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EIN EPOCHENPROFIL (... Work in Progress ...)

ÖSTERREICHISCHE KULTUR UND LITERATUR DER 20er JAHRE – transdisziplinär

Epochenprofil zu Aspekten der Literatur, Kunst und (Alltags)Kultur der österreichischen Zwischenkriegszeit

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Joseph Roth: Rabindranath Tagore in Berlin

Author: Roth, Joseph Datum: 07.06.1921
Deutsch

Joseph Roth: Rabindranath Tagore in Berlin

Den Dichter der indischen Wälder und Seelen würdig zu empfangen, putzten die Berliner Photographen schon seit Tagen ihre Apparate blank und der Filmgesellschaften flinke Sendboten gürteten ihre Lenden und exerzierten Kurbeln. In den Schaukästen der kulturbedeckten Wände hing das Zeitschriftenbildnis Rabindranath Tagores, und die Passanten stauten sich. Lange schon hegte ich den Verdacht, daß sie einen Fakir meinten, wenn sie einen Dichter sahen, und selbst in europäischen Dichtern Fakire vermuteten. Als ich in die Universität hineingelangt wurde, fand ich meinen Verdacht bestätigt.

Rabindranath Tagore fuhr im Auto vor die Universität, vor der Hunderte Karten schwangen und Einlaß forderten. Als das Auto hielt, stürzte sich eine Kulturmenschheit vor den Wagenschlag, und auf das Dach des Autos kletterte ein Mann vom Film und tat, was die Sitte gebot: er kurbelte. Die Universität hatte den Dichter eingeladen. Der Rektor hatte etwas zuviel eingeladen, der Raum war klein, die Studenten saßen bereits in den Bänken, als eingeladene Frauen, die stehen mußten, ohnmächtig wurden und die Pedellen drängten die Schüler aus den Bänken in die Seitengänge. Nachdem diese voll waren, kamen immer neue Menschen zu den Pforten und fanden keinen Einlaß. Das Geräusch, das daraufhin entstand, verringerte sich durch den Aufstieg der Exzellenz von Harnack auf das Katheder und durch die Erhebung seines ruhegebietenden Zeigefingers. Die Verlegenheit dagegen verringerte sich nicht, sondern wuchs und gebar den goldkettengezierten Rektor Magnificus, der auch auf das Katheder trat und mit der Schutzpolizei drohte für den Fall, daß die Studenten nicht die Mittelgänge räumen würden. Dem Rektor zur Seite schoß ein Jüngling in die Höhe, forsch und schneidig, in Kappe und Band, und nachdem der Rektor abgetreten war, schnarrte der Jüngling: Kommilitonen! Und forderte freie Bahn, um die Schutzpolizei holen zu können. Er wurde ausgelacht und verschwand, aber ein paar Mittelgänger schämten sich vor Indiens Wäldern und begannen, sich zu entfernen, nachdem ein bekannter Bürgerrechtslehrer sie persönlich sanft hinauszuschieben angefangen hatte. Es war eine praktische Anwendung des Bürgerrechtes, und in diesem Falle wirklich notwendig und am Platz. Dagegen war jener Student gewissermaßen als Verkörperung des Korps-, Kriegs- und Kruggeistes, der die deutsche Jugend zum großen Teil beseelt und zum übrigen benebelt, einfach forsch. Kein Wort mehr darüber.

Ich erzähle dies alles ausführlich, weil ich glaube, daß zwischen diesen Vorgängen und der Verwirklichung der Tagoreschen Absichten mehr Zusammenhänge bestehen, als selbst Rabindranath Tagore es glaubt. Er muß wohl ein großer Dichter sein. Nur ein ganz großes Genie kann die Seelenruhe bewahren im Anblick der photographischen Apparate, die noch im Saale aufgestellt waren, während der berühmte Mann von indischen Wäldern sprach. Er sprach von den Unterschieden der östlichen und westlichen Kultur, und wie zur Bestätigung der Unterschiede knackte ein Kodak. Er zitierte große indische Werke, urälteste Gottesweisheit und die urjüngste Kamera obscura bemühte sich gewissermaßen europäische und indische Mystik in dem Dunkel ihres Innern zu verbinden. Als der Dichter von der ewigen Menschlichkeit sprach, und von der Torheit aller gleißenden Dinge, sah ich die goldene Kette des Rektors und hörte den Ruf des Studenten in Kappe und Band nach der Schutzpolizei.

Es war aber trotz allem Snobismus eine große, ehrliche Begeisterung und zum ersten Male eine Demonstration für eine Kulturangelegenheit. Eine Demonstration von einem Umfang, wie sie bis jetzt nur großen Zeiten, Kriegsausbrüchen und politischen Phraseologien zuteil geworden war. Ein Beweis immerhin, daß eine geistige Angelegenheit auch Wirkung haben kann. Als der Dichter die Pforten der Universität verließ, salutierte der vom Korpsstudenten herbeigeholte und mitten in seiner Funktion des Hinausschmeißens in Namen westlicher Gesetze unfruchtbar gemachte Schutzmann, und das war die eigentliche größte Wirkung dieses großen Besuches. Ein Schutzmann salutiert sehr stramm vor einem Dichter.

In der nächsten Meßterwoche werden die Berliner Rabindranath Tagore sehen können; um sechs Mark schon. Jeder Mann kann es sich leisten. Vielleicht ist es dem Kinooperateur, vorausgesetzt, daß er Sinn hat für wichtige Kulturereignisse, gelungen, jenen Moment festzuhalten, in dem der Polizist den Dichter gegrüßt hat. Es ist möglich, daß von diesem Moment an eine neue Ära, in der der Korpsgeist vor dem Geist verstummt – und die Waffe sich senkt vor der Göttlichkeit. Und deshalb sei Rabindranath Tagore gesegnet.

In: Prager Tagblatt, 7. Juni 1921, S. 2.

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