Arnolt Bronnen über den Autor

Aus: Das Theater der Gegenwart (Aus Gesprächen mit Arnolt Bronnen, Bert Brecht und Hans J. Rehfisch)

             *GF. „Zum erstenmal seit zweitausend Jahren ergibt sich die Tatsache, daß dem Autor heute die ausschlaggebende Bedeutung am Theater fehlt. Selbstverständlich wird die Rolle des Autors immer die ursprüngliche sein und bleiben; denn kein Theater kann ohne Autor auskommen. Auch ein Theater wie die Piscator-Bühne braucht einen Mann, von dem die Idee zu einem Stück, zu einer Inszenierung ausgeht. Nur dies hat sich erstmalig und entscheidend geändert: Der Dramatiker, früher auch die Mutter des Theaters, ist jetzt nur noch der Vater. Ferner: Je höher das allgemeine Sprachniveau eines Volkes wird, um so wichtiger wird der Text. In immer stärkerem Maße muß es die Aufgabe des Dramatikers werden, Situationen zu erfinden und Schicksale zu schaffen. Er wird immer mehr Ingenieur und Feldherr und immer weniger Philologe und Poet.

             Was man bisher an neuen Stoffen geschaffen hat, sind eigentlich nur Milieuveränderungen. Man hat wohl – um nur zwei Beispiele zu nennen – den Flieger oder den Chauffeur auf die Bühne gebracht, aber als alte Charaktere im neuen Milieu, und noch nicht den neuen Charakter gezeigt, den die neuen Tätigkeiten schaffen müssen. Man hat ihn in Beziehungen zu anderen Menschen gebracht und daraus ein Schicksal konstruiert. Man hat aber noch nirgends die Aktivität der Maschinen gebracht. Es fehlt das Gegenüber: Seele des Menschen und Seele des Motors.“

In: Der Tag, 29. 4. 1928, S. 8.

Ellinor Tordis: Bewegungschöre

             Man hat im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur das Radio und unerhörte Möglichkeiten der Technik, man hat vor allem den menschlichen Körper entdeckt, den menschlichen Körper als kostbarstes Gut der Masse. Lange Zeit war der Körper etwas Verbotenes, etwas, das zu verhüllen und zu mißachten Sitte und Sittlichkeit forderten; erst die Renaissance hat wieder, in blühendem Kunstwerk, die Schönheit des Körpers gepredigt, den Körper als Offenbarung der Gottheit dem hellen Licht italischen Tages vermählt. Aber der schöne, der harmonische Körper war ein Luxus, den sich wenige leisten konnten, war das Privileg einer kleinen Elite. Intellektuelle, Kleinbürger, // Arbeiter besaßen nur Bruchstücke eines Körpers, Hirn, Hand, Fuß, Werkzeug der Arbeit, nicht mehr.

             Das ist anders geworden; die Entdeckung, die Eroberung des menschlichen Körpers ist das Große unserer Zeit. Die Masse, die turnt und schwimmt und wandert und Sport betreibt, sie verkörpert, in ungebrochenem Sinn des Wortes die Wandlung, der Jahrhunderte.

             Man könnte nun meinen, übertriebene Körperkultur entfremde die Menschen dem Geiste, dränge sie in ein junges Barbarentum – aber das ist nur scheinbar richtig. Wir leben mitten im Übergang und darum ist vieles plump, kraß, outriert, ist vieles unharmonisch und allzu materialistisch. Doch was als Hygiene, Körperpflege, Gesundheitswillen rationalistisch begann, steigert sich ins Ästhetische, verklärt sich ins Künstlerische. Der Sport wird zum Schauspiel (Fußball), zur Schule der Schönheit (Tennis), die Touristik ist mehr als primitive Lust an der eigenen Leistungsfähigkeit, ist beinahe religiöses Verlangen ins Freie, Hohe, Einsame, das Turnen wird zur rhythmischen Gymnastik, entfaltet sich zum Tanz. Der gesunde, harmonische Körper ist auch ein geistiges Phänomen.

             Aber ein Zweites offenbart sich im Sport und all seinen Formen: der Wille zur Aktivität. Die Masse will nicht mehr Publikum, nicht mehr passives Material der Entwicklung sein, sie will tätig das Leben gestalten. So begreift man zum Beispiel die Wandlung des Tanzes: die alte Ballettkunst war ein Beruf für wenige, die sich ihm widmen wollten oder mußten, der neue Tanz, Reigen und rhythmisches Körperspiel, ist nicht mehr feudaler Luxus, sondern eine Massenbewegung.

             Diesem Willen zur Aktivität, zur tätigen Anteilnahme am Künstlerischen, entsprang der Sprechchor, uralte Kunstelemente zu neuem Leben erweckend. Aber der Sprechchor allein genügt nicht, entspricht nicht der Zeit des auferstandenen Körpers: er muß zum Bewegungschor werden. Das alte Vortragswesen, das nur Gesicht und Hände als Ausdrucksmittel duldete, mutet uns heute schon sonderbar an: der ganze Körper drücke das Lebensgefühl aus, das ist unsere Forderung.

             Sprechchor und Bewegungschor – das setzt sich überall durch.

Aber wir leben auch hier im Übergang, wir müssen auch hier das Maß und die Mitte finden.

Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, einen Bewegungschor zu schulen: man kann ihn als Maschine und man kann ihn als Organismus auffassen. Der Bewegungschor als Maschine, höchste Exaktheit und Gleichförmigkeit, Gleichzeitigkeit aller Bewegungen, Unterwerfung alles Individuellen unter einen strengen, präzisen Rhythmus, das endet nach meiner Meinung im Drill, in der Militarisierung, Mechanisierung alles Menschlichen, in einem mißverstandenem Kollektivismus, das führt dazu, daß viele Kunstwerke vergewaltigt werden, daß der Geist sich der Disziplin unterwirft. Der Bewegungschor als Organismus, Entdeckung, Befreiung des persönlichen Rhythmus in jedem einzelnen, die Erziehung des Körpers zu seinen eigenen Gesetzen und die freiwillige Unterordnung aller Mitwirkenden unter die Melodie, unter den Geist eines Kunstwerks, das ist nach meiner Meinung die lebendige Form der Zukunft.

Der Lehrer, die Lehrerin darf dem Chor nicht die eigenen Bewegungsgesetze diktieren (jeder Körper hat neben den allgemeinen  auch seine eigenen Gesetze), sondern muß jeden der Schüler, der Schülerinnen zu den ihnen gemäßen Ausdrucksmitteln ermutigen. Die Voraussetzung dazu ist, daß in allen das Körpergefühl geweckt wird, daß alle das Organische begreifen lernen. Die Funktionen der verschiedenen Körperpartien müssen klar werden: immer hat der Mensch mit seinen Händen Gefühle ausgedrückt, immer mit seinen Beinen dem Rhythmus gedient. Die Hand hat zugegriffen, hat sich geballt und entfaltet, hat gebetet und gedroht, die Füße sind marschiert; der Tanz darf das nicht zerstören, nicht verdrehen. Gesicht, Hände, Oberkörper müssen Empfindungen, Melodie, Seele gestalten und die Beine den Takt, den Rhythmus in Körperbewegung übersetzen. Das ist organisches Grundgesetz, darauf baut alles andere sich auf.

Wenn das Körpergefühl, das Körperbewußtsein geweckt ist, muß jeder einzelne versuchen, Musik und Empfindung körperlich so auszudrücken, wie es seinem Wesen entspriht; der Lehrer soll Fehler korrigieren, aber den Schüler gelten lassen. Sind junge Menschen erst einmal fähig, persönliches Erleben mit ganzem Körper zu reproduzieren, dann müssen und werden sie lernen, sich einem Überpersönlichen, Geistigen, einem Kunstwerk unterzuordnen, den höheren Gesetzen einer Dichtung, einer Musik sich anzupassen, ohne auf ihr eigenes Wesen Verzicht zu leisten. Nicht die mechanische Gleichförmigkeit aller Bewegungen, nicht das Unisono, sondern die Harmonie der Körper ist das, was erstrebt werde n muß. Nur so kann ein Chor jedem Kunstwerk auf seine Weise gerecht werden, nur so vereinen sich Geist und Körper in einer schönen Synthese.

Der Bewegungschor wird sich in absehbarer Zukunft nicht nur auf sich selber beschränken, er wird ein wichtiges Element jedes Bühnenwerkes mit Massenszenen, der entscheidende Faktor großer sozialistischer Festspiele sein. Er wird die Menschen zur schönen, ausdrucksvollen Bewegung, zur Vergeistigung des Leibes erziehen.

Und solche Erziehung zu körperlicher Freiheit und harmonischer Unterordnung ist gleichzeitig eine Erziehung zu lebendigem Kollektivismus, zu produktiver Gemeinschaft.

In: Kunst und Volk, Nr. 6/1929, S. 177-179.

Oskar Strnad und Hans Brahm: Das Bild der Bühne

[Redakt. Vorbemerkung]

Wir wollen in diesen Blättern, unterstützt von zwei Führern des modernen Theaterwesens, Hans Brahm und Prof. Dr. Oskar Strnad, eine fortlaufende Erörterung der bedeutendsten Bühnenfragen in Wort und Bild geben.1

1. Gedanken über die Szene

Die Arbeit auf der Bühne ist die Arbeit von vielen, aber ein Geist muß sie alle beherrschen, der Geist, der Hörbares und Sehbares zur Einheit bringt. Diese Arbeit ist nur selten die Leistung eines Einzelnen. Daher ergeben sich oft Unstimmigkeiten zwischen dem hörbaren Spiel und der sichtbaren Szene. Gewöhnlich ist der Leiter des Spiels (der Regisseur) nicht auch Leiter der Szenengestaltung (das ist der Maler oder der Architekt). Nur dann, wenn Jener und Diese die gleiche Beziehung zur Bühne und dem dramatischen Spiele haben, kann eine einheitliche Wirkung von Wort, Spiel und Szene erreicht werden.

Ausgangspunkt muß die Fähigkeit sein, das dramatische Werk räumlich zu empfinden und es körperlich übersetzen zu können. Die dramatisch-räumliche Idee (Regie-Idee) muß gefunden werden. Für die handelnden Figuren muß die Atmosphäre geschaffen werden. Ihre aus der dramatischen//Handlung hervorkommenden Bewegung müssen weitergeführt werden in dem Linienzug alles Gegenständlichen, in Fußboden und Wänden, in Farbe und Licht und in ihren Verhältnissen zueinander. Das Ganze muß als Kunstwerk vom Alltag abgelöst und durch das Licht zu einer neuen Realität gebracht werden.

Der Bühnenrahmen trennt zwei Welten: die des Podiums im Licht der Fußrampe und die des Zuschauerraumes. Die Realität der Bühne ist nicht die des Alltags. Sie darf nur die körperlich-gegenständliche Vision des Dichters, nur die des suggestiven Spiels der Darsteller sein. Denn es wird auf der Bühne nicht wirklich gemordet, nicht wirklich geweint. Wohl ist auch hier z.B. die Tür wirklich eine Tür, ebenso wie der Schauspieler wirklich der Mensch ist. Aber so wie Dieser während des Spiels seine seelischen Grenzen jeweils innerhalb des dramatischen Werkes findet und nie sich selber zeigen darf (das ist ja die geheimnisvolle Atmosphäre des Schauspielers), ebenso hat auch die Tür ihre fest begrenzten, räumlichen Beziehungen zum übrigen Szenarium und auch zum Spieler, Beziehungen, die nur den strengsten dramatischen Notwendigkeiten entsprechen, und Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Die Szene darf daher niemals Selbstzweck sein. Sie muß immer eine den Geist des Werkes spiegelnde Wirklichkeit in „illusionärer“ Ferne bleiben. Sie darf keinen unmittelbaren, keinen messbaren Zusammenhang mit dem Zuschauer haben, wenn nicht das Gesetz der künstlerischen Einheit von Spiel und Raum verloren gehen soll.

Der innere Zusammenhang des dramatischen Spieles verlangt auch einen Zusammenhang des Szenenbaues. Beide haben ihren Höhepunkt, die die Konsequenz alles Vorangegangenen ist, der aber auch die Lösung des Ganzen schon in sich trägt. Körper, Linie, Farbe und Licht sind die Mittel der Szene: Körper und Linie enthalten die Struktur des dramatischen Rhythmus, die Farbe ist symbolischer Klang, das Licht Träger der neuen Realität, die wir Bühne nennen.

Die Mechanik und Technik der Bühne müssen geheim bleiben. Die Bühne soll immer „Theater“, also gemalte Leinwand sein. Aber sie muß auch den Zauber einer eigen-wirklichen Welt erreichen können, den der Vorhang öffnet und wieder schließt.

2. Regie und Dichtung

Es ist die Aufgabe des Theaters, dichterische Visionen transparent zu machen, Schönheit

Bloßzulegen, die Spannung der Konflikte übertragend zu erzeugen, kurz, nachzudichten. Bei starker Empfindung eines Inszenators für eine Dichtung kommt in ihm die Auslösung eines Gleichklanges mit dem Dichter zustande. In diesem Sinn wird „objektives“ Gestalten unmöglich. Natürlich muß unterschieden werden zwischen selbstherrlicher Überhebung, die sich inszenieren, und der Fähigkeit zur Einfühlung, die durch sich den Dichter inszenieren will. Die Absichten der modernen Regie, „frei“ zu gestalten, entspringen der Erkenntnis, umsetzen zu müssen, um nachdichten zu können. Der Hauptfaktor dieses Umsetzens ist das gestaltende Nacherleben des alles umfassenden Regisseurs. Er ist Ausdruck eines Ensemblewillens. (Ensemble ist alles auf der Bühne: Szenenbau, Farbe, Beleuchtung, Kleidung, also nicht nur die Schauspieler.) So tritt der Regisseur als Stellvertreter („Übersetzer“) des Dichters in den Vordergrund.

3. Der Szenenbau des „Hamlet“

Dass „Übersetzung“ nichts mit „Kommentierung“ zu tun hat, zeigt unser „Hamlet“. Der Versuch der Deutung der „Auffassung“ eines so alles enthaltenden Werkes ist absurd. Hier gibt es also nur die Forderung: Neutralisierung der Szene auf der Basis eines hohen tragischen Geschehens.

Die Grundfeste unseres Projekts ist ein reich gestufter Aufbau, dessen drei ungleich hohe Erhebungen einen zentral gelegenen Raum, den ruhenden Pol des Ganzen begrenzen. Die drei Erhebungen tragen schwere quadratische Säulen, welche das einemal Terrassentürme, um die der Geist umherstreicht, bedeuten sollen, das anderemal – durch jeweils andersfarbige Drapierung verhängt – die verschiedenen Räume des Schlosses zur Vorstellung bringen. Durch Säulen entstehen Gänge: die wilden und unruhigen, unheimlichen Begegnungen, das Wandeln auf Galerien, das Behorchen, Vorbeischleichen und Verstecken findet hier seine Spielmöglichkeiten. Oft stehen nur zwei oder steht nur eine Säule da, je nach dem Raumbedarf. In freier Gegend (Fortinbras) fehlen die Säulen ganz, dann ist die Szene ein Wiesenhügel. Ähnliches gilt für die Kirchhofszene, wo nur eine zu äußerst stehende Säule die Ecke des Kirchturms bedeutet, sonst alles Grabhügel ist. Die unverändert bleibende Bühnenmitte ist der Raum für besonders hervorgehobene Momente, zum Beispiel für die Schauspielerszene, für den Tod Hamlets.

Gedämpftes Rot ist die Farbe von Grundfeste und Säulen, um die sich nach allen Seiten unendliches Dunkel breitet, wechselndes Licht variiert die Szene, der einfache Schnitt der Gewänder neutralisiert auch diese, lediglich die Farben unterscheiden ihre Träger.

Einfache Größe, umrandet vom Mannigfaltigen, Unruhigen, Dunklen und Fernen – das ist der Szenenbau des Hamlet.

In: Das Zelt. Eine Juedische Illustrierte Monatsschrift. H.1(1924), S. 37-39. Nachgedruckt in: I. Meder, E. Fuks (Hgg): oskar strnad 1879-1935. Salzburg-München 2007, S. 125-126.

  1. Dem Text ist als Illustration ein Bühnenbild Strnads zur Hamlet-Inszenierung beigegeben. Der Hamlet wurde zwischen März und Mai 1924 auf dem Burgtheater gegeben.

David Josef Bach: Die Kunst und der neue Staat.

             Inmitten der Katastrophe, die unser ganzes Dasein bedroht, gibt es noch immer Theaterkrisen! Die Hoftheater sind’s, die uns jeden Tag eine Nachricht bescheren. Nur die eine nicht, die einzige, die Wert und Sinn hätte, die nämlich, daß – endlich – Ordnung, die neue Ordnung auch hier eingezogen sei. Krisen, das ist die Unruhe eines Gebildes, das niemandem, kaum sich selber gehört, eines Gebildes, das, des Zusammenhanges mit seinem Ursprung, dem Bewußtsein einer ganzen Nation, längst beraubt, aus seinem Scheindasein die Berechtigung zu täuschenden Lebensäußerungen schöpfen will. So entstehen ‚Krisen‘, diese Nichtigkeiten eines Nichts. Also hatten wir just diese Woche eine Krise im Burgtheater. Eine vielköpfige Direktion, oder welchen Namen immer das Ungetüm hatte, war natürlich von Haus aus ein Unsinn. Er wird jetzt nicht sinnreicher, daß Herr Heine, wie die letzte Meldung sagt, ‚Leiter‘ des Burgtheaters, Hermann Bahr ‚erster Dramaturg‘ und Herr Robert Michel ‚Burgtheaterreferent‘ in der Generalintendanz wird. Eine Generalintendanz gibt es noch immer!

             Wir haben schon vor langer Zeit auseinandergesetzt, welch einzigen Zweck solch eine Intendanz haben könnte: die Umwandlung der Hoftheater in Nationaltheater verwaltungsrechtlich vorzubereiten. Wir erneuern heute die Forderung, die Hoftheater in Nationalbühnen zu verwandeln. Das ist keine Laune, kein ästhetischer Einfall, sondern das gehört einfach zu den kulturellen Lebensbedingungen des deutschen Volkes in Österreich. Zu dieser Umwandlung bedarf es jetzt keiner vorgesetzten Behörde mehr, es genügt der Wille des Volkes, ausgedrückt durch einen Entschluß des Staatsrates. O, es gewiß, es gibt dabei staatsrechtliche und finanzielle Fragen aller Art zu regeln. Aber zuerst komme die Tat und nachher die Regelung, die Abrechnung. Wenn es möglich war, unser Leib und Gut zu beschlagnahmen, zu verkaufen, zu verschenken, zu verraten, gegen ‚nachträgliche Abrechnungen‘, so muß es möglich und erlaubt sein, künstlerische Werke zu beschlagnahmen, um sie vor dem Untergang zu schützen, um ihnen erst neue Daseinsberechtigung als Gemeingut der Nation zu verleihen. Die materielle Tatsache muß geschaffen werden, um die wichtigere, die Einverleibung in das Bewußtsein des Volksganzen, sich vollziehen lassen zu können. An sich genügt jene durchaus nicht. Ein Theater zum Nationaltheater erklären, ist leicht; es dieser Aufgabe anzupassen, schwer, und keinesfalls die Sache jener, die bisher die Hoftheater verwüstet haben wie etwa dieser gegenwärtig Operndirektor, der aus der Hofoper ein internationales Kurtheater von der Art, nicht vom Range und schon gar nicht vom Erfolg etwa des Theaters in Monaco zu machen bestrebt war; das Wunder wäre ja auch gewesen, wenn nicht das Theater darüber gestorben wäre…

             Aber es sind nicht die Hoftheater allein, die augenblicklich in Betracht kommen. Ungeheure Werte, die dem Volke gehören und gehören müssen, sind in den öffentlichen Sammlungen, in Museen, in Bibliotheken angehäuft. Sie zu schützen, sie nutzbar, wirksam, lebendig zu machen ist die nicht zu unterschätzende Sorge des neuen Staates. Der Weg dafür ist klar, und er muß betreten werden. Ohne Zaudern und ohne Empfindsamkeit.

In: Arbeiter-Zeitung, 5.11.1918, S. 7.

Fritz Rosenfeld: Hier wird Theater gespielt. Granowsky-Gastspiel im Carl-Theater

             Ausdruck der Zeit ist das Theater nicht nur, wenn es sich mit aktuellen Problemen auseinandersetzt und Tribüne wird, von der lebendiger Einfluß auf das Bewußtsein der Menschen ausgehen soll; Ausdruck der Zeit ist es auch, wenn es der andern Aufgabe der Kunst dient: den Menschen die Kümmernisse der Zeit überwinden zu helfen. Je düsterer eine Epoche ist, um so größer wird ihre Sehnsucht, der Wirklichkeit zu entfliehen. In satten und ruhigen Zeiten bejaht und verherrlicht darum die Kunst die Wirklichkeit, in zerrissenen und aufgewühlten strebt sich von der Wirklichkeit weg in die Vergangenheit oder in ein Phantasiereich. So kommt es, daß in den aufgeregtesten Jahren der russischen Revolution, mitten in Junger und Bürgerkrieg, neben dem Moskauer Proletkult und dem politisch-aktivistischen Theater Meyerholds, dem „Theater der Revolution“, auch andre Bühnen entstanden, die nur Theater der ästhetischen Revolution sein wollen. In strenger Abkehr vom Vorkriegsnaturalismus Stanislawskys schufen Tairow und die „Habima“ im konstruktivistisch gestalteten Bühnenraum eine neue Theaterkunst, die ganz auf den Rhythmus und den intensiven schauspielerischen Ausdruck gestellt ist und Musik und Tanz zu organischen Bestandteilen des Sprechstücks werden läßt. Tairow will wuchtige, tragische, symbolhafte oder grotesk-komische Wirkungen erzielen; die „Habima“ ist ekstatisches, religiöses Theater, bedeutet beinahe eine Rückkehr zum kultischen Ursprung der Tragödie. In manchen Ausdrucksformen diesen Theatern ähnlich, aber in Geist und Absicht von ihnen grundverschieden ist das Moskauer Jüdisch-akademische Theater Alexis Granowskys, das nach seinem Siegeszug durch ganz Europa nun auch in Wien im Carl-Theater gastiert.

             Das Theater Granowskys ist kein Theater der Probleme, der Symbole, der religiösen Besessenheit; es ist kein Theater der spielerischen, rein komödienhaften Wirkungen. Es geht wieder von einem Anfangsstadium aus, in dem die Bühne nicht das Reich des Dichters, sondern des Schauspielers war, es macht den Schauspieler auch wieder zum Tänzer und Sänger und läßt Wort, Musik und Bewegung zu einem, von einheitlichem Rhythmus gebundenen Ganzen zusammenklingen. Als Nurtheater hat es kein „literarisches“ Repertoire; seine Stücke sind meist Schauspielerstücke. Scholem Aleichems Lustspiel „Der Haupttreffer“, das Granowsky zu der musikalischen Komödie „200.000″ umformte, wurde vor einigen Jahren in seiner ursprünglichen Fassung vom Amerikanisch-Jiddischen Kunsttheater in Wien aufgeführt. Es ist eigentlich nur eine Anekdote, die der Dichter zu einem Milieu- und Charakterbild ausgestaltete. Ein armer Schneider gewinnt das große Los, wird protzig, fällt aber zwei Betrügern in die Hände, verarmt wieder und kehrt in seine enge Schneiderwerkstätte zurück. Wie die meisten Stücke der jiddischen Theaterliteratur hat auch der „Haupttreffer“ sozialen Einschlag; zeigt er doch die Bedeutung des lieben Geldes für die gegenseitige Stellung der Menschen. Scholem Aleichem war es aber hauptsächlich darum zu tun, im Rahmen dieser Fabel eine Reihe typischer Figuren aus dem russischen Getto auf die Bühne zu bringen. Diese typischen Gestalten behält Granowsky bei; aber er nimmt das Stück nicht als einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, sondern als unbeschwertes Spiel von Figuren, die aus der Realität in eine luftige und leichte Komödienwelt hinausgehoben werden. Sein Theater wird auch nicht von den Kulissen der realistischen Illusionsbühne abgegrenzt; die Szene soll keine Schneiderwerkstätte und keinen Tanzsaal darstellen, sondern nur gegliederter Raum für den Schauspieler sein. Daher begnügt er sich mit der Andeutung von Dekorationen und Möbelstücken. So weit entfernt sich Granowsky vom realistischen Theater, daß er ohne Requisiten spielt. Die Schneider nähen mit unsichtbaren Nadeln unsichtbaren Stoff, den Gästen wird unsichtbarer Wein in unsichtbaren Gläsern vorgesetzt, ein unsichtbarer Scheck wird mit einer unsichtbaren Feder unterschrieben. Es kommt dem Regisseur eben nur auf die Bewegung an, die die Menschen bei einer Tätigkeit ausführen, nicht aber auf diese Tätigkeit selbst.

             Bewegung ist das Hauptwirkungsmittel dieses ganz unsentimentalen, auf keinerlei „Stimmungseffekte“ ausgehenden Theaters. Kaum einen Augenblick lang stehen die Schauspieler still; sie laufen, tanzen, springen, werfen sich auf den Boden, bilden Gruppen, die sich schnell wieder lösen. Alle diese Bewegungen, mit unerschöpflicher Erfindungsgabe erdacht, ohne toten Punkt aneinandergereiht, sind mit Wort und Musik feinsinnig zu einer rhythmischen Einheit abgestimmt. Die Musik, die den Rhythmus angibt, hat Leo Pulver nach jüdischen Volksmelodien zusammengestellt.

             Auch das Wort dient bei Granowsky nicht nur dem Austausch der Gedanken, sondern wird Ausdrucksmittel des Theaters. Daher geht das gesprochene Wort in das gesungene über, das gesungene Wort wieder in den einzelnen Vokal oder den rhythmischen Zischlaut. Die Uebergänge zwischen den Sprech- und Singformen sind fast ganz abgeschliffen. Man muß nur an das oft peinliche Nebeneinander von gesprochenem und gesungenem Wort in Oper und Operette denken, um die Kunst abschätzen zu können, mit der Granowsky Dialog und Gesang zwingend auseinander entwickelt. Das ist das Wunderbare dieser leichtbeschwingten, nur aus dem Rhythmus geborenen Theaterkunst: sie beansprucht keine „Wahrscheinlichkeit“, sie verzichtet auf alle Mittel der Wirklichkeitsillusionen, und doch ergibt sich jede Einzelheit, auch die groteske und karikaturistische, als selbstverständlich und notwendig. Weil jede Geste und jeder Tonfall so sein müssen, wie das Temperament und der Theaterinstinkt Granowskys sie formten, weil kein Wechsel von Gang und Tanz, Sprechen und Singen willkürlich ist, wird die Inszenierung ein vollkommenes Bühnenkunstwerk, das durch Schwung und Witz den Zuschauer widerstandslos mitreißt.

             Dieses Theater des Schauspielers ist aber kein Theater der Schauspielerindividualität und schon gar kein Theater der Stars. Es beruht auf der darstellerisch-tänzerischen Wirkung eines präzis eingearbeiteten Ensembles. Das Ensemble bleibt nicht „Chor“ im Sinne der Oper oder Operette, es ist immer Hauptakteur, es ist Träger des Geschehens selbst dann, wenn ein einzelner es ausführt. Auch die nächtliche Entführung eines Mädchens ist bei Granowsky eine Ensembleszene. Um so höher muß man die Leistung des Hauptdarstellers Michaels werten, der sich auch inmitten dieser kollektivistischen Bühnenkunst, ohne ihren Prinzipien zu widersprechen, als großer Charakterspieler erweist. Die andern wichtigen Rollen in „200.000″ tragen die Damen Rottbaum und Romm, die Herren Gärtner, Guskin, Goldblatt, Rey und Finkelkraut.

             Das dichtbesetzte Haus stand vom ersten Aufgehen des Vorhangs an im Banne der Regiekunst Granowskys; der Beifall steigerte sich von Akt zu Akt und ging am Schluß in Ovationen für die Mitglieder der Truppe über. Das Theater Granowskys, auch ein „entfesseltes Theater“, entfesselt nämlich von Steifheit und Schablone und beherrscht von Geist und Tempo der Gegenwart, hat sich auch das Wiener Publikum erobert.

In: Arbeiter-Zeitung, 2. September 1928, S. 12.

Oberspielleiter Dr. Fritz Peter Buch: Ein Drama der Revolution. Zur Aufführung des Dramas „Brülle China!“ von Tretjakow im Neuen Wiener Schauspielhaus.

             Als ich im Sommer vorigen Jahres die Rohübersetzung von „Brülle, China!“ in die Hand bekam, war ich einigermaßen erstaunt über die scheinbare Dürftigkeit dieses Szenengerüstes, das kaum die Hälfte von dem normalen Umfang eines Theaterstückes betrug. Neun kleine Szenen, oft nicht länger als drei bis vier Seiten, in einer kargen, sehr knappen Sprache, ganz wenigen, nicht sehr aufschlußreichen Regieanweisungen, vielen Personen, von denen jede ganz wenig zu reden hatte. Ich las zwei-, dreimal und war doppelt erstaunt, als ich allmählich fühlte, was für ein Reichtum an Phantasie, an szenischer Vorstellungskraft in diesem skizzenhaften Gebilde steckte. Als ich daranging, das Regiebuch für die deutsche Uraufführung in Frankfurt herzustellen, wurde mir klar, daß hier nicht ein Dichtwerk geschaffen werden sollte, dessen Schwerpunkt in der formalen Vollendung liegt, sondern daß ein ergriffener Mensch einem Erlebnis seiner unmittelbarsten Gegenwart, das ihn tief erschüttert hatte, den einfachsten und stärksten dramatischen Ausdruck gab. Es lag also für den Regisseur, der dieses Szenarium für das Theater lebendig zu machen hatte, nahe, vor allem auf den Tatsachenbestand selbst, den das Stück zu gestalten versucht, zurückzugehen.

             Im Sommer 1925, als die fortschreitende nationale Erhebung Chinas zu einer Verschärfung des alten Konflikts zwischen China und den fremden imperialistischen Mächten führte, die sich aus Handelsinteressen im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr in die innerchinesischen Verhältnisse eingemengte hatten, kam ein amerikanischer Kaufmann in Wanxian, das ist eine Stadt am Oberlauf des Jangtsekiang, bei einem Streite mit einem chinesischen Bootsführer ums Leben. Der Kapitän eines englischen Flußkanonenbootes erzwang, als man den angeblich Schuldigen nicht ermitteln konnte, unter dem Drucke seiner Geschütze gegen jedes Völkerrecht die Hinrichtung von zwei an dem Vorfall ganz unbeteiligten Schiffern. Die Empörung der Volksmassen wurde in diesem Falle mit Mühe zurückgehalten. Als aber ein Jahr später der Kapitän desselben Kanonenbootes wegen eines ähnlichen Zwischenfalls – er hatte zwei chinesische Dschunken gerammt und weigerte sich, Ersatz zu leisten – mit den Behörden der Stadt Wanxian abermals in Konflikt geriet, kam es zu Zusammenstößen der Schiffsmannschaft und einigen Kulis; im Verlauf dieser Zusammenstöße legte der englische Kapitän eigenmächtig die Stadt Wanxian durch die englischen Schiffsgeschütze in Trümmer, wobei nach englischen Meldungen dreitausend, nach amerikanischen sogar fünftausend an den Vorfällen unbeteiligte Chinesen ums Leben kamen. Tretjakow hat diese zeitlich auseinanderliegenden Ereignisse zusammengezogen und daraus ein Stück voll leidenschaftlicher Anklage gegen die Uebergriffe imperialistischer Kolonialmächte in wehrlos gemachten und wirtschaftlich unterworfenen Gebieten geformt. Dem Ursprung und der Absicht des Stückes entspricht es, daß die Handlung nicht von einer individualistischen Heldengestalt getragen wird, sondern von einer Gruppe chinesischer Kulitypen, hinter denen das ganze, seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit beraubte chinesische Volk steht. Die Typisierung der Gestalten und des Konflikts erweitert den sozial-kritischen Horizont des Stückes; sein Schauplatz könnte auch Indien oder Südafrika sein, wo ja aus ähnlichen Ursachen stammende Reibungen auf der Tagesordnung sind. Der Dichter hat diese historischen Tatsachen nicht mit kalter Nüchternheit aufgezeichnet, sondern mit menschlicher Wärme durchglüht.

             Um auf der Bühne die unmittelbar lebendige Wirkung zu erzielen, die dem Dichter vorgeschwebt hat, muß auch die Inszenierung den Wirklichkeitsgehalt der dramatischen Fabel betonen. Ich bringe im Lichtbild eine Reihe von dokumentarischen Belegen, die die tatsachenmäßige Grundlage der Handlung dem Zuschauer nahebringen sollen. In der schauspielerischen und szenischen Gestaltung des Stückes wird versucht, einen sozusagen photographischen Realismus zu geben und die Grenzen des Sprechtheaters durch die Einbeziehung des Films und dem Film entlehnter mimischer Ausdrucksmittel zu erweitern. Auch die Verwendung einer Vorderbühne, die die Geschehnisse näher an das Publikum heranträgt, liegt in der Absicht des Dichters nach einer möglichst unmittelbaren und eindringlichen Wirkung. Aus diesem Bemühen um einen dokumentarischen szenischen Stil ergab sich bei der Frankfurter Aufführung die Beziehung eines chinesischen Assistenten, dessen Mitarbeit sich auch in der Wiener Inszenierung auswirkt.

In: Arbeiter-Zeitung, 26. April 1930, S. 9. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

B.: Theater, Kunst und Musik. „Brülle, China!“. Schauspiel von S. Tretiakow

(Neues Wiener Schauspielhaus.).

             Ein reichlich großmauliger Titel. Aehnlich jenem Plakat eines Kleiderhauses, auf dem ein Mann den Mund sperrangelweit aufreißt. Und gleichwie die Worte, die dieser Mann hervorstößt, mit ihren ersten Buchstaben ganz klein zwischen seinen Lippen stehen und mit ihren letzten riesengroß draußen in der Luft schwimmen (eine höchst unlogische Vorstellung, weil ganz im Gegenteile die erstgesprochenen Buchstaben gewissermaßen schon groß draußen im Raume schweben müßten, während die letzten eben neugeboren dem Gehege der Zähne entspringen), so plakatiert auch das Schauspielhaus auf dem Theaterzettel und auf den Wandtafeln sein „Brülle, China!“ in schiefer, rapid anschwellender Schrift, mit einem winzigen B beginnend, mit einem großmächtigen A schließend. Höchst apart, in der Tat! Jetzt wissen wir, wie chinesisches Gebrüll graphisch darzustellen ist. Phonetisch macht uns die Regie des Herrn Fritz Peter Buch mit ihm bekannt: Es erweist sich als widerlicher, mißtönender, demagogischer Lärm.

             Dieses angebliche Schauspiel des Russen S. Tretiakow dürfte dem Programm jener revolutionären Machwerke angehören, mit denen Sowjetrußland die übrige Welt belästigt. Der Tretiakow mischt sich da frech in eine Sache hinein, die ihn einen großen Schmarren angeht, nämlich in einen chinesisch-englischen „Zwischenfall“, der Jahre zurückliegt und, wenn er sich überhaupt so zugetragen hat, wie er hier geschildert wird, längst abgetan ist. Damals nämlich soll der Kapitän eines englischen Kriegsschiffes zur Sühne dafür, daß ein Amerikaner im Streit mit einem Chinesen ertrank, von den Einwohnern der Stadt Wansien unmenschliche Sühne verlangt und, da der wirkliche Täter nicht aufzutreiben war, zwei Geisel aufgeknüpft haben. Solche Grausamkeiten, wo und wann immer sie sich ereignen mögen, kann niemand schärfer verurteilen, als wir Christen, für ihre Opfer kann niemand aufrichtigeres Mitleid empfinden, als wir. Mit welchem Rechte aber heuchelt der Vertreter einer Weltanschauung Entrüstung und Mitleid, die den Martertod ungezählter Christen in Rußland, in Mexiko auf dem Gewissen hat, die das Blutregiment eines Bela Kun, den Geiselmord der Münchner Räteregierung zu ihren Ruhmesblättern zählt, die allerorten Mord und Greuel zum Parteidogma erhoben hat? So unerfindlich es ist, mit welchem Rechte er dies tut, so durchsichtig ist es, zu welchem Zwecke: Aus dem Einzelvorfall, der freilich jedem fühlenden Menschen ans Herz greifen muß, formt er revolutionäre Haßpropaganda. Eine Art von „Haßgesang wider England“. Dabei kommt es ihm nicht darauf an, die ganze weiße Rasse maßlos zu beschimpfen und zu verunglimpfen: Sie alle, die da, von geschäfts- oder berufswegen nach China kommen, Amerikaner und Engländer, sind wahre Bestien, beuten die armen Chinesen aus, mästen sich an ihren Hunger, mißbrauchen ihre Töchter, demütigen und kujonieren sie auf jede nur mögliche Art. Während die zum Tode geängstigten Gelben zitternd die beiden Opfer auslosen, tanzen die Europäer auf dem Kriegsschiff, spielen Tennis, flirten und singen zur Feier des blutigen Ereignisses das „God save the king“. Der katholische Missionär, die fromme Engländerin, auch sie, herzlose Scheinschriften, höhnen mitleidslos die gepeinigten Chinesen. Keine einzige fühlende Brust unter diesen Larven. Seht ihr, sagt Tretiakow triumphierend, so schaut die sogenannte Kultur aus! Die Wilden sind doch bessere Menschen! Da gibt es nur ein einziges Mittel: Revolution! Haut sie nieder, diese fremden Eindringlinge, murkst sie ab, erhebe dich, brülle China! Früher wird keine Ruhe sein. Ueberhaupt – so erzählt ein Kuli, der Herr Jakob Feldhammer – haben sie es drüben in Europa schon längst so gemacht, die Mächtigen, die Bedrücker gestürzt, davongejagt, sich ihre Menschenrechte erkämpft. Na also . . .

             Dieser Jakob Feldhammer, Direktor des Neuen Wiener Schauspielhauses, hat sich eine recht bequeme Rolle ausgesucht: Der Kuli hetzt nämlich fortgesetzt aus sicherem Hinterhalte, erzählt den armen Schiffern, jeder müsse die revolutionäre Kunst erlernen, für den anderen zu sterben, dabei fällt es ihm nicht entfernt ein, sich freiwillig für den alten Todeskandidaten oder für den gleichfalls zum Strick verurteilten Familienvater zum Sterben zu melden. Daran erkennen wir dich, du tapferer Revolutionär! Nur immer die anderen in den Tod geschickt, mein mutiger Phrasendrescher!

             Ein starkes Theaterstück? Mag sein. Gepeinigte Menschen in ihrem Leid zu sehen, ist immer „starkes“ Theater. Aber sicherer noch ist diese Aufführung in Wien ein starkes Stück. Es wird an einem Theater gewagt, das brave Währinger Bürger aus ihren mühsamen Ersparnissen zum Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Josef bauten. Es wird mit all seiner maßlosen Verunglimpfung der englischen Nation in einer Zeit gewagt, da der österreichische Bundeskanzler in London herzliche und wertvolle Freundschaftsbeweise empfängt.

             Die Leistungen der einzelnen Darsteller zu würdigen müssen wir uns versagen. Die Regie des Fritz Peter Buch klappte ausgezeichnet. Gut gebrüllt China! Ein offenkundig parteimäßig eingestelltes Publikum raste vor Entzücken. Gut gebrüllt, Wien!

In: Reichspost, 4.5.1930, S. 13. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

N.N.: „Brülle China“. Neues Wiener Schauspielhaus.

             In der dumpfen schwülen Wüste des völlig geistlosen, bürgerlichen Wiener Theaters eine kleine Oase. Sie sticht umsomehr von der Umgebung ab. Sie kommt für die Arbeiterschaft gerade dieser Stadt umso überraschender und kann deshalb mit umso größerer Freude begrüßt werden, weil das Theater in Wien überhaupt aufgehört hat, auf die Arbeiterschaft, die zu neunzig Prozent die Bevölkerung Wiens bildet, irgendwie Rücksicht zu nehmen. In keiner anderen Stadt z. B. Deutschlands wäre es möglich, daß ein solcher Kurs in den Theatern eingeschlagen wird wie in Wien, wo nahezu sämtliche Theater völlig abhängig sind von der Sozialdemokratischen Kunststelle und der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung. Darüber wird noch zu sprechen sein.

             Aktuelles Theater. Ein Ausschnitt aus den Kämpfen, den brennendsten Kämpfen der Gegenwart. Das bedeutendste Ereignis des gegenwärtigen Weltgeschehens: der Befreiungskampf der unterdrückten Kolonialsklaven, die Flammenzeichen gegen die imperialistischen Unterdrücker. Ein Russe, Genosse Tretjakow, hat ein bewußtes Tendenzstück geschrieben, das von Meyerhold in einer Weise inszeniert wurde, die in der ganzen Welt Beifall und Aufsehen erregte. Beide, Tretjakow und Meyerhold, haben damit neuerlich den Beweis geliefert, daß ein wirkliches Kunstwerk, das imstande ist, die Massen zu erfassen und mitzureißen, nur entstehen kann aus dem kämpfenden Leben bei eindeutiger und klarer Stellungnahme. Das ist verpönte „Tendenz“, die das Bürgertum und mit ihm auch die Sozialdemokratie aufs tiefste haßt und ablehnt.

             Die Handlung, die der Wirklichkeit entnommen wurde: Ein amerikanischer Kaufmann kürzt den Kulis, die ihn Lasten schleppen, den kärglichen Hungerlohn. Er beginnt auch mit dem Schiffer, der ihn auf einem kleinen Boot vom englischen Kriegsschiff an Land bringt, Streit wegen des Fuhrlohns, versucht dem Chinesen das Ruder zu entreißen, um ihn damit zu schlagen. Er kommt aber dabei selbst zu Fall, stürzt, fällt über Bord und ertrinkt. Viele Zeugen haben vom Ufer aus den Vorfall beobachtet, auch die Offiziere. Dennoch verlangt der Kommandant des „Kanonenboots Seiner Majestät des Königs von England“ von der Stadt Wanshien Sühne für den „Mord“. Entweder sofortige Hinrichtung des Schiffers, in dessen Kahn der Kaufmann fuhr oder – da dieser von den Schiffern versteckt wird – Hinrichtung von zwei Mitgliedern der Schiffergilde. Falls diese Forderung bis zum nächsten Tag nicht erfüllt ist, wird die Stadt bombardiert. Der englische Journalist drahtet an die Weltpresse: „Schamlose Ueberfälle von Chinesen auf Europäer, drei Kaufleute ermordet, als Auftakt zu weiteren Morden.“ Ein Telegramm der chinesischen Behörden wird nicht befördert. Die Chinesen sagen: „Auch ein englischer Kapitän muß sich in seinen Forderungen mäßigen, wir werden uns beim sozialistischen Ministerpräsidenten von England beschweren“. „Ich kenne keinen solchen“, antwortet der Kapitän, „ich kenne nur einen Ministerpräsidenten Seiner Majestät, des Königs von England.“

             Die Masse der verhungernden Kulis, die um sich vor dem Hungertod zu retten, ihre Kinder und Frauen für ein paar armselige Münzen an Europäer verkaufen, beginnt zu rebellieren. Noch kennen sie nicht den Grund ihrer Unterdrückung, noch haben sie kein Klassenbewußtsein. Allmählich – und das bringen Autor und Regisseur meisterhaft zum Ausdruck – dringt die Erkenntnis durch, daß die Kulis ganz Chinas zusammenstehen und kämpfen müssen gegen die Unterdrücker. Die Kulis fragen nach Recht. „Für euch gibt es keins“, antwortet einer aus ihrer Mitte, „ihr werdet getreten, geschunden, geköpft, euch nimmt man euer Land, weil ihr arm seid.“ Die Chinesen gehen nochmals aufs Kanonenboot, um den Kapitän zu bitten, von dem Mord an den Schiffern abzulassen. Der chinesische Bürgermeister erniedrigt sich vor dem englischen Offizier, kniet vor ihm nieder. Aber je mehr sich die Chinesen erniedrigen, desto frecher werden die Bedrücker. (So ist es nicht nur in China!) Zwei Schiffer werden ausgelost, um dem imperialistischen Blutsauger als Opfer vorgeworfen zu werden. Die ganze Stadt würde sonst in wenigen Stunden in Flammen stehen. Ein Kuli stirbt für den andern! Das Klassenbewußtsein beginnt, feste Formen anzunehmen. „Sag mir einen von jenen, die sich gegen die Ausbeuter auflehnen und sie zusammenschlagen, sag mir einen, ich will mittun.“ Der andere Kuli, ein Wissenderer, antwortet: „Du, ich, er, wir alle!“

             Die beiden Schiffer werden zur Richtbank geschleppt, der Kapitän ist unerbittlich. „Hier stehe ich und keine Macht der Welt kann mich zwingen, diesen Platz zu verlassen.“ Es fehlt nicht der Millionär, der den Mord mitvorbereitet hat und nun Krokodilstränen vergißt, von den Chinesen aber schroff abgewiesen wird, es fehlt nicht die Wohltätigkeitsdame, die verspricht, den kleinen Sohn des ermordeten Schiffers in ein Waisenhaus zu bringen.

             Das Programm des Kapitäns ist erfüllt. Stolz und auf die Chinesen zynisch herabblickend, will er sich entfernen. Aber da geht auch die Geduld der Kulis zu Ende, der Sturm bricht los und unter den derben Fäusten der Proleten bricht der „Offizier Seiner Majestät, des Königs von England“ und Seiner Exzellenz, des sozialistischen Ministerpräsidenten Macdonald tot zusammen. Schon krachen auch die Salven vom Kanonenboot gegen die Stadt Wanshien, aber die Kulis sind zu einer eisernen Masse zusammengeschweißt, vorwärts, aufwärts geht es unter der Fahne Sunyaisens. Aufschreien die Kulis: „Brülle, China!“

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             Der Originaltext wurde an einigen Stellen geändert. So wurden alle Hinweise auf die Sowjetunion, die die Kulis im Kampfe gegen die imperialistischen Unterdrücker unterstützt und wegweisend voranschreitet, gestrichen. Der revolutionären Kraft des Stückes konnte aber dadurch nicht Abbruch getan werden.

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             So wirksam wie das Stück selbst ist die Regie Fritz Peter Buchs, die für Wien eine wahre Revolution bedeuten könnte, wenn wir nicht wüßten, daß nach dieser kleinen Oase wieder endlose schwüle geisttötende Wüste kommt. Auch die Darstellung steht durchaus auf dem gleichen künstlerischen Niveau.

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             Die Wiener Arbeiter haben es sich im Lauf der Jahre abgewöhnt, ins Theater zu gehen und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die proletarischen Massen dieser Stadt nur sehr spärlich ins Schauspielhaus strömen. Bezeichnend für die sozialdemokratische Kunststelle ist es, daß sie wohl Operettentheater und Bühnen, die allen erdenklichen Mist und Schund aufführen, füllt, bisher aber nicht die Massen auf das wirklich revolutionär-proletarische Stück „Brülle, China!“ aufmerksam machte.

             Es ist zu hoffen, daß die Direktion des Schauspielhauses, die in Tretjakows Stück nichts als ein Kunstwerk sieht und glaubte, damit gute Geschäfte zu machen, auch den revolutionären Arbeiterorganisationen den Besuch von „Brülle, China!“ durch Abgabe von ermäßigten Karten ermöglicht. Kein Arbeiter soll die Möglichkeit, einmal in einem Wiener Theater ein aktuelles revolutionäres Stück, geschrieben von einem russischen Genossen, zu sehen, ungenützt vorübergehen lassen.

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             Die gesamte bürgerliche Presse brüllt auf. Skandal! Bolschewisierung des Theaters! Verbieten! – Wir erwähnen das als Bestätigung der Richtigkeit des von uns vorher Gesagten.

In: Die Rote Fahne, 7. Mai 1930, S. 5. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Bidens: Theater und Kunst. Revolutionstheater im Neuen Wiener Schauspielhaus. Die Erstaufführung von „Brülle, China!“

             Es ist ein müßiges Beginnen, dem Publikum einreden zu wollen, daß Tretiakows „Brülle, China!“ kein bolschewistisches Propagandastück ist. Man abstrahiere einmal vom chinesischen Milieu, setze statt der Werte „Engländer“ und „Kuli“ die Begriffe „Unternehmer“ und „Angestellter“ und das schönste kommunistische Hetzdrama ist fertig. Man führe nicht an, daß Gerhart Hauptmann in seinen „Webern“ gleichfalls den Konflikt zwischen Lohnherren und Lohnsklaven dramatisch verwertet hat. Zunächst ist Gerhart Hauptmann ein Dichter, der Licht und Schatten gleichmäßig verteilt, dem brutalen Geldmenschen Dreißiger den skrupellosen politischen Abenteurer Moritz Jäger gegenübergestellt hat. Und dann sind die „Weber“ aus der Zeit geschöpft. Wo gibt es aber heute noch einen Befreiungskampf der Unterdrückten? Die Gesellschaft ist vielmehr gezwungen, gegen die Ueberhebung, gegen den Terrorismus der arbeitenden Klassen Gesetze zu erlassen oder wie in Rußland in Knechtschaft zu versinken, die schlimmer ist als die vielverlästerte Gewaltherrschaft eines auf dem Altar einer Schlagwortfreiheit geopferten absolutistischen Regimes. Erst künftige Geschlechter werden den Fluch einer Neuordnung büßen, die allen physikalischen und logischen Gesetzen zum Trotz die Rädchen einer Maschine über den Motor stellt.

             Wem außer Herrn David Bach und seiner Kunststelle will Direktor Feldhammer zu Gefallen sein, wenn er diese dramatische Hetzrede, in der noch der heiße Atem fanatischer Moskauschergen glüht, nach Wien verpflanzt? Wer an der Währingerlinie, deren Anrainer doch für das Neue Wiener Schauspielhaus in erster Linie als Publikum in Betracht kommen, hat Interesse dafür, was am Rande der Wüste Gobi vorgeht? Gut, die mit allem Haß des enragierten Kommunisten gezeichneten kapitalistischen Gewalthaber sind gegen die einheimische Schifferbevölkerung schonungslos und ungerecht vorgegangen. Hat man aber die Greueltaten eines Bela Kun, eines Tibor Samuely ganz vergessen, die, bedeutend näher einem Kulturzentrum, sich gegen wehrlose Bürger ausgetobt haben?  Wem stehen also die Herren zu Diensten? Grausamen Terror hat es überall und jederzeit gegeben, wenn eine Partei oder eine Volksschichte in Gefahr war, die Herrschaft zu verlieren. Merkwürdig war nur, daß die durch einen Umsturz in die Höhe gekommenen „Befreiten“ immer viel bestialischer und hemmungsloser gehaßt haben als die besiegten „Unterdrücker“.

             So werden denn auch in „Brülle, China!“ Wort und Handlung nicht vom Schwung des dichterischen Genius, sondern von der Zentrifugalkraft entfesselter Tendenz getrieben und es ist schade um die Regiekünste des Herrn Peter Fritz Buch aus Frankfurt, der sicher der Bühne viel Interessantes geben könnte, wenn er nicht den Ehrgeiz hätte, Piskator [sic!] II. zu werden. Er hat jedenfalls aus dem Schauspielermaterial des Neuen Wiener Schauspielhauses das Größtmögliche herausgeholt, so daß vieles, was Dressur war, wie Natur erschien. Man muß aus der Menge der Mitwirkenden die Damen Horeschofsky, Rambausek und Eschbaum sowie die Herren Rothauser, Koch, Kniedinger, Varndal, Iwald, Lipschütz und Grassow besonders hervorheben und feststellen, daß Frau Feldhammer in einer kleinen Rolle viel dramatischen Impetus zeigt. Herr Feldhammer aber, der mit sichtlicher Hingabe den Räsoneur des Stückes, einen Anführer der Kulis, spielte, möge bedenken, daß nur ein superkluger Unternehmer beide Geschäfte zu machen versucht. Er wird das Stück vielleicht der sozialdemokratischen Kunststelle zu Dank spielen, das Stammpublikum an der Währingerlinie aber wird sich bestimmt aus dem maskierten Klassenkampf nach der gesunden Hausmannskost des „Roten Tuches“ zurücksehnen.

             Die grau in grau gezeichneten Szenen fanden bei einem Auditorium, das zum großen Teil aus marxistischen Parteigängern bestand und in dem bezeichnenderweise auch Bürgermeister Seitz nicht fehlte, eine Aufnahme demonstrativen Charakters. Die zum Teil von der „nichtbolschewistischen“ Regie eigens eingelegten, im Original nicht enthaltenen Hetzschlagworte (zum Beispiel „Kulis wie wir haben anderswo die Unterdrücker davongejagt!“) wurden mit donnerndem Applaus der „Gesinnungstüchtigen“ aufgenommen und als der zu einem Tyrannenmord umgedichtete Schluß vorbei war, erhob sich ein ohrenbetäubendes Zustimmungsgeheul. Ueber diesen Beifall mag sich aber Direktor Feldhammer keinen Illusionen hingeben. Auch Direktor Berisch haben die Gefolgsleute der sozialdemokratischen Kunststelle zugejubelt. Als er aber Pleite machte, waren sie die ersten, die ihn verleugnet und fallen gelassen haben.

In: Neues Wiener Journal, 3.5.1930, S. 10-11. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Oskar Maurus Fontana: Brülle China! Neues Wiener Schauspielhaus

             Unterdrückung und Befreiung sind die zwei starken Akzente dieses Schauspiels von S. Tretjakow (deutsch von Leo Lania). China ist unterdrückt, ist ausgebeutet von den weißen Männern, die die großen Schiffe und das viele Geld haben. Ein Beispiel dafür erzählt in neun Szenen Tretjakow. Ein englisches Kanonenboot und ein amerikanischer Händler liegen vor der Stadt Wanshien. Geschäfte werden gemacht, Löhne gedrückt. Die Kanonen schauen wie unbeteiligt zu. Wie sehr sie aber beteiligt sind, zeigt sich sofort, als der Amerikaner bei einer Rauferei mit einem Chinesen zugrunde geht. Nun drohen die Kanonen offenen Mord, nun sprechen sie die Sprache der Unterdrückung. Die Stadt und China mit ihr werden rücksichtslos gedemütigt. Der Schuldige ist nicht gefunden worden, also müssen zwei Unschuldige als Sühne sterben.  Alles Flehen hilft nichts, die Kanonen sind aus Erz, sie hören nichts. Die zwei Unschuldigen werden angesichts der ganzen Stadt gehängt. Stumm und leidend hat sie es geduldet. Bis plötzlich die Not der Unterdrückung die Dämme der Angst bricht, bis das Volk der Stadt Wanshien aufsteht, den englischen Kapitän niedermacht und auch dem Bombardement des Kanonenbootes mit der aufgerollten, flatternden Fahne der Kuomintang den unbrechbaren Trotz der Befreiten gegenübersetzt: Brülle China, brülle gegen die Knechtschaft, brülle gegen die Kanonen, die den Nutzen des Händlers sichern!

             Das Stoffliche des Stückes ist seine Stärke. Das Panorama einer Kolonialwelt, das da entrollt wird, regt auf, so sehr seine Zeichnung im einzelnen primitiv und grob sein mag. Menschliche Not und Überwindung menschlicher Not (und geschehe sie auch nur auf dem Theater) rufen seit je am stärksten die Herzen und Geister der Menschen an und damit die Dichter und ihre Gefolgschaft. Denn, darüber darf man sich trotz der alarmierenden Wirkung dieser Szenen keiner Täuschung hingeben, Tretjakow gehört nur zur Gefolgschaft der Dichter, nicht zu ihnen selbst. Sein Schauspielverhält sich zu einer Dichtung wie ein Plakat zu einem Ölgemälde. Tretjakows Schwarzweißtechnik – tieferes Schwarz für die Herren, strahlendes Weiß für die Unterdrückten – genügt für ein wirksames Gegeneinanderausspielen wirkender irdischer Kräfte, aber nicht für die Gestaltung von Menschen, für die innere Erhellung von Situationen. Tretjakows Schauspiel, in einer bereiten Welt entstanden, lebt dennoch, wie die unendlich gültigeren, unendlich reicheren „Weber“ nur von der Trotzmelodie einer unterdrückten Welt: „Ihr fesselt der Armen Hab und Gut und Fluch wird euch zum Lohne!“ Tretjakows Schauspiel kommt darum als künstlerisches und auch revolutionäres Dokument nicht über die Wiederholung hinaus. Das Neue, das es gibt, ist das Stoffliche, ist eine Ahnung der Welt Chinas, ist ein fernes Grollen der Tragödie des chinesischen Volkes.

             Aus diesen Möglichkeiten schlägt die Regie Fritz Peter Buchs Funken. Er gibt ein leidenschaftlich bewegtes Theater im Anschwellen, Abbeben und Wieder-Hochfluten der Massen. Er findet für die Feierstimmung im Schatten der Kanonen auf dem Kriegsschiff spitze Töne der Satire wie er der Verzweiflung der Chinesen den leisen Schmerz und den brüllenden Ausbruch zu geben weiß. Eine starke Regieleistung. Auch dort, wo sie Elemente der Inszenierungen Piscators und Eisensteins (Potiomkin) übernimmt, tritt sie nicht auf dem gleichen Fleck, sucht sie Anregungen weiter zu entwickeln. Daß Buch kein Nachahmer des Szenenaufbaus ist, merkt man an seiner Arbeit – am Schauspieler besonders deutlich. Hier ist nichts verwischt oder beiläufig, hier ist jede Type zu einem lebendigen Ausdruck gebracht.

             Wie ausgezeichnet Josef Zechell als chinesischer Student, geduckt aufbegehrend, wie voll fremder Würde der Dauyin des Herrn Rothauser, welche dunkle Klage ist in Anna Feldhammers Worte gebannt, was für leidende Menschen sind die alten Schiffer der Herren Weiß, Kalwoda, Lipschütz, welche Weißglut der Empörung in Jakob Feldhammers Kuli, welcher Trotz in Kurt Liecks Aufschrei gegen die Kanonen, wie stark und gar nicht theatralisch der Kapitän des Herrn Koch, wie gut ist die exakte, militärisch sachliche Besatzung des Kriegsschiffs von den plaudernden ahnungslosen weißen Zivilisten unterschieden, wie ergreifend mit ein paar Sätzen und Bewegungen der arme Chinesenboy der Elisabeth Eschbaum. Das alles ist starkes Theater und eine Bereicherung des Wiener Theaters.

             Ist es Bolschewistentheater – wie die Hetze höhnt? Nun, dann auch „Die Räuber“ mit ihrem Ruf „In Tyrannos“ als Bolschewikentheater ausgegeben werden. Daß es Revolutionen gegeben hat und geben wird, soll das auf dem Theater verschwiegen werden? Nicht Blindheit und die Torheit der sich Blindstellenden arbeiten den Revolutionen entgegen, sondern nur Erkenntnis und der Mut zur Erkenntnis.

In: Der Tag, 4.5.1930, S. 18. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.