Das Kleine Blatt

Das „Lesebedürfnis“ der, so Chefredakteur Julius Braunthal, „politisch noch weniger interessierten Schichten“ stand bei der Konzeption des „Kleinen Blatts“ zentral, das zwischen 1927 und 1944 als kleinformatige Tageszeitung erschien. Die Redaktion war in den Räumlichkeiten des sozialistischen Parteiverlags „Vorwärts“ untergebracht, und rekrutierte sich v.a. aus journalistischen ‚newcomern‘: Karl Ausch, Karl Hans Sailer, Johann Hirsch, Marianne Pollak, Jakob Meth, Ludwig Wagner und Walter Süß leisteten mit ihren durchaus unterhaltsam aufgemachten Beiträgen ‚indirekte‘ Propaganda für die Sozialdemokratie. Dass das „Kleine Blatt“ zur meistgelesensten Tageszeitung avancierte, verdankte sich auch der aufwendigen visuellen Gestaltung: Mit Ladislaus Kmochs gezeichneten Geschichten um die Figur des Tobias Seicherl etwa präsentierte das „Kleine Blatt“ den ersten täglich erscheinenden Comicstrip Österreichs.

Von Rebecca Unterberger | Juni 2016

Inhaltsverzeichnis

  1. Parteiblatt für den ‚kleinen Mann‘
  2. Kurzweiliges im Dienste ‚indirekter‘ Propaganda
  3. Ein „Stück neuer Kultur“ – für alle
  4. „Erzählt uns davon!“
  5. Medienkompetenz in Zeiten politischer Polarisierung

1. Parteiblatt für den ‚kleinen Mann‘

Als ein „typisch österreichisches Phänomen“ hat Alexander Potyka kleinformatige Tageszeitungen wie etwa die bereits seit 1900 erscheinende Illustrierte Kronen-Zeitung definiert. Unter diesen Tageszeitungen kam dem Kleinen Blatt eine Sonderstellung zu: nämlich als Partei- im Gewande einer Boulevardzeitung. Das Kleine Blatt [fortan: KB] wurde am 1.3.1927 aus der Taufe gehoben, um die österreichische Sozialdemokratie in ihrem Wahlkampf für die Nationalratswahlen zu unterstützen [Potyka, S. 11-13]. Denn, so Julius Braunthal, der Chefredakteur des neuen ‚Blattes‘ aus Anlass des einjährigen Bestehens,

[j]ene anderen sogenannten Volkszeitungen wirken durch ihre betonte Ungeistigkeit, durch ihr schnödes Spekulieren auf die dunklen Triebe im Menschen, durch das Paradieren mit jener „Unabhängigkeit“ von einer Gesinnung, die die Gesinnungslosigkeit zum Grundsatz erhebt. [Julius Braunthal: Das erste Jahr. In: KB (1.3.1928), S. 2.]

Kein „Parteiblatt“, sondern „ein gutes, reines, von sozialistischem Geiste erfülltes Blatt“, das sich am „Geschmack“ und „Lesebedürfnis“ der „politisch noch weniger interessierten Schichten“ [zit. Früh, S. 6] orientieren will: Das war die Vision von Braunthal, der sich zunächst aber mit Skepsis seiner Parteigenossen konfrontiert sah. Doch um die Leserschaft von anderen ‚kleinen Blättern‘ abzuziehen seien, wie sich Braunthal auf einem Parteitag zu rechtfertigen wusste, „täglich zwei Seiten leichteren Inhalts“ sehr wohl in Kauf zu nehmen – schließlich leiste das KBauch „täglich 14 Seiten ständiger Erziehungsarbeit für die Partei“ [zit. Potyka, S. 11-13].

Eine solche ‚Erziehungsarbeit‘ zu leisten war bis dato Domäne der seit 1895 erscheinenden Arbeiter-Zeitung, die aber kein Blatt für den ‚einfachen‘, für den ‚kleinen Mann‘ war. Der griff lieber zur Kronen-Zeitung, der auflagenstärksten Tageszeitung Wiens, die 1931 z.B. an Sonntagen in einer Auflage von 280.000 Exemplaren erschien – zum Vergleich: Die Arbeiter-Zeitung brachte es auf 50.000 Exemplare. Die Startauflage des KBbetrug 1927 100.000 Exemplare; ein Jahr später wurden täglich bereits 136.000, 1934 rund 200.000 Stück in Umlauf gebracht [ebd., S. 15-19], und damit, wie aus Anlass des „dritten Geburtstags“ erhoben wurde, tatsächlich einer Phalanx an ‚ungeistigen‘ Blättern Leserschaft abgezogen:

Das Kleine Blatt hat in diesen drei Jahren eine ungeheure Entwicklung genommen. Es erscheint nunmehr in einer Auflage:
an Wochentagen von 157.000 Exemplaren,
an Sonntagen von 186.000 Exemplaren.
Das Kleine Blatt ist heute wohl das verbreitetste, das gelesenste Blatt in Österreich.
Mindestens eine halbe Million Menschen lesen alle Tage das Kleine Blatt.
Woher, so fragen wir uns, sind die Leser des Kleinen Blattes gekommen? Welche Zeitungen haben die 500.000 Menschen früher gelesen? [N.N.: Welche Zeitung haben Sie früher gelesen. Eine Preisfrage zum dritten Geburtstag des Kleinen Blattes. In: KB (16.2.1930), S. 6.]

Die Ergebnisse der hiermit initiierten „Rundfrage“ wurden im April 1930 veröffentlicht; die KB-LeserInnen hatten sich daran mit 11.253 Zusendungen beteiligt und folgende Tageszeitungen als vormalige ‚Stammblätter‘ genannt: Kleine Volks-Zeitung (4946 LeserInnen) – Kronen-Zeitung (4615) – „Provinzzeitungen“ (573) – „keine Zeitung“ (270) – Der Tag (171) – Der Abend (105) – Neue Zeitung (93) – Das Kleine Volksblatt (87) – Volks-Zeitung (84) – Neues Wiener Tagblatt (78) – „andere Zeitungen“ (57) – Arbeiter-Zeitung (63) – Tschechische Arbeiter-Zeitung (42) – Extrablatt (30) – Die Rote Fahne (24) – Reichspost (15) [N.N.: Was unsere Leser früher gelesen haben! In: KB (19.4.1930), S. 7].

Aus sozialdemokratischer Perspektive mochte es beruhigen, dass das KBdem Leitorgan Arbeiter-Zeitung tatsächlich kaum Klientel streitig machte, dafür aber vorsätzlich harmlos-unpolitischen, der Reaktion resp. den ‚Großkapitalisten‘ Vorschub leistenden „Preßprodukten“. Darauf lenkte im November 1930 nochmals mit Nachdruck ein Leitartikel den Blick, der dem „Geheimnis“ des KBErfolgs nachspürte:

Sechs- bis siebenhunderttausend Menschen lesen, gering gerechnet, täglich unser Blatt. Es gibt wohl keine andere Zeitung in Österreich, die sich einer solchen Verbreitung rühmen kann. […] Wir glauben, das Geheimnis unseres Erfolges zu kennen: Wir haben uns vom ersten Tage an und alle die Tage dieser dreieinhalb Jahre von neuem redlich bemüht, der Sache des Volkes nach unseren besten Kräften zu dienen. […] Immer noch findet in den Wohnungen arbeitender Menschen jene Presse Eingang, der die Feinde des Volkes die Maske der Volksfreundlichkeit umgebunden haben. Diese kleinen Blättchen, die zu dem Zweck geschaffen worden sind, um die Hirne des Volkes zu verkleistern und seinen Blick für die Wirklichkeit zu trüben […], die sich, ach, so harmlos und unpolitische gebärden und in Wahrheit doch nur die Geschäfte der Mächtigen besorgen […]. Mögen die Großkapitalisten selber ihre Preßprodukte lesen! In die Hände und in die Wohnungen des Volkes gehören nur Zeitungen, die von arbeitenden Menschen für arbeitende Menschen geschrieben werden! [N.N.: Zweihunderttausend. In: KB (23.11.1930), S. 2.]

2. Kurzweiliges im Dienste ‚indirekter‘ Propaganda

Neben Julius Braunthal, der bis 1934 als Chefredakteur fungierte, und Schiller Marmorek, zuständig für das Ressort Kultur, arbeiteten in der im sozialistischen Parteiverlag „Vorwärts“ – gleich neben der Arbeiter-Zeitung – untergebrachten KBRedaktion v.a. journalistische ‚newcomer‘ mit: als Chef vom Dienst und Leiter des politischen Ressorts Karl Ausch, Karl Hans Sailer, der bald zur Arbeiter-Zeitung wechseln sollte, Johann Hirsch als Filmkritiker, Marianne Pollak, Jakob Meth, Ludwig Wagner und Walter Süß sowie als Zeichner Franz Plachy, Ladislaus Kmoch und Paul Humpoletz. Mit Kmochs gezeichneten Geschichten um die Figur des Tobias Seicherl präsentierte das KBden ersten täglich erscheinenden Comicstrip Österreichs [Polt-Heinzl, S. 285].

„[K]urze Geschichten, Reisebeschreibungen, Schilderungen aus dem Wiener Leben, Darstellungen der neuesten technischen Forschungen“ und Fortsetzungsromane definierte die KBRedaktion als ihr Standard-Repertoire [N.N.: Womit das Kleine Blatt das neue Jahr eröffnet. In: KB (1.1.1929), S. 9f.]: Anstelle komplexer politischer, ideologischer Reflexion und Diskussion setzte man auf (mehr) – auch visuell (Illustrationen, Karikaturen, Fotografien) ansprechend gestaltetes – Kurzweiliges, Sensationelles bzw. sensationell Aufgemachtes, auf Lokal- und Gerichtssaalberichterstattung und wöchentliche Rubriken, „Beilagen“ genannt. Das wie auch die – das Publikum vom (teuren) Bücherkauf suspendierenden – beliebten Fortsetzungsromane mochten Konzessionen an den Publikumsgeschmack (und somit kaufmännischen Überlegungen) geschuldet sein und trugen auch tatsächlich bedeutend zum Erfolg des KBbei; damit wurde aber auch das Wirkungsfeld sozialdemokratischer Propaganda ausgeweitet, nicht zuletzt, indem selbst diese ‚harmlosen‘ Textsorten im Dienste der Unterhaltung tatsächlich „indirekte“ Propaganda für die Partei leisteten. Im Falle der Gerichtssaalberichterstattung z.B. sticht deren (Boulevard-typisch) ‚reißerische‘ Gestaltung ebenso ins Auge wie deren ideologische Geladenheit: Zwar wurde (Moritat-typisch) gerne rührselig auf die Tränendrüse gedrückt, zugleich aber auf reformbedürftige Schwachstellen des Gesetzes hingewiesen und die soziale Determination von Straftätern sowie die Notwendigkeit, die herrschende Gesellschaftsordnung zu ändern, zur Diskussion gestellt. „Dirnen, Zuhälter und Verbrecher“ seien ja zumeist das Produkt von „Krankheit, Alkohol, materielle[r] Not, eine[r] schlechte[n] Erziehung, Prügel, eine[r] düstere[n], schmutzige[n] Kindheit“ und selten „von Natur aus ‚schlecht‘“ [zit. Potyka, S. 164]. Die Frage nach der Schuld der Umwelt gegenüber Opfern und Tätern wurde über die Frage nach der Schuld des Täters gestellt [ebd., S. 102-110 bzw. 139]. „Nicht der einzelne ‚schlechte‘ Mensch, der Verbrechen begeht, ist schuldig, sondern die gesamte Gesellschaftsordnung, die ihn schlecht gemacht hat“, ließ z.B. Walter Süß das Ermittlerduo John Willfort-Frank Bunner in der „Kriminalnovelle“ Die Perlen des Herrn Samuel 1929 räsonieren (12. der insg. 19 Folgen, 19.5.-7.6.1929).

Die Perlen des Herrn Samuel war der zweite Süß’sche Wien-Krimi, der im KBals „Preisrätsel“ abgedruckt wurde. Bereits im ersten Fall von Willfort-Bunner, Zwischen 5 und 12 Uhr, warteten auf die LeserInnen, die den Mörder erraten konnten, „Ergreiferprämien in der Höhe von 1100 Schilling“ [N.N.: Wer ist der Mörder? In: KB (12.1.1929), S. 1]; die Leser-Detektive beteiligten sich eifrig an der Aufklärung: „11.003 Einsendungen zu unserem Kriminalroman“ konnten am 17.2.1929 (S. 9) vermeldet werden.

3. Ein „Stück neuer Kultur“ – für alle

Preisrätsel-Krimis waren nur eine Initiative zur LeserInnen-‚Aktivierung‘, vermittels derer das KB sein Potenzial demonstrierte, die Massen – von Kindesbeinen an – zu mobilisieren: An einer „Kinderpreisaufgabe“ der Beilage „Das Kleine Kinderblatt“ nahmen 1929 knapp 40.000 Kinder (!) teil [vgl. N.N.: Vierzigtausend Kinderbriefe! KB (3.3.1929), S. 1] – und „alle Einsender und Einsenderinnen sollten den dritten Band des Bobby-Bär-Buches gewinnen“; eine logistische Herausforderung für die Redaktion [vgl. L.F.: 36.043 Bobby-Bücher werden verteilt. Kindermassen in den Bezirken. In: KB (26.4.1929), S. 5f.], in der sich drei Sekretärinnen exklusiv der LeserInnenpost widmeten [Potyka, S. 22].

Auf Interaktivität im Dienste der ‚KundInnenbindung‘ setzte man seitens des KBauch durch für die Leserschaft organisierte Veranstaltungen, wie etwa die Ferdl-‚Schnitzeljagden‘ durch Wien (und Umgebung). Im Mai 1928 z.B. sollte

[d]er Ferdl vom Kleinen Blatt […] am Donnerstag 6 Uhr abends zum Arbeiter-Länderfußballkampf Österreich-Belgien am Zentralvereinsplatz in Liebhartstal […] erscheinen und […] den Ball abstoßen. Wer dort am Platz – und nur auf dem Sportplatz! – den Ferdl vom Kleinen Blatt mit einem Exemplat unserer Zeitung in der Hand verhaftet, bekommt hundert Schilling. Wir werden, damit unsere Leser den Ferdl vom Kleinen Blatt sogleich erkennen, am Donnerstag sein Porträt neuerdings veröffentlichen. (N.N. Der Ferdl des Kleinen Blattes erscheint zum Länderfußballkampf Belgien – Österreich. In: KB (27.5.1928), S. 4.)

Um „die sogenannten ‚edlen‘ Sportarten“ potentiell allen zugänglich zu machen, bot das KBeigens für seine Leserschaft veranstaltete Ski- [N.N.: Das Kleine Blatt veranstaltet Skikurse. In: KB (14.10.1928), S. 7] und „volkstümliche Tennislehrkurs“ an [N.N.: Ein Tennislehrgang des Kleinen Blattes. In: KB (1.5.1928), S. 12]. Für den aufgrund der Nachfrage eingerichteten zweiten Tenniskurs meldeten sich 1.233 LeserInnen an, darunter 1.154 Frauen, vornehmlich Lehrmädchen, Hilfsarbeiterinnen und Hausgehilfinnen. Durch den Einfluss von „Lektüre“ (etwa des KB, das „schon von tausenden Hausgehilfinnen gelesen“ werde) und Sport (die Tenniskurse, die „den Gedrücktesten der arbeitenden Menschen […] ein Stück neuer Kultur erschlossen“ haben) lasse sich die Hausgehilfin sicherlich „nicht mehr entwürdigen“, wurde am 8.6.1928 (S. 2) unter dem Titel „Hausgehilfinnen am Tennisplatz“ berichtet.

Dass die Tenniskurse als Fürsorgeleistung, ja soziale Großtat charakterisiert wurden, muss vor dem Hintergrund von (Feuilleton-)Debatten über den in Wien grassierenden „Hausgehilfinnenselbstmord“ gelesen werden. 1928 berichtete die Arbeiter-Zeitung von dem neuen Massenphänomen, dass „65 Prozent aller Selbstmordhandlungen […] auf die häuslichen Berufe [entfallen]“ [N.N.: Selbstmörder. Eine Statistik der Gemeinde Wien. In: AZ (8.5.1928), S. 6]: Das domestikenhafte Dasein, das Ausgeliefertsein an die Launen der jeweiligen ‚Dame‘, tragische Liebes-Geschichten (mit verheirateten Charmeuren) oder aber auch Arbeitslosigkeit – schließlich habe die Pauperisierung bürgerlicher Haushalte in Wien rund 40.000 Hausgehilfinnen „entbehrlich“ gemacht [N.N.: Wenn die Ziffern sprechen. In: KB (17.3.1928), S. 5] – wurden als Gründe für die Verzweiflungstaten der oftmals aus der Provinz nach Wien zugezogenen jungen Dienstbotinnen skizziert [vgl. Unterberger, Sterbendes Wien].

An „‚das Mädchen für alles‘, das – inmitten eines glücklichen Familienlebens, in das sie als Fremdkörper hineingestellt ist – allein, ausgestoßen und verlassen bleibt“ [N.N.: Hausgehilfinnen haben das Wort! In: KB (27.1.1928), S. 12], adressierte das KBauch eine freitägliche Beilage, die den Hausgehilfinnen ein Forum, um sich schreibend über „die Freuden und Leiden ihres Berufes“ austauschen zu können, sein wollte:

Was sie in den langen sechs Wochentagen treiben, wie sie ihre Arbeiten einteilen, welches Verhältnis sie zu ihren Dienstgeberinnen haben, was sie mit ihren wenigen Mußestunden anfangen sollen, welche Rechte ihnen das Hausgehilfinnengesetz gibt, wo Versammlungen für sie abgehalten werden, das alles wird in Artikeln und Notizen behandelt. [Ebd.]

4. „Erzählt uns davon!“

„Die Hausgehilfin“ war nur eine der „vierzehn regelmäßig erscheinende[n] Beilagen“, die das KBim Juli 1928 z.B. bereits überblicken konnte:

Die gute Hausfrau.
Die Einkaufstasche.
Das neue Kleid.
Das Kleine Kinderblatt.
Elternsorgen.
Frauenberufe und Frauenschicksale.
Die Hausgehilfin.
Der Volksarzt.
Der Tierarzt.
Der Garten.
Auto, Motorrad, Aero.
Kleines Sportblatt.
Das Radio.
Handwerk und Handel.

Es folgten u.a. im August desselben Jahres noch die Beilage „Mußestunden der Frau“ [N.N.: Die Beilagen des Kleinen Blattes. In: KB (26.7.1928), S. 10] und im Oktober 1929 „Jugend von heute“, gelauncht mithilfe einer in der ersten Folge annoncierten Rundfrage:

Was mich am meisten freut!
Eine Preisfrage an unsere Jugend.
In unserer Welt, die so wenig Mädeln und Burschen ermöglicht, ihren Beruf […] nach ihrem Geschmack, ihrer körperlichen und seelischen Eignung zu wählen, gewinnt die Frage doppeltes Interesse, was diese jungen Menschen wirklich gern tun, und womit sie sich aus freien Stücken beschäftigen.
Erzählt uns davon!
Ist es vielleicht der Sport? Oder nur das Kino? Oder die Weiterbildung in Volksbildungsinstituten? Der Tanz? Politische Gemeinschaft und Diskussion? Beschäftigung mit Kunst und kunstgewerblichen Dingen? (N.N.: Was mich am meisten freut! In: KB (6.10.1929), S. 17.)

Die hier in Rede gestellten Themenfelder wie auch die Ausdifferenzierung durch Beilagen orientierten sich an den Interessen einer breiten Leserschaft, sind aber v.a. auch vor dem Hintergrund der im bzw. vom ‚Roten Wien‘ intendierten, das gesamte (Alltags-)Leben des Arbeiters sowie dessen ‚Innenleben‘ berücksichtigenden Gegenkultur zur zu bekämpfenden bürgerlichen Gesellschaft zu lesen [Potyka, S. 35]. Denn, wie Lily Fulda unter dem Titel „Aus dem Sekretariat des Kleinen Blattes“ vermeldete,

[w]ir wollen jedem, alt und jung, behilflich sein, sich im Leben zurechtzufinden, Schwierigkeiten zu überwinden, neuen Mut und frische Lebenskraft zu fassen, durch die Erkenntnis, daß keiner allein und verlassen ist, der sich in die große Gemeinschaft der arbeitenden Menschen einfügt. [Lily Fulda: Aus dem Sekretariat des Kleinen Blattes. In: KB (1.3.1928), S. 16f.]

Der KBIntention, „den Frauen ein freundlicher Ratgeber“ sein zu wollen [N.N.: Welche Zeitung haben Sie früher gelesen. In: KB (16.2.1930), S. 6], trugen v.a. die Beiträge von Marianne Pollak Rechnung: In der Rubrik „Die gute Hausfrau“ orientierte Pollak etwa über den ‚Neuen‘, rationalisierten Haushalt (für die berufstätige Frau) [z.B. M.P.: Was Neues. In: KB (11.2.1928), S. 12], in der Beilage „Das neue Kleid“ u.a. über das „Recht auf Schönheit“ auch und gerade für Arbeiterinnen und Angestellte:

Frauen, die im Beruf stehen, müssen einfach auf ihr Äußeres achten, ihren Körper pflegen. […] Der schöne Körper ist der gesunde Körper! Wie er gesund zu erhalten, erzählt allwöchentlich unser Volksarzt. Wir aber wollen an dieser Stelle vor kostspieligen und dabei nutzlosen Mitteln warnen und zeigen, wie die Frau von heute sich schön erhalten kann, ohne Zeit und Geld dafür zu vergeuden. [M.P.: Das Recht auf Schönheit. Soll es ein Vorrecht der Reichen bleiben? Der gewandelte Schönheitsbegriff. In: KB (27.3.1928), S. 11.]

Aus den zahllosen (Feuilleton-)Beiträgen, die dem Berufsalltag gewidmet waren, sei hier noch Ludwig Wagners zweiteilige Sozialreportage „Ruhende Webstühle – feiernde Arbeiter. Eine Gemeinde, die von der Arbeitslosenunterstützung lebt“ (KB (16.2.1930), S. 4f.) bzw. „Alle Räder, alle Spindeln stehen still. Ein Tag im arbeitslosen Gramatneusiedl. – Die Einkaufstasche des Arbeitslosen“ (KB (18.2.1930), S. 5) herausgegriffen. Von Wagners Recherchen ergingen nämlich wichtige Impulse an die sogenannte „Marienthal-Studie“. Die Ergebnisse der von Otto Bauer angeregten und von Paul F. Lazarsfeld bei der Durchführung geleiteten Studie über die Anfang 1930 stillgelegte Textilfabrik und Arbeiterkolonie Marienthal unweit Wiens (1931/32) wurden 1933 unter dem Titel Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit veröffentlicht. Ziel war, „mit den Mitteln moderner Erhebungsmethoden ein Bild von der psychologischen Situation eines arbeitslosen Ortes zu geben“, so Marie Jahoda und Hans Zeisel in dem Vorwort. Die Beobachtung einer „müden Gesellschaft“ war von politischer Brisanz: Resignation und Überforderung durch erzwungenes Nichtstun führen zur weitgehenden Entpolitisierung der Arbeitslosen, nicht aber zu revolutionärem Aufbegehren [vgl. Müller].

Soziale Sujets waren Gegenstand auch in den Beiträgen, oftmals Wien-Flanerien, v.a. von Johann Hirsch, Jakob Meth und Walter Süß, die bei Arbeitslosen, Obdachlosen, Straßenhändlern oder in der ‚Unterwelt‘ Station machten. Daneben wurde nachgerade hymnisch die Modernisierung in der bzw. zur Roten Metropole, etwa Leistungen des kommunalen Wohnbaus, besungen. Unter dem Titel „Herzader der Großstadt“ etwa skizzierte Süß 1928 die Mariahilfer Straße als Begegnungsraum der Zeiten – ‚barocke‘ Vergangenheit und ‚Wolkenkratzer‘-Zukunft – und sozialen Klassen – hie Luxus-Kundschaft, dort auf der Straße unsanft Gelandete.

5. Medienkompetenz in Zeiten politischer Polarisierung

„Lesen Sie Ihre Zeitung aufmerksam?“ Unter diesem symptomatischen Titel wurde 1930 ein weiteres KBPreisausschreiben erläutert:

Bemerken Sie es, wenn ein Bericht einen Widerspruch enthält? Sie haben Gelegenheit zu beweisen, daß Sie ein gewissenhafter und denkender Zeitungsleser sind. Das Kleine Blatt veröffentlicht morgen ein neues Preisrätsel: Der Kampf über dem Abgrund. Eine schauderhafte Liebestragödie. In dem Bericht ist ein krasser Widerspruch enthalten, den Sie finden müssen. Das Kleine Blatt setzt für die richtige Lösung des Preisausschreibens 171 Preise aus. [In: KB (21.12.1930), S. 7.]

Die LeserInnen sollten die richtige, d.h. gründliche und kritische Lektüre ‚spielerisch‘ trainieren und zur Anwendung bringen, auch für ‚Implizites‘ sensibilisiert werden, kurz – und in aktueller(er) Diktion – „Medienkompetenz“ erwerben. Um Medienkompetenz ging es auch tatsächlich in einem „Photo-Preisausschreiben“ von 1930: „Was an dieser Stenotypistin beziehungsweise an ihrer Arbeit merkwürdig ist“ [N.N.: Die merkwürdige Stenotypistin. In: KB (30.11.1930), S. 5], sollten die LeserInnen an einer Fotografie, die ein handschriftlich beschriebenes Blatt in eine Schreibmaschine eingespannt zeigte, feststellen.

Dass die Leserschaft auch für Implizites, ein Zwischen-den-Zeilen/Bildern-Lesen präpariert wurde, mag mit der von Prozessen und Konfiskationen begleiteten Geschichte des KBin Zusammenhang zu bringen sein. Mit Einführung der Pressegesetznovelle Ende 1929 waren für Presseprozesse nicht mehr Schwur-, sondern Bezirksgerichte zuständig, und bereits am 7.3.1930 wurde das KBerstmals gemäß den neuen Bestimmungen konfisziert; fortan häuften sich Beschlagnahmungen und Prozesse. Dass der Regierung an der peniblen Überwachung des ‚kleinen‘ Parteiblatts gelegen war, lag zum einen in der hierin viel direkter als in der Arbeiter-Zeitung dargebrachten Kritik an innenpolitischen Entwicklungen, der zum anderen dank der Verbreitung des KBauch mehr Gewicht zukam [Potyka, S. 25-29]. „Enttäuschung über die Regierungserklärung. Mißtrauen bei den Sozialdemokraten“ lautete z.B. der Titel des KBLeitartikels zur Regierungserklärung Schobers vom 27.9.1929: Dass sich die Heimwehren im Gegensatz zum Republikanischen Schutzbund auf die wohlwollende Duldung bis Förderung durch die Regierung und Behörden verlassen konnten, wurde immer wieder kritisch aufgezeigt. Das KBkalkulierte dabei die Empfänglichkeit der LeserInnen für die Kritik an den Heimwehren, um gegen den neuen, für die Niederschlagung der Julirevolte von 1927 verantwortlichen Bundeskanzler zu polemisieren [ebd., S. 62-65]. Neben den Heimwehren boten sich ab 1928 häufende Bankenkrachs als Zielscheibe für Polemik – auch in Form von Karikaturen – an [Potyka, S. 126f.; s. Titelblatt KB (2.2.1928)].

Seit März 1933 stand das KBdann unter am Titel vermerkter „Vorzensur“, und Nikolaus Hovorka wurde neuer Chefredakteur. Um nicht mit einem drohenden Kolportageverbot belegt zu werden, wurde fortan merkbar weniger aggressiv, ja vergleichsweise ‚zahnlos‘ über aktuelle politische Entwicklungen berichtet [Potyka, S. 25-29].


Literatur
  • Eckart Früh: Walter Süß. Wien: gratis und franko 1999 (= Noch mehr).
  • Reinhard Müller: Sozialreportage über Marienthal . Online unter: http://agso.uni-graz.at/marienthal/bibliothek/wagner_ludwig_1930_1/0.htm
  • Ders.: Die Marienthal-Studie. Online unter: http://agso.uni-graz.at/marienthal/studie/00.htm
  • N.N.: „Das kleine Blatt“: Hausmeisterzeitung. – Ein sozialistisches Experiment. Großer Erfolg, aber kurze Lebensdauer. In: Die Presse (16.10.2009), online unter: http://diepresse.com/home/innenpolitik/515653/print.do
  • N.N.: Das Kleine Blatt. Online unter: http://www.oeaw.ac.at/cgi-bin/cmc/wz/imp/0430/
  • N.N.: Das Kleine Blatt. Online unter: http://www.dasrotewien.at/das-kleine-blatt.html
  • N.N.: Das Kleine Blatt. Online unter: http://www.aeiou.at/aeiou.encyclop.k/k428253.htm
  • N.N.: Das Kleine Blatt. Online unter: https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Das_kleine_Blatt
  • Evelyne Polt-Heinzl: Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien: Sonderzahl 2012.
  • Alexander Potyka: Das Kleine Blatt. Die Tageszeitung des Roten Wien. Wien: Picus 1989.
  • Rebecca Unterberger: „Hochbetrieb im Redaktionssekretariat: Die Mordpost läuft ein!“ Zu Walter Süß’ Wiener Kriminalromanen für das Kleine Blatt, nebst Seitenblicken auf sensationalistische Gerichtssaalreportagen, Rundfunkgerichtsspiele und programmatische Stellungnahmen zum Krimi im Feuilleton der 1920er und 1930er- Jahre. In: Aneta Jachimowicz (Hrsg.): Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich. Frankfurt/M.: Peter Lang 2017, S. 193-227.
  • Dies.: Sterbendes Wien. In: Julia Bertschik, Primus-Heinz Kucher, Evelyne Polt-Heinzl, dies. (Hgg.): 1928. Ein Jahr wird besichtigt. Wien: Sonderzahl 2014, S. 86-92 [online abrufbar].