Kontroversen um die Visuelle Kultur: Béla Balázs zwischen Eisenstein, Musil, Benjamin, Brecht und Riefenstahl

Anknüpfend an das biographische Modul, in dem vor allem die Balázs prägenden intellektuell-theoretischen und künstlerisch-ästhetischen Erfahrungen und Stationen (Lukács, Bartok, Kodaly bis hin zum Manifest der frühen visuellen Kultur Der sichtbare Mensch) dargestellt werden, rückt dieses ergänzende Modul die ästhetischen und (kultur)politischen Debatten und Kontroversen in den Mittelpunkt, die seine Manifeste begleitet bzw. provoziert haben. Das weite Spektrum der Kontroversen reicht von Robert Musil, der Balázs‘ Arbeiten von Beginn an aufmerksam verfolgte, über Sergei Eisenstein, Walter Benjamin, bis hin zu problematischen Zusammenarbeiten mit Bertolt Brecht  und Leni Riefenstahl und erstreckt sich zeitlich von etwa 1922 bis 1933.

Von Gustav Frank | Juni 2018

Inhaltsverzeichnis

  1. „Béla vergißt die Schere“: Balázs versus Eisenstein
  2. „erster Anatom und Biologe“: Balázs versus Musil
  3. Film(o)-Graphie: Balázs oder „Der unzufriedene Autor“
  4. „Dieser Mann kann nur Falsches vorbringen“: „Ballazs“ versus Benjamin
  5. „Muse ist der Apparat“ oder Der Geist des Films
  6. „Literat geringeren Ranges“ versus Brecht
  7. „der Jude Béla Balázs“ versus Leni Riefenstahl

1. „Béla vergißt die Schere“: Balázs versus Eisenstein

Schon am 10. Oktober 1922 hatte Balázs in der Roten Fahne, dem Zentralorgan der KPD, die Gründung einer proletarischen Filmgesellschaft gefordert: „Wir müssen unsere eigenen Filmunternehmungen schaffen!“ (Schriften I, 148) Erst am 2. Februar 1926 wird diese Forderung erfüllt und die Prometheus Film von einer Gruppe von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe (I.A.H.) gegründet. Führend war dabei Willi Münzenberg (1889-1940), leitender KPD-Funktionär und Propaganda-Chef der Kommunistischen Internationale. Er baute den zweitgrößten Medienkonzern der Weimarer Republik auf, nach dem deutschnationalen Hugenberg-Konzern und vor der Ullstein-AG. Neben auflagenstarken Tageszeitungen und vor allem der Arbeiter Illustrierten Zeitung organisierte seine I.AH. die kommerzielle und vor allem auch nichtkommerzielle Verbreitung sowjetischer Filme in Deutschland, Westeuropa und Amerika, soweit diese aufgrund von Einfuhrbeschränkungen und Zensur von der Aufführung ausgeschlossen wurden. Zu den Einfuhrschranken gehörte seit 1925 auch die Notwendigkeit, im Gegenzug zu jedem importierten Film eine einheimische Produktion, die sogenannten Kontingentfilme, ins Ausland zu exportieren. Für die Produktion solcher Kontingentfilme gründete Münzenberg als Produktionschef die beiden proletarischen Filmgesellschaften Prometheus für den Bereich des Spielfilms und Filmkartell Weltfilm GmbH für den Bereich des dokumentarischen Films. Aus der Produktion der Prometheus gehen einige der heute repräsentativen Filme der Zwischenkriegszeit hervor wie Phil Jutzis Mutter Krausens Fahrt ins Glück (UA 20. 12. 1929) und Brechts und Slatan Dudows Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? (UA 30. 5. 1932). Balázs‘ Aufgabe in der Prometheus war die Bearbeitung der russischen Filmtitel für den deutschen Markt. Aufgrund dieser Funktion kann Balázs als intimer Kenner der sowjetischen Produktion wie Panzerkreuzer Potemkin (Regie Sergei Eisenstein, 1925), Sein Mahnruf (Jakow Protasanow, 1925) oder Der Sohn der Berge (Boris Michin, 1926) gelten.

            Dennoch kommt es zum Konflikt mit dem Hauptvertreter der „Russenfilms“, Sergei Eisenstein. Anlass war ein Vortrag mit dem Titel „Filmtradition und Filmzukunft“, den Balázs im 1925 gegründeten Klub deutscher Kameraleute am 9. Juni 1926 gehalten hat und in dem er auf dem Grundkonzept seines Sichtbaren Menschen aufbauend die Arbeit des Kameramannes als wesentlich für die Zukunft des Films herausstreicht. In Anspielung auf den einladenden Karl Freund (1890 (in Königinhof, Böhmen)-1968) und seine Erfindung der ‚entfesselten‘, d. h. vom Stativ gelösten und auf alle erdenklichen Arten bewegten Kamera für F. W. Murnaus Film Der letzte Mann (UA 23. Dezember 1924) überträgt Balázs jetzt die Verantwortung für den „Ausdruck seiner Seele“ (Schriften II, 211) dem Mann hinter der Kamera: „Solange der Kameramann der ‚letzte Mann‘ ist, solange wird der Film die letzte Kunst sein. Doch der Satz ist umzukehren!“ (ebd.)

            Der Vortrag wird im Film-Kurier (Heft 134, 1926) bereits am 11. Juni auf Seite 1 besprochen. Einem breiteren Publikum werden die Thesen durch eine ausführliche Würdigung am 2. Juli in der in etwa 20.000 Exemplaren verbreiteten Wochenzeitung Literarische Welt bekannt, die der in Prag geborene Willy Haas (1891-1973) bei Rowohlt herausgibt, vordem selbst Chefkritiker beim Film-Kurier. Unter dem Titel „Produktive und reproduktive Filmkunst“ sind Auszüge aus dem Vortrag schon am 12. Juni 1926 in Die Filmtechnik (Heft 12, 1926, 234-235) erschienen. Und bereits am 6. Juli wird der Vortrag ins Russische übersetzt in Heft 27 des Moskauer „popular stars-and-genre magazine Kino-gazeta (1923-1925; from 1925 onwards as Kino)“ (Hagener 2005, 240) nachgedruckt. Auf diesen weit verbreiteten Text reagiert Eisenstein so heftig, weil Balázs darin auch „an zwei wunderbaren Aufnahmen“ (Schriften II, 210) aus Eisensteins gerade in Deutschland angelaufenen und äußerst kontrovers diskutierten Panzerkreuzer Potemkin seine Kameratheorie des Films beispielhaft darlegt. Eisenstein antwortet in derselben Moskauer Zeitschrift gleich mit zwei Polemiken am 20. Juli und am 10. August 1926, die er später unter dem Titel der zweiten zusammenfasst: „Béla vergißt die Schere“.

            Ganz im Sinne der Ausdruckskunst seines Sichtbaren Menschen hat Balázs in Panzerkreuzer Potemkin in einer Szene mit fahrenden Segelbooten eine „Gruppengebärde“ (Schriften II, 211) entdeckt. Dieser Gebärdensprache wohnt Balázs zufolge eine „verborgene[.] Gleichniskraft der Bilder“ inne, eine „Poesie, der kaum eine geschriebene Dichtung zu vergleichen ist“ (ebd.), eine „eigene Poesie, jene, die erst im Bild durch die Aufnahme entsteht.“ (ebd., 212) Dieser Vorrang der Aufnahme geht auf Kosten der Urheberschaft: „Wer die Aufnahme leitet, ist gleichgültig dabei. Gleichgültig, ob der Regisseur oder der Operateur der Schöpfer solcher Kunst ist.“ (ebd.)

            Gegen beide zentralen Thesen von Balázs richtet sich Eisensteins Polemik. Zunächst wendet er sich gegen jeglichen „Starismus“ (Eisenstein 1926, 259), egal ob er den Schauspieler, Regisseur oder eben jetzt den Kameramann ins Rampenlicht rücke. Der erscheint ihm charakteristisch für die kapitalistische Produktionsweise überhaupt, während Balázs vom Kollektivismus der sowjetischen Filmproduktion keine rechte Vorstellung zu haben scheine. Vor allem aber wendet er sich dagegen, dass seinen Bildern etwas Verborgenes und Gleichnishaftes eignet. Die Poesie und Lyrik, die Balázs gesehen haben will, betrachtet er als falsche Emotionalität, die die wahren Sachverhalte, die tatsächlichen sozialen Konflikte nur verschleiern kann. Dagegen betont er die Intellektualität seines Films, die diese Konflikte geradezu auf den Begriff bringt. Die Grundlage dieses Stils ist nicht die Arbeit am Set, an der Aufnahme, gleichgültig ob vom Regisseur geleitet oder vom Kameramann geprägt, sondern die Arbeit am Schneidetisch. „Der Ausdruckseffekt des Filmes ist das Ergebnis von Zusammenstellungen. Und hierin liegt das Spezifikum des Films. Eine Einstellung deutet den Gegenstand nur im Hinblick auf dessen Verwendbarkeit in einer Zusammenstellung mit anderen Sequenzteilen.“ (Eisenstein 1926, 261)

            Eisenstein plädiert für den Primat der Montage, die in der Zusammenstellung, genauer: der Gegenüberstellung und Kontrastierung von Sequenzen die tatsächlichen sozialen Konflikte darzustellen vermag. Das intellektuelle Kino wird der Kinematograph der Begriffe sein:

Es wird der unmittelbare Ausdruck ganzer ideologischer Systeme und ein System von Begriffen sein […] Die Umwälzung des Kinos erfolgt auf der Linie der Intellektualisierung des Kinos. […] Nur einem solchen Kino […] ergibt sich die Möglichkeit, neue Begriffe und Ideen in die Millionenmassen hineinzutragen. […] Das wird der Beitrag unserer ganzen Epoche zur Kunst sein. Zur Kunst, die aufgehört hat, Kunst zu sein, auf dem Wege zu dem Ziel, Leben zu werden. (Eisenstein 1929, 277)

Eisensteins Begriff des ‚Lebens‘ teilt mit demjenigen von Balázs nur noch die rhetorische Emphase, für ihn ist der Strom des Lebens mit der Durchsetzung des Proletariats im Klassenkampf eindeutig identifiziert, für eine unbewusste Seele gibt es in dieser sozialen Vereindeutigung und kommunistischen Konkretisierung keinen Platz mehr.

            Träger dieser Umdeutung ist der Schnitt, insbesondere der schnelle Schnitt, der das illusionistische Kontinuum unterbricht, die Einfühlung unterbindet und stattdessen die kritische intellektuelle Auseinandersetzung befördert. Eisenstein betont, dass der Schnitt und im Besonderen die Schnittfolge den Argumentationsgang lenken. Wird der Film umgeschnitten, wie das noch gängige Praxis der Kinobesitzer war, kann die ideologische Argumentation eines Films sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden.

            Zudem stellt sich Eisensteins Film nicht in den Dienst der Utopie des ganzen Menschen. Sein Gegenstand ist die Gegenwart des vom Klassengegensatz entfremdeten und buchstäblich vom zaristischen Militarismus auf der Treppe von Odessa zerstückelten Menschen. Er liefert Gründe für die Revolution und spendet keinen Trost angesichts ihres Scheiterns; worin sicher auch der Unterschied der Erfahrungen der sowjetischen und der ungarischen Revolution zum Tragen kommt. Die Differenz zwischen Balázs und Eisenstein ist also eine ums Ganze, die ganz ähnlich auch Balázs und Brecht wenige Jahre später trennen wird. Sie schlägt sich im Stil nieder, wie Eisenstein feststellt: „Eine peinliche Terminologie. Nicht die von unsereinem. ‚Kunst‘, ‚Schöpfertum‘, ‚Unsterblichkeit‘, ‚Größe‘ usw.“ (Eisenstein 1926, 264)

            Für Balázs geben immer die Filmbilder, genauer: das Einzelbild, die einzelne Einstellung das Entscheidende zu sehen, es ist Darstellungsgegenstand auf ihnen; für Eisenstein und Brecht ist es die Art und Weise, wie mit den Bildern verfahren wird, wie sie zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Nach Eisenstein darf das Wesen des Films nicht in der „individuellen Einstellung“ gesucht werden, „sondern vielmehr in den Wechselbeziehungen der Eintellungen – genauso wie es in der Geschichte nicht auf Einzelpersönlichkeiten ankommt, sondern auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Einzelpersönlichkeiten, Klasssen usw. “ (ebd., 261)

2. „erster Anatom und Biologe“: Balázs versus Musil

Bevor Balázs den Sichtbaren Menschen veröffentlichte, hatte er schon Robert Musils bis dahin erschienenes literarisches Werk unter der Überschrift Grenzen für die Österreichische Rundschau (Nr. 19 (1923), 344-349) besprochen. Persönlich bekannt sind die beiden einander mindestens seit 1922 (Corino 2003, 1899). Fast ist man auch versucht zu vermuten, Musil habe Balázs’ filmkritische Arbeiten schon als frequenter Kinogänger und lesender Mitarbeiter des „Tag“ verfolgt. Wie auf Balázs gemünzt (dessen Eloge auf Chaplin auf derselben Seite Musils Artikel vorangeht) merkt er jedenfalls schon am 1. Juni 1923 in seinem Beitrag „Eindrücke eines Naiven“ in der „Film-Beilage“ der Muskete zum Kino an: „Ich glaube, nun vor allem glaube ich allerdings nicht an die dramaturgische Philosophie des Kinos (die allmählich beliebt wird), sondern an seine Technik“. Auch Musils Reflexionen folgen hierbei den seit Hofmannsthal eingeschlagenen Bahnen: „Es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn man zu der Frage gezwungen wird: wozu eigentlich Worte? Striche man bloß auf dem Theater alle Worte weg, die nicht mehr sagen, als der Zuschauer auf den ersten Blick errät!“ (ebd.) Soweit reicht der sprachkritische Konsens, der seit den 1890er Jahren etabliert worden war und auch zwischen Balázs und Musil besteht. Hofmannsthals Umwertung von Text und Spiel im Theater hatte noch den Traditionsbruch als Einbruch der non-verbalen Zeichensysteme in die Tradition vorgeführt. Seitdem hatte sich deren Bedeutung von der Pantomime über den Tanz zu den Apparaten mehr und mehr gesteigert. Mit den Apparaten drohte allerdings der Literatur das Privileg der Aufzeichnung des Flüchtigen verloren zu gehen. Das proto-kinematographische Scharfstellen der Schrift auf das Gesicht und den Körper haben seither die Protokollsätze der Wissenschaften und eben die Apparate übernommen.

            In Der Neue Merkur. Monatsschrift für geistiges Leben (März 1925) rezensiert Musil dann den Sichtbaren Menschen in einem derart umfangreichen Essay mit dem Titel Ansätzen zu einer neuen Ästhetik, der über die Länge einer normalen Rezension weit hinausgeht. Offenbar hat Balázs‘ Buch wie schon im Falle von Eisenstein grundsätzliche Fragen für Musils eigenes Schaffen, hier von Literatur, berührt und diese ausführliche Reaktion damit provoziert. Wie schon in der Muskete polemisiert Musil scharf gegen eine Reihe der wesentlichen Voraussetzungen in Balázs’ Argumentation unter Verweis auf die von diesem gänzlich übersehene Leistung der dem Film „gleichzeitigen Literatur“ (Musil 1925, 1149). Ohne dass er diesen Zusammenhang ausdrücklich herstellen würde, subsumiert Musil doch diese Prämissen von Balázs’ Denken ganz selbstverständlich unter „ein gefährliches Feld von heute allgemein verbreiteten Irrlehren“ (ebd., 1145). Musils Reaktion auf Balázs fällt wohl gerade deshalb so ausführlich aus, weil dieser nicht nur eine zukünftige Rolle der Literatur deutlich begrenzt. Vielmehr interpretiert er auch das Werk Musils prägende Formen, die sich ebenfalls dem komplexen Wechselverhältnis von Literatur, Tanz und Film verdanken, derart, dass Musils Œuvre im Rückblick als entwertet erscheinen muss. Wie schon in Balázs’ Text selbst sich verschiedene Debatten überkreuzen, so auch in Musils „Ansätzen zu einer neuen Ästhetik“. Und es ist wohl die Allgegenwart von deren Schlagwörtern, die Musils grundsätzliche Reaktion auf Balázs’ Buch auslösen. Musils Stellungnahme fällt insoweit positiv aus, als das zu besprechende Werk diese Stichwörter liefert. Er erkennt Balázs zu, „erster Anatom und Biologe“ der Filmstücke zu sein, die „in endlosen Rudeln durch unsere Kinos ziehen“ (ebd., 1138). Die Empfindlichkeit Musils, die in der gespannten Konzentriertheit des Essays zum Ausdruck kommt, verdankt sich jedoch über diese Stichwörter allgemeiner Debatten hinaus einer Reihe von Resonanzen, die aus seinen eigenen literarischen Bemühungen seit dem Törleß gleichsam gezogen und durch ihre kritische Wendung gegen die Literatur oder auch durch ihre Vereinnahmung zugunsten des Films dem ursprünglichen Musilschen Denk- und Schreibzusammenhang entfremdet werden. Musil geht deshalb sehr selektiv auf Balázs ein und hebt heraus, wodurch er in Verfolg der Logik seines eigenen Œuvres besonders betroffen wird. Hier reagiert er auf Balázs gleichsam wie auf einen Leser und Kritiker seines Schaffens. Und Musil verweist Balázs deutlich überall dort in die Schranken, wo dieser literaturinduzierte Einsichten missbraucht, um sein utopisches Projekt der visuellen Kultur einzig und allein im Film seine wahre Gestalt finden zu lassen. Musil zieht in Zweifel, „daß man tanzend, filmend oder wie immer anders kunstgebärdend und ‚expressiv’ ein von Grund aus anderer Mensch wird als durch die Druckerschwärze. Man wird es nicht.“ (ebd., 1148) Er zieht auch in Zweifel, dass sich die Wahrnehmungssensationen, die der Film wie alle Künste vermitteln, auf Dauer stellen lässt: „So befreit die Kunst zwar aus der Formelhaftigkeit der Sinne und Begriffe, aber dieser Zustand läßt sich nicht zur Totalität ‚strecken‘. So wenig wie das mystische Erlebnis ohne das rationale Gerüst einer religiösen Dogmatik, und die Musik ohne Lehrgerüst. Damit ist das Wesen allzu optimistischer ‚Befreiungsversuche‘ gerichtet“ (ebd., 1147), wie neben den Tanzreformern auch Balázs’ Utopie des ‚sichtbaren Menschen‘ einen darstellt, und die Richtung auf eine Normalisierung und Funktionalisierung der Befreiung vorgezeichnet:

Bekanntlich ist dieser [„andere“] Zustand, außer in krankhafter Form, niemals von Dauer; ein hypothetischer Grenzfall, dem man sich annähert, um immer wieder in den Normalzustand zurückzufallen, und eben dies unterscheidet die Kunst von der Mystik, daß sie den Anschluß an das gewöhnliche Verhalten nie ganz verliert, sie erscheint dann als ein unselbständiger Zustand […]. (ebd., 1154)

Die Kontroverse Musils mit Balázs richtet sich also gegen eine Überschätzung der Möglichkeiten, die sich aus den Wahrnehmungserfahrungen ergeben, die die neuen Apparate zulassen. Musil richtet sich aber vor allem gegen Balázs’ antiliterarischen Affekt. Musil scheint um die Mitte der 1920er Jahre das Problem der Literatur allerdings nicht darin zu sehen, dass sie außer Stande wäre, Wahrnehmungssensationen nicht nur darzustellen, sondern auch zu evozieren, bei denen es zu einer „Sprengung des normalen Totalerlebnisses“ (ebd., 1145) kommt, auch wenn ihr nicht die „Überraschung durch das isolierte optische Erlebnis“ unmittelbar möglich ist. Musil führt dieses „Grundvermögen jeder Kunst“ (ebd., 1145) im folgenden Jahr in einem kurzen Text mit dem Titel Triëdere! dann auch vor. Er entwertet durch die Verwendung des – lexikalisch betont – alten und einfachen optischen Geräts gezielt den historischen Innovationswert des Films. Balázs’ Provokation scheint im Wesentlichen darin zu liegen, dass er mit dem Film eine volkstümliche Form anspricht, die es erlaubt, ‚Sprengungen des Totalerlebnisses’, also die Auflösung gewohnter Zusammenhänge, an das Alltagsverhalten zurückzubinden. Balázs stellt fest: „Denn das Publikum hat ein Bewußtsein des Technischen dem Film gegenüber“ (SM 73). Und Musil konzediert:

Selbst im Alltagsleben lernen wir durch jedes ansteckende Beispiel, sei es der Shawlschwung des Filmhelden, der dem Straßenlümmel ein Stück Seele schenkt, […] daß der Ausdruck des Daseins das erst erzeugt, was seine Form annimmt; daß Kleider Leute machen, ist ein bis in die Elemente geltender Satz. (Musil 1925, 1148)

Damit revidiert Musil Mitte der 20er Jahre Extrempositionen seiner Werke, die selbst ausschließlich der ‚Sprengung’ verpflichtet waren; denn es „kommt bei einem Entrückungsvorgang, wie ihn das Erlebnis der Kunst darstellt, der Rückübersetzung, der Berührungsfläche mit dem Normalzustand und dem Übergang in diesen mindestens das gleich Interesse zu wie dem aktuellen Erlebnis selbst.“ (ebd., 1151) Radikale Exponenten einer solchen Kultur der Entrückung machen ihm jetzt nur mehr „den Eindruck geschwächter Opiatiker, alter Trinker, die nüchtern überhaupt keine Halt haben“ (ebd., 1147).

3. Film(o)-Graphie: Balázs oder „Der unzufriedene Autor“

Die Anzahl der Filme, die im deutschsprachigen Raum in den 1920er Jahren produziert wurden, ist gewaltig; die der ebenfalls aufgeführten Produktionen etwa aus Hollywood, Frankreich und Sowjetrussland enorm. Prokop zitiert aus den zeitgenössischen Quellen, dass die deutsche Jahresproduktion 1924 einen Hochstand von 560 Filmen erreicht habe, und errechnet ein Überangebot von 90%, das erst am Ende des Jahrzehnts auf ein zuträgliches Maß zurückgeht (Prokop 1972, 78). Während Balázs sich schon für den Kunstcharakter des Films stark macht, wird er in dieser Phase mehrheitlich noch als eine Ware betrachtet, die nach ihrer ökonomischen Auswertung ohne Belang ist. Von einer systematischen Sammlung und Konservierung der Bestände kann deshalb vor den Gründungen der Cinémathèque française oder von Filmarchiv und Filmbibliothek des New Yorker Museum of Modern Art seit 1935 nicht gesprochen werden. Letztere wurde von einem Vortrag des emigrierten deutschen Kunsthistorikers Erwin Panofsky zu Style and Medium in the Motion Pictures (On Movies, in: Bulletin of the Department of Art and Archaeology of Princeton (June 1936): 5–15) unterstützt. Seine Ideen zur volkstümlichen und einzigen noch lebendigen Kunstform konvergieren mit denen von Balázs.

            Es konnte unter diesen Bedingungen nicht ausbleiben, dass zahlreiche Produktionen aus der Frühzeit des Films verloren sind. Dazu gehört auch Balázs‘ bedeutendste filmdramaturgische Leistung: K 13 513. Die Abenteuer eines Zehnmarkscheines. Die ersten zwei Jahre nach seinem Wechsel von Wien nach Berlin stehen im Zeichen des Versuches, in der bedeutendsten europäischen Filmmetropole als Drehbuchautor Fuß zu fassen. Balázs ist jetzt an sieben Filmprojekten maßgeblich beteiligt. Zwar war erschon während seiner Wiener Jahre für das Drehbuch von drei Spielfilmen unter der Regie von Hans Otto Löwenstein (1881-1931) verantwortlich (Kaiser Karl, Österreich 1921; Der Unbekannte aus Rußland, Österreich 1922; Moderne Ehen, Deutschland 1924), doch paradoxerweise gelang es ihm erst mit dem Sichtbaren Menschen, seinen Ruf als Autorität auch in Praxisfragen zu festigen. Das führte zur Einladung in den Klub der Kameraleute, wo Balázs am 9. Juni 1926 seinen umstrittenen Vortrag „Filmtradition und Filmzukunft“ gehalten hat.

            Der wahrscheinlich innovativste Kameramann der Zeit, Karl Freund, erweitert in diesem Moment gerade sein Aufgabengebiet und wird jetzt auch Produzent. Seit 1926 ist er der verantwortliche künstlerische Leiter der Firma Fox-Europa, die für eines der fünf großen Hollywoodstudios, die Fox Film Corporation, in Deutschland Kontingentfilme herstellt wie die Prometheus für ihre sowjetischen Importe. Geld, das im Zuge dieser Quotenfilme aus Hollywood nach Deutschland kommt, wird von europäischen Tochterfirmen verwaltet. Freund gelingt es dadurch, auch Filmexperimente zu finanzieren, den Amerikanern im Gegenzug, ihn schließlich abzuwerben und nach Hollywood zu locken. Dort arbeitet er auch als Regisseur und gewinnt 1937 einen Oscar mit der Verfilmung von The Good Earth nach der Vorlage der Literaturnobelpreisträgerin Pearl S. Buck. Unter Freunds Leitung produziert die Fox-Europa 1927 auch Walter Ruttmanns Berlin, Sinfonie einer Großstadt. Ihr erster Film ist aber K 13 513. Die Abenteuer eines Zehnmarkscheines (UA 28. Oktober 1926) unter der Regie von Berthold Viertel (1885-1953) nach einer Idee und dem Drehbuch von Balázs. Von diesem in der zeitgenössischen Filmkritik aufmerksam besprochenen Werk haben neben dem Filmplakat in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Uni Köln nur zwei Szenen aus Balázs‘ ursprünglichem Drehbuch überdauert.

Häufige Praxis der Zeit, vor allem der Film-Fachzeitschriften, war der Abdruck von Auszügen vorbildlicher Drehbücher. Dem verdankt sich diese Überlieferung in der Morgenausgabe des Berliner Tageblatts Nr. 489 vom Samstag, 16. Oktober 1926, 1. Beiblatt. Unter der Überschrift „Revolutioniert das Drehbuch!“ ist eine ganze Zeitungsseite dem Thema gewidmet. Eröffnet wird die Seite mit einem Artikel des renommierten Karl Freund: „Wir brechen mit der Tradition!“. Darunter sind drei Drehbuchauszüge abgedruckt, wobei Balázs‘ Status sich daraus ablesen lässt, dass seine Arbeit hier in einer Reihe mit den beiden führenden Filmdramaturgen steht: Thea von Harbou, verantwortlich für die Romanvorlagen der Filme ihres Gatten Fritz Lang und hier repräsentiert mit dem Übergang vom Vorspann und Filmtitel ins erste Bild von Metropolis. Und Carl Mayer, Autor von Das Cabinet des Dr. Caligari (1919) und hier vertreten mit einer Szene aus Sonnenaufgang nach Hermann Sudermanns Erzählung Die Reise nach Tilsit – ein Drehbuch, das F. W. Murnau erst 1927 nach seinem Wechsel ebenfalls zur Fox Film Corporation als Sunrise – A song of two humans erfolgreich umsetzen wird.

Weil die „zwei Filmbilder im Wort“ anders als die beiden anderen Drehbuchauszüge keinem konkreten Film zugeordnet sind, kann geschlossen werden, dass sie in die filmische Umsetzung keine Eingang gefunden haben.

Siegfried Kracauer bespricht den Film im 15. Kapitel seines Buches Von Caligari zu Hitler unter der Überschrift „Montage“ (Caligari 191). Man kann Balázs‘ Arbeit insofern auch als praktische Antwort in der Kontroverse mit Eisenstein um den Filmschnitt verstehen, die im Juli und August desselben Jahrs in der Sowjetischen Zeitschrift Kino ausgetragen worden war. Wie wenig Kracauers Kritik, die sich auf seine ursprüngliche Besprechung des Films für die Frankfurter Zeitung (5.12.1926) stützt, in der noch vom „Manuskript des begabten Ungarn Béla Balázs“ die Rede war, dessen Drehbuch gerecht wird, geht aus einem Beitrag von Rudolf Schwarzkopf, dem Vorsitzenden des Volksfilmverbandes, in dessen Zeitschrift Film und Volk (Heft 2, 1928, 11-12) hervor: „Es zeigte das Wesen, also den Fluch des Geldes in der kapitalistischen Wirtschaft. Zeigte, wie das Geld das Verhältnis von Mensch zu Mensch zerstört; wie es alle guten und reinen Beziehungen vergiftet und verdirbt.“ Und wie ein direkter Dialog mit Sergej Eisenstein, dessen erster Spielfilm Стачка (Streik) 1925 Premiere hatte, liest sich dann diese Passage:

Bilder von schwerer körperlicher Arbeit standen am Anfang, ein Streik am Ende. Kein einziges Bild war da, das nicht organisch mit dem Lebenslauf des Helden zusammenhing, zu dem der Dichter den unscheinbaren Zehnmarkschein erhoben hatte. Ohne Konzessionen, ohne Happy-End, ohne all den Firlefanz des ‚Geschäfts‘-Films. Schlußapotheose (im Manuskript): rebellierende Arbeiter zerstampfen die verfluchte Banknote (zit. nach Gersch 1984, 20f.)

Ob damit Kracauers grundsätzlicher Einwand gegen die gegenüber dem Drehbuch veränderte Filmfassung entkräftet worden wäre, darf dennoch bezweifelt werden: den „sozialen Filmen, die heute Mode geworden sind [,] liegt die Tendenz zugrunde, das soziale Gewissen im Interesse eines traurigen Einzelschicksals mobil zu machen, damit es angesichts der grundsätzlichen Ungerechtigkeiten umso getroster weiterschlafen kann“.

Interesse verdient der Film darüber hinaus auch, weil sich an ihm zeigt, wie bestimmte Motive in der Zeit zirkulieren: Mit seinem Liebespaar, das „schließlich eine der Lauben, die rund um Berlin aus dem Boden schossen“ (Caligari 191f.) erreicht, entwickelt Balázs ein Motiv, das weit verbreitet ist und um dessen Deutung gerungen wird. Es tritt auf sowohl in Hans Falladas Erfolgsroman Kleiner Mann – was nun? (in der Vossischen Zeitung von Mittwoch, 20. April 1932 – Freitag, 10. Juni 1932), verfilmt 1933, wie auch in Brechts und Slatan Dudows Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (nach der Arbeiter-Zeltkolonie „Kuhle Wampe“ am Müggelsee) für Münzenbergs Prometheus-Film (UA: Moskau 14. Mai 1932, Berlin 30. Mai 1932, mehrfach zensiert, am 23. 3. 1933 endgültig verboten).

            1927 liefert Balázs sein viertes Berliner Drehbuch für den Spielfilm Grand Hotel…! in der Regie von Johannes Guter (UA 5. 9. 1927). Dieser Film knüpft an die Episodenstruktur der Abenteuer eines Zehnmarkscheins an, die Balázs selbst als filmspezifische Querschnitt-Struktur im Gegensatz zum literaturspezifischen Längsschnitt entlang eines Lebenslaufes in einem Begleittext mit dem Titel „Vorstoß in eine neue Dimension“ in der Literarischen Welt vom 5. November 1926 beschrieben hatte (vgl. Schriften II, 213): Diesmal ist es jedoch der Schmuck einer spanischen Dame, der gestohlen wird und von Hand zu Hand geht. Schauplatz ist das Grand Hotel Boulevard und das simultane Nebeneinander, das es ermöglicht. „Bilder und Szenenausschnitte sind nicht mehr spielerische Illustrationen eines konstruierten, gleichgültigen Einzelschicksals, sondern ins Typische gesteigertes, expressionistisch vertieftes, von der Lupe überraschtes Leben!“, wie Friedrich Dammann in der Lichtbild-Bühne (Nr. 213, 6.9.1927) ganz im Sinne von Balázs konstatiert. Doch Siegfried Kracauer geht auch anlässlich dieser UfA-Produktion vor allem mit Balázs hart ins Gericht: „Dem Manuskript ist anzumerken, daß sein Autor etwas von der Theorie des Films versteht, aber eben so sehr versteht er sich freilich auch auf Kompromisse.“ (Grand Hotel …! In: Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 24. 6.1928). Mit ihrem sozialen Nebeneinander und ihrer melodramatischen Liebesgeschichte darf die Geschichte, die Balázs erzählt, als Vorlage, zumindest als Inspiration für Vicki Baums ungleich erfolgreicheren Roman Menschen im Hotel gelten, der zuerst in der mehr als eine Million mal verkauften Berliner Illustrirten Zeitung des Ullstein-Verlages abgedruckt und dann von Hollywood unter Balázs‘ Titel Grand Hotel erfolgreich mit Greta Garbo und Joan Crawford verfilmt wurde – Oscar für den besten Film 1932.

            Obwohl Balázs als Erfinder des Querschnitt-Films gelten kann, geht er mit seinen Nachahmern, etwa auch mit Ruttmanns Berlin, Sinfonie einer Großstadt, äußerst kritisch um. In seinem Artikel „Sachlichkeit und Sozialismus“ in Die Weltbühne (Jg. 24 (1928), Nr. 51, S. 917) wendet er Kracauers Kritik an dem Film Abenteuern eines Zehnmarkscheins auf die gesamte Strömung der Neuen Sachlichkeit an: Ganz in der Logik seines Drehbuchs zu den Abenteuern beklagt er an deren Filmformen, dass sie bloß einem assoziativen Montageprinzip gehorchen und abstrakten ästhetischen Prinzipien bei der Darstellung urbaner Räume folgen, ohne die sozialen Antagonismen aufzudecken, die sich hinter diesen Oberflächen verbergen. Die kommentarlose Abbildung der Wirklichkeit interpretiert Balázs als Einverständnis mit den kapitalistischen Verhältnissen, die diese Wirklichkeit erst hervorbringen.

            Als dieser Artikel zum Jahresende 1928 erscheint, hat Balázs nach weiteren Drehbüchern für Madame wünscht keine Kinder (Regie Alexander Korda, D 1926) und Das Mädchen mit den fünf Nullen (Kurt Bernhardt, D 1927) schon mit der Film-Industrie gebrochen. Grund waren die Erfahrungen anlässlich der Mitarbeit am Drehbuch zu Doña Juana nach Tirso de Molina, der ersten Produktion der Poetic-Film von Paul Czinner, der für seine Frau Elisabeth Bergner eine Paraderolle wollte. Auch hier ist Karl Freund wieder unter den Kameraleuten. Balázs hatte sich im Anschluss an die Produktion in der Filmbeilage der BZ am Mittag vom 7. Februar 1928 öffentlich von bestimmten Praktiken der Regie und der Produktionsfirma (hinter der Poetic-Film steht der europäische Marktführer UFA) distanziert: „Jeder Filmautor, der sein Handwerk noch für eine Art Kunst hält, wird sich dagegen auflehnen müssen, daß wesentliche Änderungen an seinem Manuskript etwa ohne sein Wissen und ohne seine Zustimmung vorgenommen werden und er das Resultat dann doch mit seinem Namen decken soll, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, ihn rechtzeitig zurückzuziehen.“ (Schriften II, 227) „Der unzufriedene Autor“, so der vielsagende Titel von Balázs’ Artikel in der BZ, beschreibt präzise die Gefühlslage eines ambitionierten Literaten und Filmtheoretikers in der Rolle eines abhängigen „Medien-Arbeiters“ (Segeberg 2003, 5 passim). Dem Artikel war am 24. Januar 1928 im Film-Kurier (Heft 21) die Meldung vorangegangen: „Dr. Balázs legt Wert auf die Feststellung, daß seine Mitarbeit an dem heute zur Uraufführung gelangenden Poetic-Film Dona Juana sich lediglich auf die Vorarbeiten zum Manuskript beschränkt hat“. Nach diesem Ausfall gegen die Filmindustrie ist Balázs als Drehbuchautor vorerst unmöglich geworden.

4. „Dieser Mann kann nur Falsches vorbringen“: „Ballazs“ versus Benjamin

Von „Ende 1929“ datiert eine kurze, aber nichtsdestotrotz aufschlussreiche Gesprächsnotiz von Walter Benjamin. Aufschluss gibt die launige, aufs Anekdotische gestimmte Notiz nämlich über die (Un-)Sichtbarkeit der Arbeit und damit Existenz des durchaus prekären Intellektuellen in der Konkurrenz mit seinesgleichen, wie sie auch die vorangehenden Kapitelüberschriften andeuten sollten und wie sie seit dem Sonntagskreis und dem Verhältnis zu György Lukács bestehen. Karl Mannheim hat sein Schlagwort von der „sozial weitgehend freischwebenden Schicht“ der Intellektuellen (vgl. Kaes 1983, 631ff) auf eine Interesselosigkeit in der Sache bezogen; aber natürlich hat sie auch eine nicht weniger wichtige ökonomische Komponente, die die Kreativen zur beständigen Produktion und gegenseitigen Überbietung zwingt, weil ihre berufliche Integration allzu locker und ihre Auftragslage deshalb von der Reputation abhängig ist, die sie als Vordenker genießen. Darüber hinaus macht die Notiz greifbar, wie die Ideenzirkulation und -akkumulation in der Intellektuellenkultur der Weimarer Republik funktioniert, wie stark sie auf persönlichen Netzwerken und den hier und da veröffentlichten elementaren Ideen und Argumenten beruht. Die Mitglieder der peer group von maßgeblichen Multiplikatoren beobachten einander ebenso neugierig wie eifersüchtig. Die Übernahme von Gedanken – die Zirkulation von Motiven aus Balázs‘ Drehbüchern sollte das oben andeuten – ist dabei ebenso wichtig wie die öffentlich ausgetragene Kontroverse.

            Aus seinem „Verzeichnis der gelesenen Schriften“ wissen wir, dass Benjamin dort unter der Nummer 1026 auch die zweite Auflage von Balázs‘ Sichtbaren Menschen (Halle 1926) eingetragen hatte (Benjamin GS VII.1, 458). Wieviel er darüber hinaus von den in der einschlägigen Presse veröffentlichten Kritiken Balázs‘ wahrgenommen hat, lässt sich nicht mehr sagen. Nur wo ein öffentlicher Schlagabtausch stattfindet, sind die Spuren eines Ideentransfers in der Regel rekonstruierbar. Im Falle der Gesprächsnotiz, die im Walter Benjamin-Archiv überliefert ist, kann man ausnahmsweise einmal hinter die Kulissen der Konkurrenzverhältnisse blicken. Benjamin gibt bereitwillig Auskunft über seine „Taktik in solchen Fällen“, und es werden dabei auch die erotischen Energien deutlich, die in der intellektuellen Auseinandersetzung sublimiert sind: „Entweder Widerspruch um jeden Preis. […] Oder die Meinungen eines solchen Mannes, falls sie richtig sind, ihm entführen, ihm ausspannen wie eine Geliebte. So begann es.“ (Benjamin 1929, 418)

            Geht es in der Notiz um Benjamins „völlig undurchsichtige, ihn mir zu eigen machende[.] Verhüllung: Fremdwörter sind kleine linguistische Grabkammern“ (ebd.), so wird an anderen Stellen deutlich, wie weitaus innovativere Überlegungen von Balázs auch im intellektuellen Kosmos von Benjamin und Brecht eine Rolle spielen, ohne dass ihre Übernahme ebenfalls in einer Notiz vermerkt worden wäre. So ist Balázs‘ Filmtheorie im Sichtbaren Menschen mindestens ebenso sehr eine Kamera- oder Apparatetheorie wie sie eine „Schauspielertheorie“ (vgl. Diederichs 1982) des Films ist. Vor Benjamin und seinem explizit in dieser Hinsicht genannten Gewährsmann Brecht ist es also Balázs, der seine Geschichte der visuellen Kultur als eine der Maschinen und Apparate konzipiert, denn an den entscheidenden Wendepunkten geben die Apparate den Impuls, und die Epochen bekommen bei Balázs ihre Namen nach dem jeweiligen technischen Leitfossil. Wenn Benjamin in seiner 1931 in der Literarischen Welt veröffentlichten Kleinen Geschichte der Photographie feststellt: „Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus.“ (Benjamin 1931, 384) Ausdrücklich schließt er hierbei an Brechts Diagnose aus dessen Schrift Der Dreigroschenprozeß von 1931 an: „Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht./ […] Es ist also tatsächlich, ‚etwas aufzubauen‘, etwas ‚Künstliches‘, ‚Gestelltes‘. Es ist ebenso tatsächlich Kunst nötig“ (Casparius 403f.) Diese Kritik am Abbildrealismus deckt sich mit Balázs‘ Aufsatz zu „Sachlichkeit und Sozialismus“, während sie in ihrer Montage-Theorie, die auf etwas Gestelltes hinauswill, dem Balázs-Kritiker Eisenstein folgt.

5. „Muse ist der Apparat“ oder Der Geist des Films

Die Durchsetzung des Films erfolgte erst, als er sich nach einer Frühphase des „Kinos der Attraktionen“ (Gunning 1986) mit literarischen Vorbildern zum erzählenden Film verband, der in Kinos stationär wurde (vgl. Müller 1994). Als kulturell signifikante Erscheinung akzeptiert wurde der Film erst mit dem Beginn der theoretischen Rede über seine Bewegungsbilder und die Gesetze ihrer Wahrnehmung, an deren Anfang mit Hugo Münsterberg ein später Vertreter der empirischen Psychologie steht. Aus dieser Schule der Wahrnehmung geht auch ein bedeutender Teil der frühen deutschen Theorien des Films hervor, so dass er zumeist eher in der Form eines Beleges für Wahrnehmungstheorien fungiert und nicht schon als die komplexe eigenständige Kunstform erschlossen werden kann, als die er sich in Gestalt des abendfüllenden Langfilms seit den 1910er Jahren entwickelt (vgl. Müller/Segeberg 1998). Weit in die 1920er und 30er Jahre hinein wird so kontrafaktisch der Langfilm in einzelne Einstellungen, Bilder und gleichsam serienphotographische Sequenzen zerlegt und als rein visuelle Technik verhandelt. Er wird dabei dem genauen Sehen und Betrachten der nebeneinander im Raum sich anschaulich darstellenden Körper unterstellt. Daraus resultiert in den deutschen Debatten die Sensibilität für die Verhältnisse von Licht und Schatten, für die Tiefenschärfe, die sie den ambitionierten Filmen, eines Fritz Lang etwa, ebenso entnimmt wie nachdrücklich anempfiehlt.

Als Kunstform akzeptiert wurde der Film schließlich erst, als unter dem Etikett einer Ästhetik des Films der Anschluss an den Kunstdiskurs vollzogen und anthropologische sowie soziale Implikationen erkannt wurden. Diese Umstellung von Wahrnehmungspsychologie auf Ästhetik vollzieht mit einem gewissen systematischen Anspruch zuerst Balázs’ Sichtbarer Mensch. Diese Sichtweise bindet sich an eine gerade erst in den 1920er Jahren in großem Umfang eigenständige Verfahren ausprägende Kunst des stummen Films. Dabei ragen zwei Momente heraus: Zum einen die Arbeit der selbst frei im Raum bewegten, ja entfesselten Kamera, maßgeblich entwickelt von Kameramännern wie Karl Freund etwa in Friedrich Wilhelm Murnaus Der letzte Mann (Deutschland 1924). Und zum anderen die Montage am Schneidetisch, die Sergej Eisensteins Bronenossez „Potjomkin“ (Panzerkreuzer Potemkin, UdSSR 1925) perfektioniert und womit er europaweit die schreibenden Betrachter beeindruckt. Diese beiden Aspekte komplettierten jedoch nur ein Ensemble etablierter eigenständiger Verfahren, von denen wiederum die Groß- und Detailaufnahmen die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, weil sie technisch ein Zeigen ermöglichten, das etwa das konkurrierende Theater so nicht leisten konnte. Es handelt sich um die Wiederkehr des für das individuelle subjektive Sehen so bezeichnenden Nah- und Tastraums im technischen Medium, das mit der bewegten Kamera auch zu einer neuartigen Simulation des stereoskopischen Sehens gelangt, indem sie ihr Objekt umkreist.

Diejenigen, die auf der Grundlage seiner eigentümlichen ästhetischen Verfahren den Stummfilm zur Kunst erheben, wenden sich überwiegend skeptisch gegen den ebenfalls Mitte der 1920er Jahre sich durchsetzenden Tonfilm. Er wird als Rückfall hinter die Phase der Autonomwerdung des Films als sechster oder siebter Kunst verstanden, als Verarmung an formalen Mitteln, insbesondere jedoch als Agent eines neuerlichen hegemonialen Ausgreifens der Sprache: als „Sprechfilm“ ganz im Sinne der Sprachskepsis der Jahrhundertwende. Was die einen zu seinen Gunsten als Verbesserung des Illusionismus der Aufzeichnung werten, ist den anderen geradezu Dokument einer Einbuße an Kunstfertigkeit und formaler Beherrschung der Technik. Der Sprechfilm steht ihnen für die Wiederkehr der realistisch-historischen Ästhetik des Nacheinanders und ihrer Restriktionen. Und mit der visuellen Kultur sehen sie eben nicht nur den Film, sondern alle Hoffnungen auf den modernen Menschen und auf soziale Reformen gefährdet, für die sie ihnen stand. Auf diese Situation um 1930 reagiert auch Balázs, indem er seine Filmtheorie ergänzt und adaptiert.

Die Entstehungsgeschichte und die formale Gestaltung von Balázs‘ zweitem Film-Buch Der Geist des Films (wieder bei Knapp in Halle) von 1930 ähnelt dabei dem des ersten durchgängig. An die Stelle der etwa 200 Filmkritiken, aus denen der Sichtbare Mensch geschöpft ist, sind es jetzt die mehr theoretischen Auseinandersetzungen, die Balázs seit seinem Wechsel nach Berlin 1926 geführt hat. Und es sind die zwei Jahre intensiver Arbeit als Drehbuchautor im Herzen der Berliner Filmindustrie. Namentlich zwei neue und einschneidende Erfahrungen versucht das Buch zu verarbeiten, die sowohl Balázs‘ ersten theoretischen Entwurf als auch die zeitgenössische Filmproduktion selbst herausgefordert haben: Zum einen trägt das Buch die Spuren der Auseinandersetzung mit der radikalen Montageästhetik des Sowjetfilms von Eisenstein und Pudowkin, den Balázs wiederum als Praktiker im Detail kennt, weil er für die Prometheus-Film deren deutsche Titelfassungen verantwortet hat. Der Montage widmet er mehrere Kapitel und differenziert ihre verschiedenen Varianten an entsprechenden Beispielen. Zum anderen arbeitet sich Balázs jetzt an der Erfahrung des heraufkommenden Tonfilms ab, den er seit dem Bekanntwerden des Tri-Ergon-Verfahrens mit äußerster Skepsis begleitet hat. Ein erster Artikel gegen den Tonfilm datiert schon vom Jahr 1923. Im 5. Mai schreibt er dazu im Tag: „Was wohl der Film sagen wird, wenn er zum erstenmal zu sprechen anfängt. Wir meinen, er wird ‚Pfui!‘ sagen. ‚Pfui, über euch, daß ihr meinen reinen Stil der stummen Visualität genommen habt und eine dekadente Mischform aus mir machtet, bevor ich mich zur richtigen Reife entwickeln konnte‘.“ (Diederichs 1982, 35)

            An den Grundannahmen von Balázs‘ Film-Konzept aus dem Sichtbaren Menschen ändert sich wenig. Er fügt nur den Ton hinzu und entfaltet ihn wie zuvor das Bild. Der apparativ aufgezeichnete Ton muss für ihn eine eigenständige Leistung erbringen, die nicht darin aufgehen darf, Trägermedium für die Sprache zu sein. Somit genießt der unerhörte Ton und das Geräusch wie das Sichtbarwerden der uneinsehbaren Seele bei ihm den Vorrang vor der Sprache. Der Sprechfilm hat bei ihm nur ein Eigenrecht, wenn der Akzent dabei auf dem Sprechen zu liegen kommt, d.h. diejenigen Saiten im Timbre der Stimme zum Klingen bringt, die nicht dem Sprachsystem der Schrift, des Begriffs, des Dramendialogs zugehören, sondern in denen sich neben der wörtlichen Bedeutung die Seele des Sprechenden hörbar macht.

            Im Rahmen seines Konzepts erwartet Balázs selbstverständlich, dass der stumme Film parallel zum Tonfilm sich erhalten und fortentwickeln wird. Und im Rahmen seines Konzepts kann die Tonmontage als intellektuelle Konfliktmontage genau wie der Filmschnitt keine zentrale Rolle spielen. Denn dass der Schnitt eine eigenständige Qualität des Films hervortreiben kann, die weder in den dargestellten Gegenständen vor der Kamera noch in der Arbeit eines Mannes hinter der Kamera aufgeht, ist für Balázs undenkbar. Denn die bewusste und rationale Montage, deren Ziel das Herausarbeiten von latenten ideologischen Gegensätzen und gesellschaftlichen Konflikten ist, so dass sie intellektuell durchschaut werden können, widerspricht seinem Bestreben, die unsichtbaren Regungen der Seele, die vom Geist, Wort und Begriff verdeckt und verdrängt worden sind, an den unbewussten Bewegungen und Regungen des Körpers in der Großaufnahme sichtbar zu machen. Hier liegt wohl die grundlegende Differenz zu Brecht, dem Verfremdung dazu dient, Erkenntnis zu produzieren, während das fremde neue Sehen, das die Film-Kamera und die Projektion auf der Leinwand ermöglicht, für Balázs den Blick hinter oder unter die erstarrten Formen der Kultur freigibt. Diese Differenz ist eine grundsätzliche und unaufhebbare. Sie trennt die Zeit von Balázs‘ erster Sozialisation und des ’sichtbaren und ganzen Menschen‘ von derjenigen nach 1925.

6. „Literat geringeren Ranges“ versus Brecht

Aus Balázs‘ Abrechnung mit der Neuen Sachlichkeit in der Weltbühne werden die grundsätzlichen Differenzen deutlich, die ihn schon von Eisenstein getrennt hatten und ihn jetzt auch mit Unverständnis auf Brecht reagieren lassen. Balázs‘ Kritik richtet sich gegen die „Werkzeugzivilisation“ und macht dagegen einen verlorenen naturhaften ganzen Menschen geltend. Diesen wieder ins Recht zu setzen, bedarf es zwar des Apparates, der Technologie des Kinematographen, aber der wird zum wirksamen Instrument erst in der Hand des Kameramannes.

            Für Brecht wie vor ihm Eisenstein ist es die „Werkzeugzivilisation“ selbst, die unhintergehbarer Stand der künstlerischen Arbeit sein muss. Sie wird bejaht und die künstlerische Arbeit treibt ihre Tendenzen sogar voran: die Zerlegung und Atomisierung vermeintlicher Ganzheiten, um die Elemente durch die intellektuelle Montage subversiv gegeneinander auszuspielen. Ihnen geht es nicht um die Wiedergewinnung der unterdrückten Seele des ganzen Menschen, ihnen geht es um die Durchsetzung der materiellen Interessen eines ausgebeutet hungernden Proletariats im Klassenkampf. Brecht baut seine bewusste Inszenierung eines Konflikts mit der Filmindustrie in diesem Sinne zu einem Lehrstück aus: Angesichts der Verfilmung der äußerst erfolgreich mit Kurt Weill erarbeiteten Dreigroschenoper versuchen Autor und Komponist ihre Urheberrechte gegen die Filmindustrie durchzusetzen. In dem Streit, der vor Gericht geht, soll die Erkenntnis vermitteln, dass unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise prinzipiell der Produzent um sein (geistiges) Eigentum gebracht wird. Vor Gericht wird dem Produzenten zwar sein Recht, dieses geschriebene Recht steht aber im Dienste der Kapitalinteressen und nicht des Produzenten. Brecht will demonstrieren, dass ein Ausgleich jeglicher Grundlage entbehrt, weshalb die hohen Abfindungen, die der Komponist Kurt Weill und er erhalten, auch das ungetrübte Bild dieses Konflikts in der Öffentlichkeit stören.

            Balázs hatte in dem Kapitel „Weltanschauung“ (SM 100-104), das wie ein bloßes Addendum in seinem Sichtbaren Menschen wirkt, bevor die großen Porträts von Charlie Chaplin und Asta Nielsen den Band abschließen, zwar eingeräumt, dass der Film „als ein Produkt einer Großindustrie des Kapitalismus entstanden“ (SM 100) sei. Doch während dieser Großkapitalismus „abstrakt […], unsichtbar“ (SM 102) bleibt und damit der entmaterialisierten Abstraktheit der Worte und Begriffe sich verdankt wie später auch Brecht und Benjamin wiederholen, widerspricht das Wesen des Films mit seiner „Sehnsucht nach konkretem, unbegrifflichem, unmittelbarem Erleben der Dinge“ (SM 104) gleichsam per definitionem seinen Produktionsverhältnissen, ist er per se subversiv.

Balázs gerät in den Konflikt um die Verfilmung der Dreigroschenoper unter der Regie von G. W. Pabst für die Tobis Klangfilm, weil er spät als Co-Autor des Drehbuchs (abgedruckt in Casparius 1978, 275-360) hinzugezogen wurde, nachdem die ursprünglich vereinbarte Zusammenarbeit der Firma mit Brecht gescheitert war. Als solcher steht Balázs auch neben Leo Lania und Ladislaus Vajda auch auf dem Filmplakat (einsehbar bei filmportal.de) vermerkt.

Brecht wollte dem Drehbuch gegenüber dem Theaterstück, das einer allzu kulinarischen Rezeption und einer Vereinnahmung durch die Unterhaltungsindustrie Vorschub geleistet hatte, die seine Songs als Schlager auf einer Vielzahl von Platten auswerten konnte, eine schärfere kommunistische Wendung geben. Die Tobis wollte dagegen die erfolgreiche Produktion aus dem Berliner Theater am Schiffbauerdamm möglichst übernehmen, so dass sie gleichsam die Interessen des Brecht von 1928 gegen seine geänderten Absichten von 1930 vertrat. Über diesem Konflikt gerät Pabsts Regieleistung aus dem Blick, die bei der heutigen Rezeption zumeist im Mittelpunkt steht.

            Weill und Brecht wiederholen dabei Positionen, die Balázs auch seinem Zerwürfnis mit der Filmindustrie zwei Jahre zuvor zugrunde gelegt hatte. Herbert Ihering, einer der wichtigsten Theater- und Filmkritiker der Weimarer Republik beim Berliner Börsen-Courier, nimmt in diesem Streit Brechts Partei und attackiert Balázs am 2. Oktober 1930 wegen seines damaligen Rückzugs vom Poetic-Film Dona Juana und unterscheidet ihn dabei als „nachträglichen Protestler“ im Unterschied zu Brecht, der sich schon vorab gegen die Verfilmung überhaupt zur Wehr setzt, und bezeichnet ihn als „sogenannter linker Literat und Filmrevolutionär“ (Casparius, 200). Vertieft wird der Streit, der sich vor persönlichen Invektiven und Unterstellungen nicht scheut, in einer Artikelfolge der Weltbühne zwischen dem 10. Februar und dem 3. März 1931. Brecht kommt in seiner Schrift Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment ebenfalls ausdrücklich auf Balázs zu sprechen: „Zwei Literaten geringen Ranges, Bela Balazs und I. Vayda, haben sich bemüht, ‚den Stil zu wahren‘, und der Richter entscheidet, ohne den Film zu sehen, intuitiv, daß es den beiden gelungen sei, die Schreibweise des Verfassers nachzuahmen, also mit verstellter Handschrift zu schreiben. Der Richter selbst erklärte die Fälschung für gelungen!“ (Casparius 1978, 418) Brecht und seine Parteigänger geben von ihrem erklärten Klassenstandpunkt aus endgültig Preis, was Balázs im Sichtbaren Menschen noch für die kollektive Produktionsweise und gegen die kapitalistische Filmindustrie ins Feld geführt hatte: die subversive Kraft der Filmbilder. Die radikale Linke verabschiedet damit Balázs‘ Verknüpfung von Volk und Leben/Seele, von Märchen und Marxismus. Er tut das offensichtlich nicht.

7. „der Jude Béla Balázs“ versus Leni Riefenstahl

Selten sind Fotodokumente, die den Drehbuchautor Balázs auch am Filmset und so zumindest am Rande der Produktionspraxis zeigen. Eine Ausnahme bildet die im Tiroler Filmarchiv bewahrte Aufnahme des Standfotografen Walter Riml, das mit Harry Sokal einen der Finanziers, mit Franz Maldacea einen der Darsteller und eben den Filmdramaturgen Balázs, lebhaft gestikulierend und versonnen lächelnd ins Gespräch vertieft, abbildet (abrufbar hier).

Als Co-Autor des Drehbuchs ist er an Leni Riefenstahls erster eigenständiger Regiearbeit Das Blaue Licht (UA 24. 3. 1932) beteiligt. Riefenstahl war wie Luis Trenker Hauptdarsteller und Schüler des Bergfilmpioniers Dr. Arnold Fanck. Für Fanck hatte Balázs bereits kurz vorher Partei ergriffen. In seinem Vorwort „Der Fall Dr. Fanck“ zu dessen Filmbuch Stürme über dem Montblanc (Basel: Concordia 1931, V-X) nach dem gleichnamigen Film (UA 25. Dezember 1930) verteidigt er ganz im Sinne seiner eigenen Filmpoetik die erhabene Natur der Berge und Stürme als die eigentlichen Handlungsträger, die Figuren als „Stück aus dieser Natur“. Das können sie nur sein, weil sie „keine Berufsschauspieler, sondern Menschen aus dem Leben und aus der Natur“ (Schriften II, 288f.) sind. Für Balázs ist das „Fancksche Naturpathos“ dem „großartigen revolutionären Pathos der Russenfilme“ verwandt, während beide einer „bequemen Sachlichkeit, die keine Hingabe, kein Opfer, keinen Fanatismus verlangt“ (ebd.), gegenüber stehen. Auch Riefenstahls Projekt einer Berglegende ist zentralen Konzepten in Balázs‘ Denken nicht fremd: Denn es verbindet den utopischen Vorschein des Märchens mit dem Volk der pittoresken Laiendarsteller aus den ebenso malerischen Südtiroler Bergtälern, wobei die Geschichte von der gewinnorientierten Ausbeutung der blau leuchtenden Kristalle als Symbol der Ausbeutung des Menschen erscheinen kann.

            Wie weit das Blaue Licht Balázs‘ filmästhetische Programmatik aus dem Sichtbaren Menschen und dem Geist des Films einlöst, kann man aus Siegfried Kracauers partiellem Lob entnehmen, das an dieser Stelle selbst von Balázs informiert erscheint: „Großaufnahmen echter Bauern ziehen sich durch den ganzen Film; diese Gesichter ähneln Landschaften, die von der Natur selbst geformt sind, und in ihrer Wiedergabe gelingt der Kamera eine faszinierende Studie der Folklore von Gesichtern.“ (Kracauer 1947, 273) Großaufnahme, Physiognomie von Gesichtern und Landschaften, Kameraarbeit und Volk, das liest sich wie aus dem Schlagwortkatalog von Balázs selbst.

            Nach der von den Nazis sogenannten Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 bekennt sich Riefenstahl sehr schnell zum neuen Regime und seinen Machthabern. Als Künstlerin und Regisseurin umworben, findet sie auch Freunde wie den Gauleiter Julius Streicher. Dem bekannten Antisemiten und Herausgeber der schon am 20. April 1923 von ihm in Nürnberg gegründeten antisemitischen Wochenzeitung Der Stürmer erteilt sie am 11. Dezember 1933 dann als ihrem Rechtsvertreter Vollmacht, Geldforderungen „des Juden Bèlà Bàlazs [sic!]“ aus seiner Mitarbeit am Blauen Licht zurückzuweisen. Balázs war im Januar 1933 aus Moskau nach Berlin gekommen, um sein Honorar zu erhalten, musste aber unverrichteter Dinge wieder abreisen und Ende 1933 seine Forderungen einklagen. Lutz Kinkels Riefenstahl-Biografie enthält ein Faksimile dieses handschriftlichen Briefes auf dem Papier des Berliner Hotels Kaiserhof (Kinkel 2002, 43).


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