Ellinor Tordis: Bewegungschöre
Man hat im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur das Radio
und unerhörte Möglichkeiten der Technik, man hat vor allem den menschlichen
Körper entdeckt, den menschlichen Körper als kostbarstes Gut der Masse. Lange
Zeit war der Körper etwas Verbotenes, etwas, das zu verhüllen und zu mißachten
Sitte und Sittlichkeit forderten; erst die Renaissance
hat wieder, in blühendem Kunstwerk, die Schönheit des Körpers gepredigt, den
Körper als Offenbarung der Gottheit dem hellen Licht italischen Tages vermählt.
Aber der schöne, der harmonische Körper war ein Luxus, den sich wenige leisten
konnten, war das Privileg einer kleinen Elite. Intellektuelle, Kleinbürger, // Arbeiter
besaßen nur Bruchstücke eines Körpers, Hirn, Hand, Fuß, Werkzeug der Arbeit,
nicht mehr.
Das ist anders geworden; die Entdeckung, die Eroberung
des menschlichen Körpers ist das Große unserer Zeit. Die Masse, die turnt und
schwimmt und wandert und Sport betreibt, sie verkörpert, in ungebrochenem Sinn
des Wortes die Wandlung, der Jahrhunderte.
Man könnte nun meinen, übertriebene Körperkultur
entfremde die Menschen dem Geiste, dränge sie in ein junges Barbarentum – aber
das ist nur scheinbar richtig. Wir leben mitten im Übergang und darum ist
vieles plump, kraß, outriert, ist vieles unharmonisch und allzu
materialistisch. Doch was als Hygiene, Körperpflege, Gesundheitswillen rationalistisch
begann, steigert sich ins Ästhetische, verklärt sich ins Künstlerische. Der
Sport wird zum Schauspiel (Fußball), zur Schule der Schönheit (Tennis), die
Touristik ist mehr als primitive Lust an der eigenen Leistungsfähigkeit, ist
beinahe religiöses Verlangen ins Freie, Hohe, Einsame, das Turnen wird zur
rhythmischen Gymnastik, entfaltet sich zum Tanz. Der gesunde, harmonische
Körper ist auch ein geistiges Phänomen.
Aber ein Zweites offenbart sich im Sport und all seinen
Formen: der Wille zur Aktivität. Die Masse will nicht mehr Publikum, nicht mehr
passives Material der Entwicklung sein, sie will tätig das Leben gestalten. So
begreift man zum Beispiel die Wandlung des Tanzes: die alte Ballettkunst war
ein Beruf für wenige, die sich ihm widmen wollten oder mußten, der neue Tanz,
Reigen und rhythmisches Körperspiel, ist nicht mehr feudaler Luxus, sondern
eine Massenbewegung.
Diesem Willen zur Aktivität,
zur tätigen Anteilnahme am Künstlerischen, entsprang der Sprechchor, uralte
Kunstelemente zu neuem Leben erweckend. Aber der Sprechchor allein genügt
nicht, entspricht nicht der Zeit des auferstandenen Körpers: er muß zum
Bewegungschor werden. Das alte Vortragswesen, das nur Gesicht und Hände als
Ausdrucksmittel duldete, mutet uns heute schon sonderbar an: der ganze Körper
drücke das Lebensgefühl aus, das ist unsere Forderung.
Sprechchor und Bewegungschor – das setzt sich überall
durch.
Aber
wir leben auch hier im Übergang, wir müssen auch hier das Maß und die Mitte
finden.
Es
gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, einen Bewegungschor zu schulen: man kann
ihn als Maschine und man kann ihn als
Organismus auffassen. Der
Bewegungschor als Maschine, höchste Exaktheit und Gleichförmigkeit,
Gleichzeitigkeit aller Bewegungen, Unterwerfung alles Individuellen unter einen
strengen, präzisen Rhythmus, das endet nach meiner Meinung im Drill, in der
Militarisierung, Mechanisierung alles
Menschlichen, in einem mißverstandenem Kollektivismus, das führt dazu, daß
viele Kunstwerke vergewaltigt werden, daß der Geist sich der Disziplin
unterwirft. Der Bewegungschor als Organismus, Entdeckung, Befreiung des
persönlichen Rhythmus in jedem einzelnen, die Erziehung des Körpers zu seinen
eigenen Gesetzen und die freiwillige
Unterordnung aller Mitwirkenden unter die Melodie, unter den Geist eines
Kunstwerks, das ist nach meiner Meinung die lebendige Form der Zukunft.
Der
Lehrer, die Lehrerin darf dem Chor nicht die eigenen Bewegungsgesetze diktieren
(jeder Körper hat neben den allgemeinen
auch seine eigenen Gesetze), sondern muß jeden der Schüler, der
Schülerinnen zu den ihnen gemäßen Ausdrucksmitteln ermutigen. Die Voraussetzung
dazu ist, daß in allen das Körpergefühl geweckt wird, daß alle das Organische
begreifen lernen. Die Funktionen der verschiedenen Körperpartien müssen klar
werden: immer hat der Mensch mit seinen Händen Gefühle ausgedrückt, immer mit
seinen Beinen dem Rhythmus gedient. Die Hand
hat zugegriffen, hat sich geballt und entfaltet, hat gebetet und gedroht, die Füße sind marschiert; der Tanz darf das
nicht zerstören, nicht verdrehen. Gesicht, Hände, Oberkörper müssen
Empfindungen, Melodie, Seele gestalten und die Beine den Takt, den Rhythmus in
Körperbewegung übersetzen. Das ist organisches Grundgesetz, darauf baut alles
andere sich auf.
Wenn
das Körpergefühl, das Körperbewußtsein geweckt ist, muß jeder einzelne
versuchen, Musik und Empfindung körperlich so auszudrücken, wie es seinem Wesen
entspriht; der Lehrer soll Fehler korrigieren, aber den Schüler gelten lassen.
Sind junge Menschen erst einmal fähig, persönliches Erleben mit ganzem Körper
zu reproduzieren, dann müssen und werden sie lernen, sich einem
Überpersönlichen, Geistigen, einem Kunstwerk unterzuordnen, den höheren
Gesetzen einer Dichtung, einer Musik sich anzupassen, ohne auf ihr eigenes
Wesen Verzicht zu leisten. Nicht die mechanische Gleichförmigkeit aller
Bewegungen, nicht das Unisono, sondern die Harmonie
der Körper ist das, was erstrebt werde n muß. Nur so kann ein Chor jedem
Kunstwerk auf seine Weise gerecht werden, nur so vereinen sich Geist und Körper
in einer schönen Synthese.
Der
Bewegungschor wird sich in absehbarer Zukunft nicht nur auf sich selber
beschränken, er wird ein wichtiges Element jedes Bühnenwerkes mit Massenszenen,
der entscheidende Faktor großer sozialistischer Festspiele sein. Er wird die
Menschen zur schönen, ausdrucksvollen Bewegung, zur Vergeistigung des Leibes
erziehen.
Und
solche Erziehung zu körperlicher Freiheit und harmonischer Unterordnung ist
gleichzeitig eine Erziehung zu lebendigem Kollektivismus, zu produktiver
Gemeinschaft.
In: Kunst und Volk, Nr. 6/1929, S. 177-179.