in einem Renaissance-Stück herumgestoßen worden. Hartmann kann auch nicht viel anders tun, als die Stöße mit edlem Unmut hinnehmen. Die Herren Devrient und Siebert sind seine Amtskollegen im „Rat der Drei“, jener von unnahbarer, dieser von nahbarer Würde, wie es der Dichter will. Marrs Tintoretto führt einen weichborstigen, dennoch militanten Pinsel. Aus dem Aretino macht Herr Treßler einen hüpfenden meckernden Harlekin. Der Text, den er zu sprechen hat, ist allerdings ganz arm, und das Meckern ausdrücklich vorgeschrieben. Frau Pünkösdy als Dogentochter blüht, ein tapferes Veilchen, ziemlich im Verborgenen. Hingegen spielt Frl. Wageners Exaltiertheit die Kurtisane Beppa, mehr als dieser eigentlich zukäme, in den akustischen Vordergrund. Als rechtes Sinnbild des Abends darf Herrn Höblings Condottiere gelten. Der Text rasselte zwischen seinen Zähnen wie das alte Eisen, zu dem diese ganze Theaterspielerei gehört.

In: Der Morgen, 19.3.1928, S. 4.