„Was soll der Proletarier lesen?“

Literaturpolitische Kontroversen und Konzepte in den Anfangsjahren der Weimarer Republik 

Von Walter Fähnders

Inhaltsverzeichnis

  1. Konstellationen zu Beginn der Weimarer Republik
  2. Die Kunstlump-Debatte (1920)
  3. Auseinandersetzungen über proletarisches Theater 1920/21
  4. Kommunistische und linkskommunistische Literaturkritik
  5. Max Herrmann-Neiße: Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat (1922)

1. Konstellationen zu Beginn der Weimarer Republik

Zu Beginn der Weimarer Republik gab es im kulturell-literarischen Feld eine Fülle von Experimenten und Neuansätzen, die von radikalen Suchbewegungen bei der Neubestimmung von Literatur und Kunst, aber auch des Künstlers und des Literaturproduzenten, zeugen. Gerade vor der historischen Folie des Krieges, der traditionelle Wertvorstellungen diskreditiert hatte, und ihre Repräsentanten gleich mit, und auch im Kontext des Aufbruchs der Avantgarde und ihrer Traditionskritik erschienen kulturelle Überlieferungen als schwer belastet, als nicht mehr akzeptabel und wurden auf den historischen Prüfstand gestellt. Das galt sowohl für Fragen des ‚bürgerlichen Erbes‘ als auch für Fragen einer neuen, revolutionär intendierten Literatur und ihrer Ästhetik. Dabei berührten sich politische und künstlerische Avantgarde, ein Kontakt, der in der späteren Weimarer Republik bekanntermaßen verloren ging und dem Parameter einer sehr engen Auffassung von ‚Realismus‘ wich.

Während in den Anfangsjahren der Weimarer Republik die junge KPD den eher kulturkonservativen Prämissen der Vorkriegssozialdemokratie anhing, bemühten sich Vertreter der davon sezessionierten linkskommunistischen Bewegung um Neubestimmungen von revolutionärer Literatur, Literaturkritik und Literaturtheorie. An letzterer arbeiteten auch Vertreter der politisierten ästhetischen Avantgarde mit: Die intellektuellen Kreise mit künstlerisch- avantgardistischem Hintergrund um Franz Pfemferts Die Aktion (Zeitschrift und Verlag) und um den Malik-Verlag mit ihren engen Kontakten zu avantgardistisch-linkskommunistisch Organisationen, also zu KAPD, AAUD und AAUE1, die ihrerseits für derartige Innovationen offen waren, waren Träger dieser Experimente (Linkskommunismus stets verstanden als Teil der umfassenderen Bewegung des Linksradikalismus, der aufgrund seiner antiautoritären, spontaneistischen, rätekommunistischen und zum Teil Russland-kritischen Programmatik in Opposition zum orthodoxen Kommunismus steht).

Insbesondere die einschlägigen programmatischen Texte, vor allem aber die zum Teil heftig und polemisch geführten Debatten im linken Lager lassen eine genauere Rekonstruktion unterschiedlicher und auch konträrer Ansätze in Sachen linker Traditionsbildung zu – es geht um den Gebrauchswert von Kunst und Literatur und dabei auch um den Entwurf eines ästhetischen Kanons. Dabei ist es wohl kein Zufall, dass dieses Thema zumeist im Zusammenhang aktueller politischer Vorgänge und häufig auch im organisatorischen Rahmen der kommunistischen bzw. revolutionären Organisationen angegangen wurde. Zu nennen sind vor allem die sog. Kunstlump-Debatte 1920 und die Auseinandersetzung über das Proletarische Theater 1920/21, hinzu kamen explizite Ausführungen zur Fragen der bürgerlichen und der proletarischen Kunst und Literatur insgesamt. Austragungsort waren Periodika der linken Intelligenz sowie der linken Parteien und Organisationen. 

2. Die Kunstlump-Debatte (1920)

Während der Niederschlagung des Kapp-Putsches kam es am 15. März 1920 in Dresden in der Nähe des Zwingers zu Schießereien, bei denen ein Gemälde von Rubens beschädigt wurde. Darauf hin veröffentlichte Oskar Kokoschka, seit 1919 Professor an der Akademie der bildenden Künste in Dresden, folgenden Aufruf:

„Ich richte an alle, die hier in Zukunft vorhaben, ihre politischen Theorien, gleichviel ob links-, rechts- oder mittelradikale, mit dem Schießprügel zu argumentieren, die flehentlichste Bitte, solche geplanten kriegerischen Übungen nicht mehr vor der Gemäldegalerie des Zwingers, sondern etwa auf den Schießplätzen der Heide abhalten zu wollen, wo menschliche Kultur nicht in Gefahr kommt.“2

Des Weiteren warnte Kokoschka vor einer „Beraubung des armen zukünftigen Volkes an seinen heiligsten Gütern“ und schlug vor, „wie in den klassischen Zeiten Fehden künftig durch Zweikämpfe der politischen Führer“ (S. 51) auszutragen.

Angesichts der Massenbewegung, die die Weimarer Republik gegen die aktuelle Bedrohung von Rechts erlebte – es war die größte, die sie je erleben wird –, schien ein derartiger Aufruf gleichermaßen deplatziert wie unangemessen. Kokoschka erntete dann auch eine Fülle öffentlicher Repliken, allen voran von George Grosz und John Heartfield, aber auch von anderen linken Intellektuellen – so von dem linksradikalen Maler Franz W. Seiwert mit dem sprechenden Titel: Das Loch in Rubens‘ Schinken3, vom Kunstkritiker Adolf Behne in der Freiheit, dem Organ der USPD (Nein, Kokoschka!4), vom „Aktionsausschuß der Düsseldorfer Aktivistenbundes.“5 Die Polemik von Grosz und Heartfield erschien unter dem Titel Der Kunstlump im von Karl Otten und Julian Gumperz, später von letzterem und Wieland Herzfelde (dem Leiter des Malik-Verlages) herausgegebenen Gegner und wurde umgehend in Franz Pfemferts Aktion nachgedruckt, sie erschien also in den für die linken Künstler und Literaten maßgeblichen und relativ weit verbreiteten Periodika. Dies war wohl auch der Grund, weshalb darauf die Rote Fahne, das Zentralorgan der an der Jahreswende 1918/19 gegründeten KPD, mit einem Artikel Herrn John Heartfield und George Grosz reagierte und damit ihrerseits Repliken provozierte. Die Kunstlump-Debatte war ihrem Ausmaß nach also durchaus eine über den Spezialistenkreis der Kunstinteressierten hinausreichende öffentliche Angelegenheit.

Heartfield und Grosz leisten in ihrer Polemik zweierlei: Sie attackieren das bürgerliche Kultur- und Kunstverständnis, und sie weisen auf den Warencharakter bürgerlicher Kunsterzeugnisse hin. 

Die Polemik beginnt mit einem Diktum, das Gemeingut insbesondere linksradikaler Theorie dieser Zeit ist – das Insistieren auf dem Klassencharakter und die besondere Relevanz von kulturell-künstlerischen Phänomenen, also wichtiger Bereiche des ‚Überbaus‘: 

„Die Bourgeoisie und das ihr mit Haut und Haaren verschriebene Kleinbürgertum hat sich gegen das aufbäumende Proletariat stets unter anderem auch mit ‚Kultur‘ gepanzert. Ein alter Schlachttrick des Bürgers! Im Rahmen dieser mit ihm in Schlamm und Dreck versinkenden Kultur steht die ‚Kunst‘ […] mit Goethes Faust im Tornister und den bösartigsten Dichterphrasen im Maul als Beruhigungspillen gab man sich stets das ‚ethische‘ Gleichgewicht‘, dessen man bedurfte im Kampf für Raub, Unterdrückung und rücksichtsloseste Ausbeutung des anderen bis aufs Hemd.“ (S. 47)

Kunst und Literatur werden ausschließlich als Ideologie gesehen und dabei ob ihrer Funktion zur Betäubung des Proletariats verworfen, wie eine Vielzahl von Beispielen aus der Kunstgeschichte verdeutlichen soll – alte sozialdemokratische Konzepte der Volksbildung eingeschlossen:

 „Arbeiter! Indem man in Gemälden irgend etwas darstellt, an das sich der Bürger noch klammern kann, das Euch Schönheit und Glück vorspiegelt, stärkt man ihn, sabotiert man Euer Klassenbewußtsein, Euren Willen zur Macht.
Indem man Euch auf die Kunst verweist und schreit: ‚Die Kunst dem Volke‘ will man Euch verführen an ein Gut zu glauben, das Ihr mit Eueren Peinigern gemeinsam besitzt und dem zu Liebe Ihr den berechtigsten Kampf, den die Welt je sah, einstellen sollt. […] 
Schwindel! Schwindel!
Gemeinster Betrug!!
Nein, die Kunst paßt in die Museen, um in Rundspaziergängen von Kleinbürgern auf Ferienreisen beglotzt zu werden, die Kunst paßt in die Paläste der Bluthunde, vor die Safes.“ (S. 50)

Das liest sich wie avantgardistische Bilderstürmerei nach Art der italienischen Futuristen, die ihren Kampf gegen die Museum und damit gegen den Passatismus schon in ihrem ersten Manifest vom 20. Februar 1909 proklamiert hatten – wird aber nun noch aufgeladen bzw. zu begründen versucht mit politischen, materialistischen Kriterien und Grundlegungen. Insofern reicht diese Kunstkritik über avantgardistische Traditionsfeindschaft und Kunstzerstörung hinaus, und es ist konsequent, wenn die zu dieser Zeit dem Berliner Dada noch verbundenen Grosz und Heartfield der futuristischen Kunst eine Abfuhr erteilen: „Was soll uns ein futuristisches Gemälde ‚Damenhut bewegt sich die Treppe abwärts‘ in einer butterarmen Zeit?!“ (S. 54) Dementsprechend verfallen auch „Professor Oskar Kokoschkas“ Werke dem Verdikt des Klassenkampfes – seine „schon sehr kaufkräftigen Zeichnungen und Gemälde“, namentlich „sein Bild: ‚Die Schauspielerin Margarete Kupfer mit ihrem Lieblingshund.‘“ (S. 48)

„Ja, was soll den Arbeitern die Kunst?“ (S. 49), wird also gefragt, und die Antwort ist rundum negativ – „Wir begrüßen mit Freude, daß die Kugeln in Galerien und Paläste, in die Meisterbilder der Rubens sausen, statt in die Häuser der Armen in den Arbeitervierteln!“ (S. 54) Ziel ist der „Kampf gegen die masochistische Ehrfurcht vor historischen Werten, gegen Kultur und Kunst!“. (S. 54) Und als Perspektive für die Kunst wird am Schluss formuliert: „Von Euch, Arbeiter, wissen wir, daß Ihr Eure Arbeiterkultur ganz allein schaffen werdet, ebenso wie Ihr Eure Klassenkampforganisationen aus eigener Kraft geschaffen habt.“ (S. 54) 

Überlegungen zu einer neuen proletarischen Kunst bzw. Kunst des Proletariats werden also ebenso wenig weiter ausgeführt wie es Hinweise auf positive Kunstbeispiele, einen positiven Kanon, gäbe – Stoßrichtung sind Demontage und Entzauberung von Kunst und Künstlertum in ihrem bürgerlich-kapitalistischen Gewande. Daß dabei nicht unbedingt, jedenfalls nicht immer, marxistischer Boden betreten wurde, macht folgende Äußerung deutlich: „Der Begriff Kunst und Künstler ist eine Erfindung des Bürgers und ihre Stellung im Staat kann nur auf Seiten der Herrschenden, d.h. der bürgerlichen Kaste sein.“ (S. 52) Aber eben die Decouvrierung von Kunst und Künstler, beider Ent-Auratisierung, ihre Einbindung in die Geschichte macht als Grundtenor der Polemik deren Sprengkraft für die Zeitgenossen aus, die Linke eingeschlossen. 

Das verdeutlicht die Stellungnahme der Roten Fahne, die bereits mit der ressentimentgeladenen Überschrift, Herrn John Heartfield und George Grosz, andeutete, dass man deren Beitrag nicht gerade als den von „Genossen“ ansah. Die zu dieser Zeit im Feuilleton der Roten Fahne maßgebliche Gertrud Alexander warf den „Herren“ dann auch nichts weniger als „Vandalismus“ vor und verwies darauf, daß der „Menschengeist Ewiges geschaffen hat“, es fallen Namen wie Rembrandt, Rubens, Michelangelo, Beethoven van Gogh. (S. 56) Zudem hätten Kunstwerke auch einen historischen Wert – kurz:

„Trotz Kapitalismus und Ausbeutung gab es eine Kultur, wurde Unsterbliches geschaffen. So schnell wird und kann die neue Kultur nicht erstehen, als daß der Arbeiter, der neue Mensch, sich nicht an vergangener Schönheit erfreuen könnte und müßte.“ (S. 57)

In einer weiteren Erwiderung des bereits erwähnten Julian Gumperz aus dem Kreis des Gegner und des Malik-Verlages wurde gerade das Insistieren auf vermeintliche „‘Ewigkeits‘-werte der Kunst“ (S. 59; vgl. S. 60) aufgespießt – worauf erneut Gertrud Alexander in einer umfangreichen Erwiderung mit dem Titel Kunst, Vandalismus und Proletariat antwortete. Diese Erwiderung enthält zum einen Spitzfindigkeiten, mit denen die Kritikerin ihre verkorkste, vielfach wortklauberische Argumentation zu retten sucht, so geht um die Auslegung des ‚vandalistischen‘ Satzes, dass Grosz/Heartfield es „mit Freude“ begrüßten, wenn die Kugeln in die Paläste und nicht in die Häuser der Armen flögen. Zudem wird der ahistorischen Ansatz in Sachen der Kunst wiederholt und nun vom „Genie-geborensein“ der Kunst gesprochen: „Das Genie aber läßt das Kunstwerk Dokument, Bekenntnis werden. Darin liegt der Wert, der über die Zeiten reicht.“ (S. 63)

Ihren Abschluss fand die Debatte mit einem Statement des zeitweiligen Chefredakteurs der Roten Fahne August Thalheimer. Unter dem Titel Das Proletariat und die Kunst. Politische Bemerkungen weist er darauf hin, dass das Proletariat das „materielle Erbe der bürgerlichen Welt […] seinen Zwecken entsprechend umzugestalten“ (S. 65) habe. Auch wenn er seinerseits die „Losung der Vernichtung oder der Ablehnung der Kunst der Vergangenheit“ kritisiert und darin eine „ultrarevolutionäre und antibürgerliche“ Attitüde sieht, die „in Wahrheit eine bürgerliche Losung, das Spiegelbild der Praxis der untergehenden und sich zersetzenden Bourgeoisie“ (S. 65f.) darstelle, so weist doch eine kurze Äußerungen auf den Kern des Problems zurück, nämlich, welchen Umgang das Proletariat – oder auch verallgemeinert: der historische Materialismus – mit dem ‚Erbe‘ üben solle:

„Es [das Proletariat] kann in diesem seinem Kampf nicht schon seine eigene Kulturwelt sich aufbauen. Aber der Drang, das alte Kulturerbe sich anzueignen und freie Bahn für seine eigene Schöpfertätigkeit sich zu erobern, ist ein starkes vorwärtstreibendes Moment in diesem seinem politischen Kampf.“ (S. 66)

Dies war eine fundamentale Frage, die bereits die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts insbesondere in Deutschland umgetrieben hat. Die Literaturdebatten innerhalb der Sozialdemokratie, so die Naturalismus-Debatte der 1890er Jahre, die Tendenz-Debatte Anfang des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt der sozialdemokratische Beitrag zu den Schillerjahren 1905 und 1909, etwa die einschlägigen Schriften von Franz Mehring oder Rosa Luxemburg, aber auch der sogenannten Revisionisten, markierten den anhaltenden Diskussionsprozess über dieses Problem längst vor dem Ersten Weltkrieg.6 Strategisch  und oder auch pragmatisch und aktuell stand ja die Arbeiterbewegung stets vor der Frage, was sie in ihrer Presse dem proletarischen Publikum ‚unterm Strich‘ an schöngeistiger Lektüre präsentieren sollte – das große bürgerliche Erbe der Aufklärung und Klassik oder das sozialkritische etwa des Naturalismus oder der Moderne überhaupt einschließlich der Avantgarde, oder aber die eigenen literarischen Werke aus dem Proletariat selbst. Am Abdruck eines naturalistischen Fortsetzungsromans in der SPD-Presse entzündete sich 1896 die erwähnte Naturalismus-Debatte, die mehr oder weniger eine Verurteilung des Naturalismus bedeutete. Etwa gleichzeitig druckte der Gustav Landauer in der literarischen Beilage der von ihm geleiteten anarchistischen Zeitschrift Sozialist Textauszüge aus den frühromantischen Nachtwachen des Bonaventura, aus Heinses Ardinghello sowie Kleists Erdbeben in Chili ab – ein wahrlich ‚alternatives‘ Erbe-Konzept.7

Die Kunstlump-Debatte steht in diesem weiteren Kontext, die Position der Roten Fahne liest sich dabei nicht selten wie ein später Kommentar oder auch Subtext zu klassenneutralen Auffassungen von Kunst und Literatur aus der Vorkriegssozialdemokratie, während die bilderstürmerischen Angriffe der linksradikalen Intellektuellen, die diese Tradition vermutlich so genau gar nicht kannten, aus anderen Quellen und Diskursen schöpften, denen der (ästhetischen) Avantgarde und zum Teil auch dezidiert linksradikal-linkskommunistischen Prämissen. 

Ertrag der Kunstlump-Debatte war auf jeden Fall: Der Warencharakter, vor allem aber der, marxistisch gesprochen, Klassen- und auch Klassenkampfcharakter von Kunst – gerade auch von anerkannter, längst kanonisierter Kunst – wurde polemisch ins Bewusstsein gehoben, die soziale und sozialisierende Wirkung von dem, was wir heutzutage ‚Institution Kunst‘ nennen würden, betont. Andeutungsweise wurde die später von Brecht, Benjamin, Piscator und anderen Theoretikern und Praktikern ausgeführte Kategorie der ‚Umfunktionierung‘, die Aufgabe, das Erbe „umzugestalten“, wie es bei Thalheimer hieß, in den Blick genommen. Im Mittelpunkt standen Entlarvung und Abbruch – gegen die Fixierung auf künstlerische Ewigkeitswerte. Die Frage eines möglichen Kanons stand in dieser argumentativen Konstellation nicht auf der Tagesordnung – ebenso wenig wie die Frage nach originär proletarischen Beiträgen zu einer Kunst für das Proletariat. Eine solche zu schaffen hatten Grosz/Heartfield den Arbeitern selbst als Aufgabe zugewiesen. Im Versuch eines Proletarischen Theaters und der linken Literaturkritik dieser Zeit wurde nun auch die Frage nach einem Kanon der fürs Proletariat nützlichen Literatur jenseits aller Abbrucharbeit aufgeworfen.

3. Auseinandersetzungen über proletarisches Theater 1920/21

Von der Aufhebung der Zensur durch den Rat der Volksbeauftragten bereits am 12. November 1918 profitierte ganz besonders das Theater. Nicht nur konnte deshalb der Siegeszug des expressionistischen Theaters beginnen, auch proletarische Bühnen konnten sich – mehr oder weniger – ungehindert entfalten. So gab es in Berlin verschiedene derartiger Theater-Experimente, unter denen insbesondere das „Proletarische Theater, Bühne der revolutionär Arbeiter Groß-Berlins“ von sich reden machte.8 Es war organisatorisch an die Linksparteien gebunden, von der USPD über die KPD bis hin zu KAPD und den Anarcho-Syndiklalisten der Freien Arbeiter-Union, und es wurde von Arbeitern wie von linken Intellektuellen wie Herrmann Schüller sowie vor allem Erwin Piscator getragen und zeichnete sich durch neue, ansatzweise der Avantgarde verpflichtete Spielweisen aus. Es hatte kein eigenes Haus, sondern spielte in traditionellen Arbeiterversammlungslokalen. Der Spielplan gibt Einblicke in einen ersten Kanon von revolutionär intendierter Gegenwartsdramatik, die kontroverse Rezeption in der linken Theater- und Literaturkritik vermitteln erneut Hinweise auf Kanon- und Erbe-Vorstellungen.

In einem Aufruf zur Unterstützung dieses Theaters hatte das Organ der KAPD, die Kommunistische Arbeiter-Zeitung, einen Spielplan annonciert, der „ernste“, „klassische“ und „heitere“ Stücke umfassen sollte, darunter Stücke ungarischer Gesinnungsgenossen wie Andor Gabor und Lajos Barta, expressionistische Dramen von Yvan Goll, Leo Matthias und Paul Zech; sowie: Dantons Tod von Georg Büchner, Hauptmanns Weber und Gorkis Nachtasyl; schließlich weitere namentlich nicht aufgeführte Stücke „aus dem Spielplan der proletarischen Theater in Rußland“ (S. 242).

Das Theater spielte bis zu seinem Verbot bereits 1921 durch den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten – die Aufhebung der Zensur war durchaus löchrig – dann tatsächlich folgende Stücke von Autoren, die zum guten Teil dem Malik-Kreis verbunden waren und das operative, parteiliche Interesse des Theaters erkennen lassen: Karl August Wittfogel: Der Krüppel; Andor Gabor: Vor dem Tore; Lajos Barta: Rußlands Tag; Maxim Gorki: Die Feinde; Upton Sinclair: Prinz Hagen; Franz Jung: Wie lange noch?; Franz Jung: Die Kanaker.

Theaterkonzeption und Spielpraxis stießen auf große Resonanz gerade in Arbeiterkreisen, wie Stimmen gerade proletarischer Zuschauer belegen, aber auch bei der linksradikalen Intelligenz. In der Roten Fahne der KPD wurde dagegen der in der Kunstlump-Debatte eingeschlagene Kurs idealistischer Kunst- und traditionalistischer Erbe- und Kanonauffassung fortgeführt. Gertrud Alexander schrieb: „Was der Arbeiter heute braucht, ist eine starke Kunst, die den Geist löst und frei macht. Solche Kunst kann auch bürgerlichen Ursprungssein, nur sei es Kunst.“ (S. 210) Gegen „platte Elendsmalerei“, für „künstlerische Gestaltung“ plädierend und auf die „alten Griechen“ als Vorbild verweisend (S. 210f.), wurde „Kunst“ gegen „Propaganda“ ausgespielt, wobei „Propaganda“ recht weit ausgelegt wurde:

„Der Name Theater aber verpflichtet zu Kunst, zu künstlerischer Leistung! […] Kunst sei eine zu heilige Sache, als dass sie ihren Namen für plattestes Propagandamachwerk hergeben dürfte. Und wieder, Genossen, sei der Kommunismus eine zu ernste und heilige Sache, als daß er auf eine so platte und erbärmliche Weise, nicht künstlerisch verarbeitet in leuchtendem Kunstwerk, sondern in buntem Plakatstil auf der Bühne vorgeführt und ausgeschrien werden dürfte.“ (S. 208)

Gegenüber der Kunstlump-Kontroverse erbrachte die Auseinandersetzung über das proletarische Theater insofern Neues, weil nun eine konkrete, auch der Avantgarde verpflichtete Kunstpraxis zur Debatte stand und zur Weiterarbeit einlud. Sie war eindeutig linksradikal grundiert. Seitens der KPD bzw. Teilen der Roten Fahne wurde sie dagegen zur Disposition gestellt und verworfen – ein Vorgang, der gerade bei den an diesen Suchbewegungen beteiligten Intellektuellen nachhaltig auf Kritik stieß. Einen Nachhall findet sich beim Malik-Verleger Wieland Herzfelde, der 1921 in seiner Schrift Gesellschaft, Künstler und Kommunismus, ohne die konkreten Anlässe der Kontroversen beim Namen zu nennen, resümiert:

„Ein Widerspruch wird hier – sogar von Genossen – gerne geltend gemacht: Kunst sei keine Propaganda. Wahre Künstlerschaft sei zuinnerst unparteiisch und wahrhaftig, den Gesetzen von Ziel und Zweck, jeder Absicht und Tendenz feindlich, dem Alltag entrückt, zeitlos und souverän. Diese Anschauung läuft in ihrer Konsequenz darauf hinaus, im Künstler einen Gott zu sehen“. (S. 149)

„Die Titulierung ‚Künstler‘ ist eine Beleidigung. […] Die Vergottung des Künstlers ist gleichbedeutend mit Selbstvergottung“ – so hatten Grosz/Heartfield in ihrer Kunstlump-Attacke formuliert.

4. Kommunistische und linkskommunistische Literaturkritik

Literaturkritik und Kanonbildung waren im Zentralorgan der KPD, der Roten Fahne zur Zeit der revolutionären Nachkriegskrise der Weimarer Republik, also bis etwa Ende 1923, von der Verteidigung der klassischen bürgerlichen Literatur und der vehementen Zurückweisung ‚spätbürgerlicher‘ Kunst, also der Moderne und der Avantgarde, geprägt. Das Dekadenz- bzw. Aufstiegs/Abstiegsschema, das Franz Mehring Ende des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet hatte, wurde insbesondere in den Kritiken von Gertrud Alexander angewandt und oft vergröbert. Es wurde jedenfalls genutzt, avantgardistische und andere literatur- und kunstrevolutionäre Ansätze umstandslos zu verurteilen. Gertrud Alexanders Interventionen in Sachen „Kunstlump“ und „Proletarisches Theater“ demonstrieren das ebenso wie viele ihrer über 150 Rezensionen dieser Jahre.9 Nicht, dass avantgardistische oder revolutionär sich verstehende Kunst etwa der Expressionisten und Aktivisten umstandslos bereits als ‚proletarische‘ Kunst oder ‚Kunst fürs Proletariat‘ zu verstehen wären – aber gerade avantgardistische Experimente, wie besonders die Entwicklung in Sowjetrussland andeutete, boten durchaus Ansätze zu einer neuen proletarischen Kunst.

War es Ziel, „jene Illusion von einer ‚revolutionären‘ bürgerlichen Kunst zu zerstören, als die der Expressionismus und Dadaismus, überhaupt alles ‚Moderne‘ sich ausgaben und ausgeben“ (S. 95), wie es in einem Beitrag in der Roten Fahne am 4. Januar 1921 Zur Frage der Kritik bürgerlicher Kunst programmatisch hieß, so korrespondierte dies mit der bereits angedeuteten, in der Arbeiterbewegung traditionsreichen Klassik- und Schiller-Verehrung. So kann eine Kabale und Liebe-Aufführung en passant zum Verriss von Hauptmanns Einsame Menschen genutzt10: „Kabale und Liebe“. In: Die Rote Fahne v. 7.10.1920.] oder Don Carlos, dieser „Feuergeist“, als „das Vermächtnis des Dichters der bürgerlichen Revolution an die Vollstrecker der proletarischen der Menschheitsrevolution“ gepriesen werden.11: „Don Carlos. Von Friedrich Schiller“. In: Die Rote Fahne v. 10.12.1920; wieder in: Die rote Fahne (wie Anm. 9), S. 101-105, hier S. 104.]

Anhand des Schiller- und auch des Goethebildes in der kommunistischen Roten Fahne auf der einen, in der linkskommunistischen Aktion auf der anderen Seite ließen sich Traditionalismus und Innovation in den Auseinandersetzungen mit dem bürgerlichen Erbe aufzeigen. Das Thema „Goethe“ wurde 1922 aktuell, als sein 90. Todestag gefeiert wurde und der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert in seiner Goetherede den Weimarer Klassiker für die ganze deutsche Nation zu vereinnahmen suchte. Auch hier waren es die Linksradikalen, etwa Max Herrmann-Neisse, von dem noch zu sprechen sein wird, die u.a. in der Tradition der von Ludwig Börne geübten Goethekritik die Weimarer Klassik attackierten.12

So spukte das klassischer Erbe durch die kommunistische Literaturkritik wie ein Gespenst, das auch die aktuelle revolutionäre Kunst vertreiben sollte. Zwar ist das Feuilleton der Roten Fahne nicht in Gänze mit Gertud Alexanders Position zu identifizieren, weil darin auch differenzierte Stimmen zu Worte kamen, so der junge Lukács, Béla Balázs, Kurt Kersten, Paul Reimann oder auch Lu Märten.13 Beispielsweise schrieb Lukács am 18. April 1922 über den Nachruhm Balzacs (S. 66-69), am 25. Juni 1922 Zum zehnten Todestag August Strindbergs14 und rezensierte am 30. März 1923 Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus (S. 108-111). Am 13. Oktober 1922 erschien sein Grundsatzartikel über Marxismus und Literaturgeschichte.15 Béla Balázs schrieb am 12. Mai 1922 über den Detektiv-Roman (S. 106-108), am 10. Oktober 1922 einen Kurzbeitrag zum Thema Der revolutionäre Film.16

Gab es also auch in der Roten Fahne perspektivreiche Ansätze der Literaturanalyse, so taugten umgekehrt die linksradikalen Angriffe auf dieses Erbe und auf die Institution Kunst nicht immer für die proklamierte Schaffung einer neuen Kunst des Proletariats oder eines Kanons von Kunst für das Proletariat. Aber die Trends kommunistischer und linkskommunistischer Literaturkritik sind eindeutig. Dies zeigt sich gerade beim Versuch der expliziten Kanon-Bildung.

Der bereits erwähnte Paul Reimann veröffentlichte 1922 in der Roten Fahne eine Artikelfolge mit der Überschrift Was soll der Proletarier lesen? und empfahl darin die Lektüre folgender Autoren: Emile Zola; Georg Büchner; Heinrich Heine; den jungen Gerhart Hauptmann; Franz Jung.17

Das ist eine – für die junge KPD freilich, wie betont, atypische – Reihe, die sich bereits mit linksradikalen Kanon-Konzepten berührt. Insbesondere Franz Jung war zu dieser Zeit als Post-Expressionist und Post-Dadaist wichtigster Malik-Autor und Vertreter einer neuen revolutionären, proletarischen Literatur und nahm gleichzeitig in der KAPD hohe politische Funktionen wahr. Von ihm gingen wichtige Impulse aus – von seiner Erzählprosa und seinen Stücken ebenso wie von seinen theoretischen Beiträgen. 

So publizierte das theoretische Organ der AAUD, die Monatsschrift Proletarier. Zeitschrift für Kommunismus in ihrem allerersten Heft 1920 unter dem markanten Titel Proletarische Erzählkunst einen programmatischen Aufsatz von Franz Jung, allerdings ohne Namensnennung des Autors (S. 125-128). Darin wird in klassisch linkskommunistischer Argumentation erläutert, dass die Entwicklung proletarischen Kunst und Literatur abhängig sei vom Grad der Selbstbewusstseinsentwicklung des Proletariats – sie wirke zugleich darauf ein und bringe dieses auch zum Ausdruck. Für die linkskommunistische Theorie und Programmatik nimmt die Kategorie der „Selbstbewusstseinsentwicklung“ des Proletariats ein einen wichtigen Stellenwert ein. Proletarische „Selbstbewusstseinsentwicklung“ ist für sie Voraussetzung der proletarischen Revolution. So ist im Programm der KAPD von 1920 davon die Rede, dass „Gründe subjektiver Natur vorhanden sein (müßten), die den beschleunigten Fortgang der Revolution als hemmende Faktoren im Wege stehen […] die Ideologie des Proletariats befindet sich noch teilweise im Banne bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungselemente. […] Das Problem der deutschen Revolution ist das Problem der Selbstbewusstseinsentwicklung des deutschen Proletariats.“18 Ähnlich formulierte 1921 die AAUE als eines ihrer Ziele: „Die Entwicklung des Selbstbewußtseins und des Solidaritätsgedankens der Arbeiter.“19 Auch Franz Pfemfert von der linkskommunistischen Aktion wurde nicht müde, für die „Entwicklung des Selbstbewußtseins der arbeitenden Menschheit für die Diktatur des Proletariats als Klasse“ zu kämpfen.20

Dabei nun wird ästhetischen Prozessen, wird Kunst und Literatur ein erheblicher Stellenwert zugemessen, quasi als eine Art Sozialisationsfaktor – sei es negativ, wie schon die Kunstlump-Polemiker erwiesen hatten. Ins Positive gewendet bedeutete dies im linkskommunistischen Konzept: den „Gemeinschaftsgedanken einer unterdrückten Klasse“ mit zu befördern,

„die nicht nur nach Kampf gegen den Unterdrücker dürstet, sondern bereits selbstschöpferisch das Neue aufbaut, das dem Inhaltswert nach kollektives recht oder Unrecht, Gut und Böse, Freude und Leid sein soll.“ (S. 126)

Insbesondere geht es, so eine entscheidenden Kategorie bei Franz Jung und anderen, um den „Gemeinschaftsrhythmus“ als „Rhythmus des gemeinsamen, gemeinschaftlichen Erlebens, gemeinsamer Empfindung von Freude und Schmerz, gemeinschaftlicher Hoffnungen und Enttäuschungen. Das individuelle Schicksal verschwindet. Statt Mittelpunkt wird es zur Nuance bunter Erzählung.“ (S. 118) Ganz ähnlich wird wenig später Max Herrmann-Neisse in einem Vortrag zum Thema Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat, den er 1922 vor der AAUE gehalten hat, von der Notwendigkeit eines proletarischen „Gemeinschaftswerden“21 sprechen. Davon wird noch zu sprechen sein.

Probeweise wird im AAUD-Organ ein erster Kanon skizziert. Als „vorbildlich“ gilt Jack Londons (seinerzeit noch nicht ins Deutsche übersetzte) Roman Volk am Abgrund (S. 127). Franz Jung wird wenig später einen Band Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse herausgeben, und der Linkskommunist Max Herrmann-Neisse wird diesen Band äußerst positiv rezensieren.22 Dieser Jack London-Band wiederum wird Pate stehen für den Zola-Band, den Max Herrmann-Neisse 1925 im Aktion-Verlag als ersten und einzigen Band einer Reihe „Dichter für das revolutionäre Proletariat“ herausgibt.

Als Vorläufer gelten u.a. Zola („Germinal u.a.“), Lemonnier, Nexö, Tolstoi, sodann Barbusse und besonders H.G. Wells: „Der Gemeinschaftsrhythmus im Widerstreit mit der herrschenden Ideologie, mit der sozialen Umwelt schlechthin ist direkt Gegenstand der Darstellung“ bei Wells, vor allem in den Romanen Im Jahre des Kometen und in der Zeitmaschine. (S. 127f.) Hinzu kommen, mit Einschränkungen, Upton Sinclair mit Jimmy Higgins, Anatole France mit Die Götter dürsten und der Norweger Johan Falkberget mit In der äußersten Finsternis. 

Was die Literatur des „neuen Rußland“ angeht, so werden Vorbehalte laut „Das neue Rußland bietet noch keine proletarische Kunst. Es versteift sich auf eine Riesenpropaganda der Kunst für das Proletariat, und es übersieht geflissentlich, daß aus dem Proletariat schon vor Jahrzehnten sehr lebensfähige Ansätze hervorgegangen sind.“ Hierbei werden unter Berufung auf Kropotkin zwei sog. Veristen hervorgehoben, Rjeschetnikoff und Uspenskij. Über letzteren heißt es:

„alles wird zum Ausdruck einer Gemeinschaft, und so grausig, so brutal, so ‚kunstlos‘ einzelnes sein mag, es übermittelt den Eindruck des Ganzen, den Gemeinschaftsrhythmus der unterdrückten, der Armen, der Entrechteten, der Bösen und Widerspenstigen im Sinne eines Staatswesens der bürgerlichen Ordnung.“ (S. 128)

5. Max Herrmann-Neiße: Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat (1922)

Diese Formulierung würde auch auf Franz Jung selbst zutreffen. Seine Prosa- und Theaterarbeiten dieser Jahre wurden in der linkskommunistischen Publizistik entsprechend gewürdigt und, wie zitiert, gelegentlich sogar in Kanonüberlegungen auch der KPD einbezogen. Insbesondere der vormalige Expressionist Max Herrmann-Neisse, der zeitweilig auch im Kontakt zum Berliner Dada stand und der bis Mitte der Zwanziger Jahre für linkskommunistische Periodika schrieb, machte sich für Franz Jung stark, dessen Werke er mehr als ein Dutzend mal positiv rezensierte.23 Er war es auch, der 1922 mit seinem bereits erwähnten Vortrag vor der AAUE über Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat einen Kanon des deutschen Linkskommunismus präsentierte, und zwar in dieser Bündigkeit letztmals, bevor mit der Stabilisierung der Weimarer Republik und der Um- und Neuformierung der revolutionären  Arbeiterbewegung der deutsche Linksradikalismus seine Bedeutung verlor.

In seiner umfänglichen Schrift bezieht sich Herrmann-Neisse mehr oder weniger deutlich auf die voraus gegangenen Debatten, so wendet er sich gegen Positionen der KPD (ohne die Partei beim Namen zu nennen), die vom „ewig Gültigen“ der Kultur24 ausgehen und polemisiert gegen das „abstrakte Gefasel von der Zeitlosigkeit der Kunst“25 und ihrer „absoluten Heiligkeit“.26 Die Schrift bezieht auch zum aktuellen Goethe-Rummel kritisch Stellung (kritisch im Sinne der Börne-Nachfolge) und bietet markante Beispiele dafür auf, wie die Bourgeoisie mit ihrer eigenen Kultur umgeht – so wenn sie Ludendorff und Hindenburg zum Ehrendoktor macht; ausgerechnet Hindenburg, „obwohl er einmal erklärte, außer einem Kriegsschmöker kein Buch aufgeschlagen zu haben“.27

Wird dafür plädiert, „das bürgerliche Kunstwerk zu erkennen als ein charakteristisches Teilstück der proletarierfeindlichen Klasse“28, so geht es dementsprechend darum, die für das Proletariat „brauchbare Kunst“ zu ermitteln; Max Herrmann-Neisse folgt keinem Aufstiegs-/Abstiegs-Schema und keiner Verurteilung der Moderne, sondern er beruft sich auf die in der bürgerlichen Literaturgeschichte traditionell verschwiegenen „Außenseiter“.29 Es sind – ähnlich dem spontanen linksradikalen Rebellentum eines Max Hölz, den Max Herrmann-Neisse in der Aktion ausdrücklich würdigt30 – Namen, die in der Tat für Widerstand, Empörung und Rebellentum stehen: Villon, Rabelais, Swift, Büchner, Zola, Charles Louis Philippe, Anatole France, Sternheim, Sinclair, Andersen-Nexö, Gorki, Leonhard Frank31, Franz Jung, Hermynia zur Mühlen, Oskar Kanehl, von den Bildenden Künstlern nennt er u.a. Felixmüller, Masereel, Grosz. In diesem „Grundstock des für Proletarier geeigneten Lesestoffs“32 erkennt er „das ehrliche Bemühen, die Ideenwelt der Proletarier zu erleben und den Ausbeutern und Niederhaltern entgegenzustellen“.33 Dass es sich bei diesen Autoren nicht um Autoren proletarischer Herkunft handelt, erklärt Max Herrmann-Neisse so: „Erst muß die proletarische Klasse sich als Gemeinschaft erleben […] ehe es eine wirkliche proletarische Kunst geben kann.“34

Damit ist ein Weg ausgeschritten, der von der Verurteilung bürgerlicher Kunst bis zur Konstruktion einer antibürgerlich verstandenen Kunst für das Proletariat reicht. Es ist zunächst eine Inhaltsästhetik, von der jeweils ausgegangen wird. Die Überlegungen zu Rhythmus und Gemeinschaftsrhythmus im Kunstwerk, die bei Jung und anderen angestellt worden sind, weisen bereits über Grenzen einer solchen Inhaltsästhetik hinaus und verweisen auf auch ästhetische Strukturen des Werkes – beispielsweise den weitgehenden Verzicht auf Individualisierung und Psychologisierung im Roman, eine operativ angelegte Publikums- und Leser-Einbindung, die Anonymisierung von Heldenfiguren, ihre ‚Kollektivierung‘. Der experimentelle Charakter gerade der zahlreichen Romane und auch Stücke von Franz Jung macht das deutlich, wird von Herrmann-Neisse entsprechend hervorgehoben und bei Jung auch selbst zum Erzählgegenstand, so wenn es zu Beginn des Romans Arbeitsfriede von 1922 heißt:

„Viele meiner Kameraden werden mich der nachfolgenden Zeilen wegen tadeln […]. Ich will dem Leser schon vorher sagen, was ich will und wo das technische Problem liegt. Er soll beim Lesen mithelfen an der Lösung und Gestaltung, prüfen wo das Tempo ins Stocken gerät, und so die wirkliche Verbindung zwischen Autor und Leser herstellen, die der wesentlichste Teil des Inhalts dieses Buches ist. Jeder Inhalt, den man darstellen will, gewinnt dadurch einen neuen Rhythmus. Es wird nicht mehr so sehr ausschließlich Handlung, die sich aufbaut, sondern ein Teil unseres Selbst, der Geschehnisse in und mit uns, unserer Empfindungen, des als lebendige Gemeinschaft Miteinanderverbundenseins. Es wird Handlung mit uns mit, eine neue Form des rhythmisierten Lebens. Die Revolution der Sprache dämmert bereits herauf, und ihre ersten Spitzen werden bereits mit den ökonomischen des Proletariats in das Land der Gemeinschaftlichkeit einziehen.“35

 Dies mag als Beleg für eine Literaturpraxis stehen, die, avantgardistisch-linksradikal geprägt, ebenso wie die Kontroversen über Literatur und Kunst selbst charakteristisch für die linke Literaturszene in den Anfangsjahren der Weimarer Republik ist. Es wurden dabei Fragen angegangen, die zur Zeit der weiteren Entfaltung der sozialistisch-kommunistischen Literaturbewegung in der späteren Weimarer Republik, etwa im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“, weiter diskutiert worden sind, wenn auch nun unter anderen Prämissen und Ergebnissen – man denke nur an die umstrittene Kategorie ‚Realismus‘, die in der Frühphase kaum eine Rolle spielt. Speziell die linkskommunistischen Positionen und Konzeptionen aus den Anfangsjahren der Weimarer Republik markieren in ihrer Homogenität zweifellos eine eigenständige, aber historisch auch abgeschlossene Etappe.


  1. Gemeint sind die Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands, deren Gewerkschaftsorganisation Allgemeine Arbeiter-Union und die jede Form der Partei-Organisation ablehnende Allgemeine Arbeiter-Union; grundlegend dazu: Hans Manfred Bock: Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland. Ein Versuch. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976; speziell für die hier in Frage stehende Zeit: ders.: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik. Aktualisierte Ausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993.
  2. Die zentralen Texte der Debatte sind dokumentiert in: Literatur im Klassenkampf. Zur proletarisch-revolutionären Literaturtheorie 1919-1923. Eine Dokumentation. Hrsg. Walter Fähnders/Martin Rector. München: Hanser, 1971 (wieder: Frankfurt/M.: Fischer, 1974), S. 47-66, hier S. 51. Zitate aus dieser Dokumentation finden sich im Folgenden direkt im Text.
  3. In: Die Aktion (Berlin) 10, 1920, Sp. 418f.
  4. In: Die Freiheit (Berlin) 3, 1920, Nr. 123.
  5. Das Buch zwei des Aktivistenbundes 1920. Düsseldorf 1920; vgl.: „Protest des Aktionsausschusses des Aktivistenbundes 1919“. In: Die Aktion 10, 1920, Sp. 487.
  6. Vgl. resümierend Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2010, S. 70ff.
  7. Vgl. Walter Fähnders: Anarchismus und Literatur. Ein vergessenes Kapitel deutscher Literaturgeschichte zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Metzler, 1987, S. 22ff., besonders S. 32.
  8. Vgl. Walter Fähnders/Martin Rector: Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik. Reinbek: Rowohlt, 1974. 2 Bde. Bd. 1, S. 138-146; Richard Weber: Proletarisches Theater und revolutionäre Arbeiterbewegung 1918-25. Köln: Gaehme/Henke, 1976.
  9. Nachweise in: Veröffentlichungen deutscher sozialistischer Schriftsteller in der revolutionären und demokratischen Presse 1918-1945. Bibliographie. Hrsg. Deutsche Akademie der Künste zu Berlin, Sektion Dichtkunst und Sprachpflege, Abt. Geschichte der Sozialistischen Literatur. Bearb.: Edith Zenker. Berlin/Weimar: Aufbau, 1966, S. 9-22; ein kleiner Teil daraus ist abgedruckt in: Literatur im Klassenkampf (wie Anm. 2), passim; sowie in: Die rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton 1918-1933. Hrsg. Manfred Brauneck. München: Fink, 1973, passim.
  10. [Anonym
  11. [Anonym
  12. Vgl. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 107-129; zur Goethedebatte in der Aktion vgl. auch Lothar Peter: Literarische Intelligenz und Klassenkampf. „Die Aktion“ 1911-1932. Köln: Pahl-Rugenstein, 1972.
  13. Die sehr grundsätzlichen Beiträge von Lu Märten zur materialistischen Kunstauffassung, die eine Kontroverse wiederum mit Gertrud Alexander auslöste, sind analysiert und z.T. dokumentiert in: alternative (Berlin) 16, 1973, Nr. 89; vgl. dazu auch die Nachweise bei Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 348f.
  14. Wieder in: Die rote Fahne (wie Anm. 9), S. 157-160.
  15. Ebenda, S. 177-181.
  16. Ebenda, S. 175f.
  17. Nachweise in: Veröffentlichungen deutscher sozialistischer Schriftsteller (wie Anm. 8); die Franz Jung-Empfehlung erschien anonym, sie stammt womöglich nicht von Reimann; Abdruck in: Literatur im Klassenkampf (wie Anm. 2), S. 102-105.
  18. Zitiert nach meinem „Nachwort“ in: Franz Jung: Werke. Bd. 2. Hamburg: Nautilus, 1984, S. 211-232, hier S. 224.
  19. http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/aaud-e/1921/richtlinien.htm.
  20. Franz Pfemfert: Nicht rostende Waffen für die soziale Revolution. In: Die Aktion 15, 1925, Sp. 93-94, hier Sp. 94.
  21. Max Herrmann-Neiße: Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat. Berlin: Verlag Die Aktion, 1922, S. 25.
  22. Max Herrmann (Neiße): Ein Dichter der Arbeiterklasse. In: Die Aktion 14, 1924, Nr. 15/16 (August), Sp. 471f.; wieder in: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer. Franz Jung in der Literaturkritik 1912-1963. Hrsg. Walter Fähnders/Andreas Hansen. Bielefeld: Aisthesis, 2003, S. 166.
  23. Vgl. Abdruck aller seiner Franz Jung-Kritiken in: Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer (wie Anm. 22).
  24. Herrmann-Neiße: Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat (wie Anm. 21), S. 5.
  25. Ebenda, S. 11.
  26. Ebenda, S. 29.
  27. Ebenda, S. 9.
  28. Ebenda, S. 29.
  29. Ebenda, S. 23.
  30. Max Herrmann-Neisse: „Im Zeichen von Hölz“. Wieder in: Max Herrmann-Neisse: Die neue Entscheidung. Aufsätze und Kritiken. Hrsg. Klaus Völker. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 1988, S. 40-43; zu Max Herrmann-Neisses linksradikaler Literaturphase vgl. Jutta Kepser: Utopie und Satire. Die Prosadichtung von Max Herrmann-Neisse. Würzburg: Könighausen und Neumann, 1996, S. 43-63.
  31. Interessanterweise hatte Franz Jung in seinem anonymen Aufsatz im „Proletarier“ Leonhard Frank und sein seinerzeit populärer Novellenband „Der Mensch ist gut“ als für die proletarische Erzählungskunst nicht wegweisend abgelehnt.
  32. Herrmann-Neiße: Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat (wie Anm. 21), S. 27.
  33. Ebenda, S. 28.
  34. Ebenda, S. 22.
  35. Franz Jung: Arbeitsfriede (1922). In: Jung: Werke. Bd. 2. (wie Anm. 18), S. 105.