Otto Abeles: Ernst Tollers „Hinkemann“. Sonntagvormittagsaufführung im Raimund-Theater. (1924)

Wie traurig die Verwirrung in den Köpfen, daß dieses Stück bei jungen Menschen wütenden Haß weckt, daß sie diese reive, gütige, in Qual des Mitleidens gezeugte Dichtung ein „Schandstück“ nennen können!

Hinkemann, der deutsche Arbeiter, kam verstümmelt aus dem Kriege. Sein Weib ist jung, gesund. Geschlechtshunger, physischer Ekel vor dem Verstümmelten streiten mit der Liebe zu dem Lebensgefährten, dem Menschen – der nicht mehr Mann ist. Für seinen Jammer hatte niemand Verständnis. Auch die sozialdemokratischen Arbeitsgenossen nicht. Einer von ihnen, der robuste Weibermensch Großhahn, schüttelt sich vor Lachenn, wie er hört, was Hinkemann geschah und hat mit Frau Hinkemann leichtes Spiel. Der traurige Held der Tragödie verdingt sich einem Budenbesitzer. Arbeitslosigkeit und das Bedürfnis, seinem Weibe Geld zu bringen, da er es doch sonst nicht erfreuen kann, veranlassen ihn, in der Bude des Ausrufers sich als Ratten- und Mäusefrssser zu zeigen. (Diese Überspitzung ist allerdings zu gräßlich und übersteigt die Grenze des ästhetisch Zulässigen. Toller mußte Hinkemann nicht just Rattenblut trinken lassen. Seine Erniedrigung hätte anders gezeigt werden können. Aber man begreife: Ein seit Jahr und Tag im Gefängnis Schmachtender hat dieses Drama geschrieben.) Von Grauen geschüttelt, geht Hinkemann in die Schenke, um den Gaumen nach dem Rattenmahl mit Fusel zu waschen. Aussprache mit Genossen. Einer von ihnen ist der typische Versammlungsredner. Der schildert, wie alles aufs beste bestellt sein wird in der neuen Gesellschaftsordnung. Aber Hinkemann, durch sein Leiden erschreckend wissend geworden sagt ihm:

„Da, wo eure Heilmittel aufhören, da fängt unsere Not erst an; da steht der Mensch allein; da tut sich ein Abgrund auf, der heißt: ohne Trost; da wölbt sich ein Himmel, der heißt: ohne Glück; da wächst ein Wald, der heißt: Hohn und Spott; da brandet ein Meer, das heißt: lächerlich: da würgt eine Finsternis, die heißt: ohne Liebe…“

Großhahn, der sich in der Zwischenzeit an Frau Hinkemann gütlich getan hat, nimmt an der Diskussion teil, ist über das Eunuchentum seines Freundes noch immer höchst amüsiert und sagt ihm, so zwischendurch, daß Frau Hinkemann während der Produktion ihres Gatten in der Praterbude herzlich gelacht hat. — Sie hat natürlich nicht gelacht (das Publikum weiß, daß sie sich weigerte, mit Großhahn in die Jahrmarktbude zu gehen), und es ist die dichterisch wertvollste Szene, da das Weib zu ihrem Mann zurückkehrt und alles auf sich nimmt, auch jene Lüge ihres sattgewordenen Beischläfers, um Buße zu tun und dem Märtyrer in demütiger Liebe zu dienen. Wunderbar, wie die Einfache plötzlich miz dem Instinkt des Weibes erkennt, daß es falsch war, die Intrige nicht zu zerreißen, Hinkemanns Antlitz faßt und ihm in die Augen spricht: „Du willst dir ein Leid antun! So höre doch, ich hab‘ gar nicht gelacht! Ich bleib‘ bei dir! Immer!!! — Ein Augenblick der Glückseligkeit für beide. Grete Hinkemann flüstert:

„Sommer wird sein und Stille im Wald…
Sterne und Gehen Hand in Hand…“
Ihr Mann aber entwindet sich ihren Armen und ergänzt:
„Herbst wird sein und Welken im Laub…
Sterne… und Haß! …und Faust gegen Faust!…“

Da schluchzt! das Weib auf, weiß alles und kommt ihm durch einen Sprung aus dem Fenster zuvor. — Für Hinkemann bleibt der Strick.

                                                                       *

„Diese Zeit hat keine Seele; ich hab‘ kein Geschlecht: ist da ein Unterschied?“ hatte Hinkemann resümiert. Die riesigen Manipel der Protestler, welche diese Aufführung stören kamen, waren Sendlinge eines seelenlosen, perversen Geschlechts.

Was rennt das Volk, was wälzt sich dort… Das sind die Herren Studenten. Sie haben sich nach der Samstagkneipe opfervoll schon um die zehnte Morgenstunde aus den Federn

bemüht, um zu verhindern, daß einer die Liebe kündet.

Wundervoll in ihrer wesenhaften Prägnanz die Inszenierung der Tragödie durch Renato Mordo und die Hingabe der mitwirkenden Künstler. Die vorgenommenen Kürzungen sind zu billigen. Nur die Szene mit Hinkemanns Mutter, die uns für die Entwicklung der Handlung unentbehrlich schein, hätte bleiben müssen.

Wilhelm Klitsch hat nach niemals so einfach menschlich, so bezwingend echt gespielt wie diesmal, Trude Wessely erschütternd als Grete Hinkemann (unvergeßlich die Gebärde der Trauer in Not und Lust, in Sehnsucht und Erfüllung), prachtvoll Hugo Werner-Kahle in der Nolle des Dritten und alle anderen voll Verdienst.

            Über die Vorgänge während der Matinee hat unsere gestrige Mittagsausgabe berichtet.

In: Wiener Morgenzeitung, 12.2.1924, S. 3.

Gey[er] Siegfried: „Gas“. Ein Schauspiel von Georg Kaiser – Im Volkstheater. (1920)

Die Formelwelt des Milliardärs, vom Genie eines Ingenieurs ausgeheckt, geht eines Tages in Trümmer. Gas explodiert, trotzdem die Mischung stimmte. Die Chemie blamiert sich. Aer Arbeiter-Mensch krepiert an der Wissen­schaft, am Fortschritt, an der Erfindung, wie er früher im Schwungrad zermalt, im Kohlenoxid erstickt wurde. Nun holt ihn der Welt neuester Betriebsstoff, das Gas.

In Georg Kaisers Dramen erhebt sich eine Spracharchitektur wir aus betoniertem Eisen, Zweckschönheit strahlt, Phantastik der Nüchtern­heit bereitet Kälteschauer, in denen das Wort gefriert. Eisblumen sprechen die Menschen, Herzen schalten aus, zwischen den Gehirnen laufen die Kontakte, an denen die Lebensmotore hängen. Menschen von Georg Kaiser atmen, denken, wirken, leben unterm Druck vieler Atmosphären. Von Katastrophen beengt, in Treibhäusern, er­füllt von künstlicher Lust, den Organismus blitz­schnell verbrauchend. Jedwedes Menschen Dasein //in diesem Raum – eine langsame Explosion. Keiner geht ans natürlichem Wege zu Ende, keine Lungenentzündung, kein Typhus, kein Karzinom, nur „Gas“. Am Betriebsstoff stirbt diese ame­rikanisierte, dynamobesessene Menschheit. Deren Weltbild: die Maschine, deren Zweck des Auf-der-Welt-seins: Betrieb, Betrieb.

*

Am Eisplatz der Kaiserschen Gedanken gibt es nur behende, routinierte Läufer. Dialektische Virtuosen. Milliardär und Arbeiter-Geist rotiert gleich schnell; beider Diktion beherrscht die „Ballung“, die Verkürzung, der „Dreh“. Kaisers Gedanken-Extrakt gibt allen Schichten des Publikums eine schmackhafte, intellektuelle Bouillon. Selbst Gemeinplätze haben ihre eigene Prägung und die Banalität geht gescheidheitsgepanzert einher.

Dieser Art Dichtung erzeugt fortwährend Unter- Null-Temperaturen. Dem Zuhörer fröstelt’s, muß er die Lösung der Menschheitsfragen kontinuierlich von Schaltbrett und Sichtglas her gegenwärtigen. Ihm verlangt’s nach dem Herzton, nach der Aussprache zwischen Menschen, die sich Menschliches zu sagen haben. Wo bei Kaiser Leid, Verzweiflung, dumpfer Zorn der Massen anklingt, Schrei der Rache tönt, bestaunt man noch immer die geistige Hal­tung, in der all das gekonnt ist. Der Urlaut des Menschen, in letzter Ekstase hinströmend, erstarrtbei Georg Kaiser zum präzisen Bild, hat Schnittpunkte und Diagonalen, besitzt die nüch­tern praktische Struktur eines geometrischen Exempels.

Georg Kaiser bleibt unbestritten heute des neuen Deutschland größter Dichter-Ingenieur, sehr reizvoll in der spirituellen Energie seiner Begabung, in der motorischen Kraftentfaltung, der Wirklichkeits-Phantastik einer Dichtung, in der sich Ethos und Spekulation die Wage halten.

*

Die Volkstheateraufführung einer der interessantesten Wiener Theaterabende seit langer Zeit. Außerordentlich die Regieleistung Bernaus, die Tempo, Intensität und geistige Cou­leurs des Stückes wiedergab, seine Atemlosigkeit gestaltet, daß es den Zuschaueratem bisweilen verschlug. Die fünf Akte förmlich als einziger gellender Schrei inszeniert, bewußt mit ans Kino streifenden Effekten, greller, kalter Beleuchtung, jagender Bewegung, aus dem Schau­spieler Ungeahntes herausholend.

Resultate: Eine erregend-starke Szene des Herrn Brady, Herrn Klitsch gedämpfte rethorische [!] Bravour, der heilige Ernst, der um jeden Episodisten… Nowotnys Schreiber und der weiße Herr von Goetz, auf mensch­lichen Fundamenten ruhend. Und Märtyrergloriole, seelischen Erlebnisses Widerschein war um Everths modernen Romantiker und Chemiehelden, Schwung auch im Pathos der proletarischen Frauen Danegger und Werner.

In der ganzen Darstellung nichts Stören­des, keine Leistung, die daneben geht. Sogar das Publikum würdig eines ernsten Anlasses.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 29.11.1920, S. 5-6.

Leopold Jacobson: Georg Kaisers „Gas“. (1920)

Schauspiel in fünf Aufzügen – Erstaufführung am Deutschen Volkstheater.

Es hat ein künstlerisches Problem Georg Kaiser gegeben, noch ehe ein kriminalistisches auftauchte. Das erste, ebenso seltsam anziehend wie das zweite, wird wahrscheinlich schwerer zu lösen sein. Im Gerichtssaal entscheidet die nüchterne Formel, in der Kunst hat man es mit Imponderabilien zu tun. Das Unwägbare beherscht das ganze Schaffen Georg Kaisers, angefangen vom Schüler Vehgesack bis zum Tanzspiel Europa. In diesem Dutzend, das immer auf sonderbare Art schillert, locken fortwährend Fragen aller Art, literarische, psychologische, theatralische; einmal scheint nur ein reiner, seelischer Intellekt am Werk, das nächste Mal ein spekulatives Wollen: einmal eine ursprüngliche

Geistigkeit, die über Abgründe und Höhen sich hinüberschwingt, das nächste Mal ein kühles Rechentalent, das mit Plus und Minus auf seinen Vorteil bedacht scheint. Die Stücke sind ungleichmäßig, im Stil, im Denken, im Wurf; nur eines ist ihnen fast immer gemeinsam: die gebrochene Linie. Sie verlassen irgendwo den Weg und gehen plötzlich im Zick-Zack. Das mag ebensosehr ein künstlerischer wie psychologischer Defekt sein; ein theatralischer war es von eh und je.

Aber dieses Problem Georg Kaiser hat seine Reize. In diesem Schriftsteller ist trotz Aber, trotz Wenn ein literarischer Ausdruck der Zeit lebendig, ein triebhaftes Künstlertum von neu­artigem konstruktiven Pathos, das aus gedanklicher Ethik und sinnlich-physischen Wallungen entspringt. In seinen letzten Schauspielen tritt der Zusammenhang schärf« und klarer hervor. Sie bilden schon eine Kette. Immer von neuem ergibt sich hier, daß alles ursprüngliche Menschentum und jeder Gefühlswert scheinbar keinen Bestand hat vor der Realität des eingeengten, anerzogenen Denkens, vor der Häßlichkeit der Menschennatur überhaupt, die im höheren Sinne immer amoralisch bleibt.

Das Schauspiel Gas hat bei Georg Kaiser schon Vor­läufer. Der Anknüpfungspunkt könnte beim Schluß der Komödie Von Morgens bis Mitternacht gefunden werden, wo sich der Defraudant zur Heilsarmee flüchtet, aber es erleiden muß, daß sich eine der Heilslehrerinnen seiner versichert, um die Prämie für die Ergreifung des Verbrechers zu verdienen. Näher noch zum Schauspiel Gas aber ist Die Koralle, diese große Anklage gegen den Kapitalismus, die den Milliardär an dem Experiment der Selbstläuterung scheitern läßt. Der eigene Sohn stellt sich gegen den Vater und macht die Sache der Arbeiter zu seiner eigenen. Dieser Sohn ist jetzt der Held des Schauspiels Gas, das nicht mehr und nicht weniger sein will als die Probe auf das Exempel, wie über alle sozialpolitische Praxis die letzte endgültige Idee des freien und befreiten Menschentums, der Christusgedanke überhaupt, nur eine Vision bleiben muß, daß Mensch, Schule, Staat, Technik, Wissenschaft, kurzum der ganze kapitalistische Weltbegriff, eine Verwirrung aller Denk- und Gefühlswerte herbeigeführt hat, die nicht mehr aus Hirn und Herz zu reißen sind. Aber im Symbol und Gleichnis ist auch wie Prolog, Apologie und Epilog des Krieges. Es ist kein realistisches Schauspiel, sondern ein im bedingten Sinne expressionistisches. Er ist die ins Theatralische umgesetzte Dämonie eines Gott- und Menschensuchers.

Der Milliardärssohn hat gemeinsam mit den Arbeitern ein ungeheures Werk aufgerichtet, in dem ein Gas erzeugt wird, das die gesamte Weltwirtschaft in Betrieb setzt. Dieses Werk ist – der Sozialisierungsgedanke erscheint vorweggenommen – Eigentum aller, der Milliardär nur der Erste Arbeiter. Da entsteht eine ungeheure Explosion, die Tod und Verderben herbeiführt. (Der Knall, das Chaos, aus dem eine neue Welt erstehen soll, ist ein mehrfach wiederkehrendes Motiv bei Georg Kaiser.) Die chemische Formel für die Erzeugung des Gases, die zweifellos stimmte und doch wieder nicht stimmte, hat plötzlich versagt und der Milliardär weigert sich nun angesichts des Unglücks, das das Werk aus den Trümmern neu erstehen zu lassen. Lieber will er eine Siedlung gründen und die Arbeiter zur Natur zurückführen, ihnen ein Lebensidyll schaffen. Aber während die Masse eben noch die Entfernung des Ingenieurs gefordert hat, als ob es nicht gleichgültig wäre, ob dieser oder ein anderer nach der gleichen Formel die Erzeugung von Gas bewerkstelligen würde, schlägt plötzlich die Stimmung der Arbeiter um; eben haben sie sich noch von dem Gedanken beherrschen lassen, daß ihre Augen, ihre Hände, ihre Füße, ihr Leib bloß einzelne Maschinenteile im Räderwerk des Kapitalismus sind und daß sie selbst die Waffen gegen sich schmieden, eben noch sind sie für den Gedanken einer individuellen, idyllischen, natürlichen Gemeinwirtschaft im Sinne des Milliardärs ent­brannt, da tritt ihnen jener gehaßte Ingenieur entgegen und zeigt ihnen in flammenden Worten auf, daß sie mit dem Werk, das sie schaffen halfen, tiefer verbunden seien als sie selbst ahnen. Er stellt ihnen die Leidenschaft der Arbeit vor und fragt sie, ob sie, die die Technik und Wissenschaft zur Vollendung führten, Bauern werden wollen. Und die Masse antwortet mit Nein. In ihr lebt unausrottbar der Trieb: schöpferisch zu arbeiten. Arbeiten ist ihr Gefühl, Arbeit ihr Beruf, Arbeit ihre Tragik. Vergebens warnt der Milliardäre. Die Arbeiter erzwingen ihren Willen, und der Milliardär mit der menschenbeglückenden Idee bleibt besiegt zurück. Schön ist dann der Ausblick, daß ihm seine Tochter den neuen Menschen zu gebären hofft, (Dieser neue Mensch, der Sohn, ist der Held des zweiten Teiles von Gas, eines ebenfalls schon erschienenen Schauspiels. Darin wird, um die Menschheit auf einmal zu zerstören, ein Giftgas erzeugt, sozusagen als letzter Ausweg aus der geistigen und seelischen Hölle.)

Das Schauspiel Georg Kaisers, diese weit über alle sozialpraktische und Erkenntnistheorie hinauslangende Vision, schwingt in einem für den Dichter immer charakteristischen Rhythmus hin. Die Menschen sind irreal wie die Idee, ihre Seelen und Leidenschaften vom Individuellen ins Allgemeine, projiziert. Kurz, knapp, scharf fallen die Worte, Unter- und Oberstimmen sind gegeneinander abgestimmt. Aber man wird bei alledem doch nie die Empfindung der dialektischen Überhitztheit, des mir kaltem Wege erzeugten ethischen Pathos los. Irgendwo spürt man eine Unwahrhaftigkeit, eine literarische Spielerei mit den letzten Dingen des Intellekts. Das ist wieder die gebrochene Linie.

Dennoch bleibt Gas das Schauspiel eurer Zeitepoche, senkt es sich tief in die Gedankenwelt ein und ist in der mit der in kinohafter Technik aufgebauten, einprägsamen Bildhaftigkeit von bemerkenswerter theatralischer Wirkung. Sie hervorzurufen fordert einen bis aufs Unwirkliche gerichteten Inszenierungs- und Darstellungsstil. Hier hat die Regie Bernaus die Aufgabe mit Glück dem Ziel genähert. Es breitet sich eine in Untergangsstimmung getauchte Welt aus, in der zwischen Tag und Traum die Ideenträger wandeln. Es sind ihrer viele, dabei jeder mit einem anderen Zug, der ihn als Typus Mensch und Masse erscheinen läßt. Heraus springen zwei: der Milliardär, der Menschensucher, den Herr Klitsch, und dann der Ingenieur, den Herr Everth darstellt. Klitsch gibt dem Fanatismus einem bei aller Herzensbewegtheit sachlichen Ton, eine zwingende Unerbittlichkeit des Gedankens, und steigert dann die Entladung seines gepreßten Gefühls zu starkem geistigen Pathos. Es ist seine bei weitem stärkste schauspielerische Leistung, die er geboten. Everth ist die Gegenmaske; auch er ein Ideenträger, nur viel härter, brutaler, mehr aufs Tatsächliche gerichtet, mit einer kunstvoll verhaltenen Leidenschaftslosigkeit, die wie Leidenschaft aussieht. Aus dem Wechselbild des Spiels heben sich noch einige bizarre und charakteristische Gestalten ab: die Herren Novotny, Zehetny, Goeth, Brausewetter, Fräulein Volkmar. Im stark aufgepeitschen Sturm der Arbeiterversammlung und der Redeschlacht wurde dann der entscheidende Höhepunkt der Aufführung erreicht. Sie hat ihren Sinn nicht verfehlt: den Bankrott einer Weltanschauung aufzuzeigen.

Von dem Problem des Werkes weg flogen aber doch schließlich die Gedanken zu dem Häftling in München, dem Strafgefangenen Georg Kaiser, von dem seine Freunde sagen, daß er seine Literatur ins Leben umsetzte: zu einem neuen Problem. „Mit Ketten geht man lahm“, dichtete Oscar Wilde im Zuchthaus von Reading.

In: Neues Wiener Journal, 28.11.1920, S. 13.

Alfred Polgar: Theater (zu B. Brechts Baal)

[…] „Baal“.

Mit Baal, dramatische Biographie in dreizehn Bil­dern von Bertolt Brecht, wurde Sonntag vormittags das „Theater des Neuen“ von den Schauspielern der Josefstadt unter Führung von Herbert Waniek eröffnet. Zur Eröffnung spielten die Spieler — denen es mit dem neuen Theater Ernst, ist — eine kleine Szene, in der sie sich über diesen Ernst lustig machten und die Terminologie neuerer Kunst- und Weltanschau­ung zärtlich belächelten. Der Homolka spielte den Homolka, der Thimig den Thimig usw., jedem ist der eigne Leib auf die Rolle geschrieben, als Ort des Gesprächs erscheint das Bureau des Josefftädtertheaters, und allgemein war die Überraschung, wie geistig, gesittet und formuliert es dort zugeht. Das Vorspiel — vermutlich gedacht als Puffer zwischen einem sehr gestrigen Publikum und einer sehr heutigen Zumutung — ist lustig, leicht pointiert und wenn es nicht von Friedell ist und nicht von Hofmannsthal, ist es wahrscheinlich von beiden. Ge­wünschter Effekt wurde erzielt: die Zuhörer waren gewissermaßen weich beledert, als sie den dramatischen Stoß empfingen.

Der Stoß ging von dem stärksten Talent neuer deutscher Dramenmache aus, von Bertolt Brecht, der wunderschöne Ge­dichte geschrieben hat (auch in Baal kommen ein paar vor, gleich die Ballade des Anfangs, ausgezeichnet durch ihre in des Wortes wirklich Sinn „unerhörte“ Musikalität der sprachlichen Formung), und als Dramatiker Wege geht, die hinter die Kulissen des Welttheaters führen wollen. Darüber, wie über die von Herbert Waniek in starken szenischen Zeichen fixierte Aufführung demnächst noch einige Worte. Die Zuhörer, wenn auch nicht überwältigt, waren doch so gebannt, daß sie vergaßen, die mitgebrachte Ironie auszupacken.

In: Der Morgen, 22.3.1926, S. 4.

Felix Salten: … Er kann nicht anders.

Ernst Tollers „Hoppla, wir leben!“ im Raimundtheater.

Zwei Kinder stehen vor dem Arbeiter Karl Thomas. Sie find halbwüchsig beide, der Knabe wie das Mädchenm und sie sind ahnungslos. Vom Krieg wissen sie nur die ruhmreichen Schlachten, die sie in der Schule lernen müssen. Da erzählt ihnen Karl Thomas ein Erlebnis aus dem Schützengraben, enthüllt ihnen mit dieser Erzählung das ganze, große,

blutige Leiden der Menschheit, aber die Kinder verstehen ihn nicht. Sie gehen davon, mehr erschrocken, als gerührt, mehr gelangweilt, als überzeugt. Der Arbeiter bleibt zurück, einsamer denn je, und er begreift, daß nur die persönliche Erfahrung, nur die Qual am eigenen Leib, an eigener Seele erduldet, den Menschen zu bewußter, entschlossener Reife bringt. Nur diese. Sonst nichts.

Es ist die schönste Szene dieses Stückes, seine Herzkammer.

Dann gibt es einen Moment, da tönt der Ruf, der den Titel des Stückes bildet, fünfmal von fünf verschiedenen Schauplätzen. „Hoppla, wir leben!“ sagt der Mann am Schaltwerke des Radio-Telegraphen. „Hoppla, wir leben!“ klingt’s ans dem Chambre séparée, wo der Generaldirektor mit dem Minister zecht, aus dem Zimmer der Journalisten, aus der Lasterecke, in der sich das ehemalige Proletariermädchen dem Grafen hingibt, und aus der elenden Kammer, // in der die Arbeiter bei Tisch sitzen. Die Schauplätze sind nebeneinander und Übereinander gebaut, sie leuchten im Scheinwerferlicht auf, wenn ihr Stichwort fällt und sie verschwinden vom Dunkel eingeschluckt, wenn gesagt ist, was gesagt werden sollte. Das erinnert an die Keisler-Bühne, die Meynert und Bernauer vor etlichen Jahren gefunden haben, ja, es ist die Meister-Bühne, das Kind des Films.

Dieser Moment, dieses fünffache „Hoppla, wir leben!“ darf als die äußere Gebärde des Stückes gelten.

Das Schauspiel Tollers hat sehr viele äußere Gebärden. Auch sonst. Ausfahrende, schreiende Gesten, tobende Plakatmanieren, wildes Übergreifen von der Bühne in den Zuhörersaal, Formen, die dem Genre der Revue entnommen sind, die Toller jedoch ohne Girls, ohne die Verlockung nackten Mädchenfleisches in ehrlicher Leidenschaft verwendet. „Extraausgabe!“ brüllen ein paar Bursche[n] plötzlich von der Galerie und schleudern Zeitungsblätter ins Parkett. Aus dem Zwischenvorhang treten Einzelfiguren an die Rampe und halten Reden ins Publikum. Der Tod springt hinter einem Abreißkalenderblatt hervor, spricht Verse ironischen Inhalts. Der Schieber erscheint, um sein Programm abzuschnurren, der Arbeitslose bringt seine Anklage vor, der Amerikaner sein Diktat, der Engländer schießt, nach einem sanften Speach den Browning ab. Drei Wahlredner donnern ihre Schlagworte her, jeder für sich zuerst, dann alle drei im Wirrwarr zusammen. Sie sind im Dunkeln, während die zum Saal gerichteten Scheinwerfer das Auge blenden.

Alle diese Augenblicke geben kein Stück, sondern Stückwerk. In Berlin hat der junge Regisseur Piscator auch gar nicht getan, als ob er ein dramatisches Werk inszenierte. Er hat eine Weltanschauung aufs Theater bringen wollen. Seine Weltanschauung und die von Ernst Toller. Durch die Szenen und Szenchen ließ er einen Film rollen. Bilder der Revolution, Bilder des Krieges, Bilder des weißen Terrors, Bilder des entfesselten Militarismus, Bilder des lebendigen und des toten Lenin, Bilder des elektrischen Hinrichtungsstuhles. Ein großartiger; ein hinreißender Film, an den Potemkin erinnernd, dem pazifistischen Film Amerikas Die große Parade vielfach verwandt. Wirkung brachte die Inszenierung Piscators, Wirkung bis zur Siedehitze, bis zur Explosionsgefahr. Aber diese Inszenierung ließ kaum den Umriß von Tollers Werk erkennen.

Toller will das Schicksal revolutionärer Arbeiter zeigen. Von 1919 an, als die Revolution in Deutschland niedergeworfen wurde, bis zum heutigen Tag. Er beginnt in der Kerkerzelle. Sechs standrechtlich verurteilte Arbeiter erwarten den Tod. Und werden begnadigt. Der eine von ihnen, Wilhelm Kilmann, macht Karriere und sitzt nun im Ministerfauteuil. Den andern hat die erlittene Todesangst ins Irrenhaus geschleudert, aus dein er jetzt erst, 1927, entlassen wird. Den Zeitraum, der dazwischen liegt, veranschaulicht der Abreißkalender, die Jahreszahl, die darüber leuchtet und die, wie die Ziffer einer Springuhr wechselt, endlich die allegorische Figur, die jeweilig davor steht, um ihre Rede zu halten.

Transparente Inschriften, allegorische Figuren… sind das nicht gute, alte, längst bekannte längst schon ausrangierte Requisiten? Streift man die aktuelle Maske, die blutigrote Wildheit non diesen Behelfen, dann erkennt man die Mittel, deren sich die Zauberstücke bedienen, die am Sonntagnachmittag für Kinder aufgeführt werden, erkennt das ziemlich rostig gewordene Rüstzeug aus der Biedermeierwerkstatt Ferdinand Raimunds. So kehren die modernsten, die // neuesten Dichter, halb bewußt oder unbewußt, zur ältesten Bühnenmechanik, zur Primitivität drahtgezogener Puppen und zur handfesten Deutlichkeit der Allegorie zurück. Natürlich tragen die heutigen Figuren nicht mehr Namen wie „der Geist Azur“ oder „die Fee Christiane“; doch wird der Dämon immer noch der Dämon genannt, der Sensenmann erscheint unter dem beredsamen Pseudonym „der Nutznießer“, aber die anderen heißen ganz einfach „der Schieber“, „der Amerikaner“, „der Arbeitslose“. Sie sind keine Einzelwesen, stellen nicht sich selber vor. Sie versinnbildlichen Menschheitsgruppen, den Charakter ganzer Klassen, Schicksal von Massen. Sie sind, nach einem Wort von vorgestern, Ballungen nach einer hundertjährigen Bezeichnung Sinnbilder. Aus der Empörerseele dieser Gegenwart geboren, glühend von allem Aufruhr und aller Sehnsucht des Heute, beweisen sie das ewige Prinzip des Rückläufigen und Wiederkehrenden in der künstlerischen Entwicklung.

Karl Thomas, der Revolutionär, kann sich in der Welt nicht mehr zurechtfinden. Das geliebte Mädchen, das mit ihm zugleich verurteilt war, das mit ihm in den Tod gehen wollte, ist wohl der gemeinsamen Sache, aber nicht dem Geliebten treu geblieben. Sie verrichtet ihr Werk der Agitation zäh, pflichtbewußt, trocken, und fest von ihrer Gleichberechtigung mit dem Manne überzeugt. Sie weist dem Geliebten die Tür, nachdem sie einmal mit ihm geschlafen hat. Diese eine Nacht bindet sie nicht. An keinen der Männer, mit denen sie ebenso beisammen war, hat sie sich gebunden in ihrem Gefühl. Sie will frei sein. Die anderen Kameraden Karls sind freilich immer noch klassenbewußte Genossen, aber sie ducken sich, sie zaudern, sie wollen ihr Leben nicht zum zweitenmal riskieren. Und Kilmann ist Minister, Kilmann hat sich der Korruption // hat sich dem Geldsack, hat sich dem Snobbismus ergeben. Diesen Kilmann will Karl umbringen, doch ein Fememörder, der rascher schießt, kommt ihm zuvor. Karl Thomas aber wird als der Tat verdächtig, eingelocht und endigt wieder im Irrenhause.

Diese Handlung ist ganz einfach; sie ist ganz rein in ihrer Menschlichkeit, ganz echt nach ihrer Gesinnung. Persönliches Erleben pulsiert stürmisch darin, leidenschaftliches Fühlen, das mit seiner ehrlichen Glut ergreift. Ernst Toller kann nicht anders, Gott helfe ihm. Von einer ungerechten, rachsüchtigen Justiz jahrelang im Gefängnis gehalten, grausam behandelt, mußte er für eine Tat edelster Unbesonnenheit oder, wie man will, unbesonnenen Edelmuts härter büßen als mancher wirkliche Verbrecher. Gustav Landauer, der hohe, edle Geist, hat seine aufrechte Unschuld noch viel härter mit einem jammervollen Tod bezahlt. Toller vermag dieses Erleben nicht zu überwinden, seine Seele lehnt sich immer noch auf gegen die Grausamkeit, die er, die seine Genossen erdulden mußten gegen das höhnische Unrecht, gegen die gleichgültig träge Umwelt, die solche Schande mit ansah. Er vermag, aus der Haft in die Freiheit von heute versetzt, mit dieser Freiheit und diesem Heute nicht zurechtzukommen, so wenig, wie sein Karl Thomas sich in dieser Gegenwart zurechtfindet. Tollers Schauspiel Hoppla, wir leben! ist die Auseinandersetzung, die er dichterisch mit seinem Zustand und mit den jetzigen Zuständen gepflogen hat. Er mußte diese Auseinandersetzung schreiben.

Ob er die Minister zum Beispiel, die früher einmal Anno achtzehn und neunzehn, Revolutionsführer waren, ob er die Genossen von einst, die inzwischen Oberpräsidenten, Reichspräsidenten und Kabinettschefs geworden sind, wirklich so sieht wie seinen Kielmann? So witzblattmäßig versnobt, so parvenühaft schuftig, so kleinkindisch korrupt? Mit dem Karl Thomas formte er einen lebenswahren, ergreifenden Menschen, in der Eva Berg eine echte, moderne Frauengestalt. Lebendige Episodenfiguren sprangen ihm mit dem Provinzbürger Pickel, mit dem Irrenarzt Lüdin aus der Hand. Doch die Phantasie des so hitzig erregten Ernst Toller scheint lahm zu sein und ihr Flug trägt ihn weder sehr weit noch sehr hoch. Vielleicht deshalb, weil das Geschehen, das Toller so ganz in Flammen setzt, alles Phantastische weit übersteigt. Vielleicht auch deshalb, weil seiner Dichterphantasie durch Parteidenken, durch parteipolitische Einstellung die Schwingen gebunden sind. Sein Stück ist aufreizend, aber es ist nicht dramatisch. Schillers Kabale und Liebe wirkt heute noch, nach fast hundertfünfzig Jahren, mit elementarer dramatischer Gewalt und wirkt natürlich aufreizend zugleich. Sogar die Tosca von Sardou hat jetzt noch dramatische Kraft, hat dazu jetzt noch die Fähigkeit, aufzureizen. Tollers Werk ist aktuell wie ein Leitartikel, ist voll Harangue wie eine demagogische Versammlungsrede, brüllt und gestikuliert wie ein schmissiges Plakat, aber die Muskelstärke des Dramatischen fehlt. Dieses Stück kann so aufreizen, daß es möglicherweise im Theater Lärm gibt, Beifallsstürme Pfeifen und Geschrei. Laßt dieses Stück jedoch fünf, zehn oder zwanzig Jahre alt werden und probiert, ob ihr es dann noch anschauen wollt, ob es dann auch nur mehr aufregend wirkt. Ernst Toller gehört in dieser Zeit der seltsamen und interessanten Individualitäten, zu den wenigen Dichtern, die man mehr liebt als seine Werke. Er ist immer noch eine Verheißung, hat sich immer noch nicht erfüllt. Man muß jedes seiner Stücke aufführen, wird jedes gern auf dem Theater sehen. Denn jedes ist das Dokument eines wertvollen Menschen. Und aus jedem Stück von Ernst Toller redet die heiße Sehnsucht nach einer besseren Welt, der begeisterte Glaube an die Zukunft, redet in einer Sprache, die Begeisterung weckt, ob sie gleich nicht vollendet  und nicht meisterhaft klingt.

Die Ausführung am Raimund-Theater, das jetzt unter Ferdinand Exls künstlerischer Leitung steht, gab Toller mit der Regie von Dr. Rudolf Beer weniger und mehr, als er von Piscator bekam. Der gewaltige Film, der gleichsam die Gedanken der handelnden Personen enthüllte, mußte hier wegbleiben Es ist Piscators geistiges Eigentum. Dafür beherrschte der Wiener Regisseur den Dichter nicht, sondern suchte, ihm einfach zu dienen. Er zerriß das Stück nicht in kleine Stückchen, sondern bemühte sich, so viel Einheit zu ringen als eben vorhanden war. Dem Wilhelm Kilmann lieh Ednard Köck eine glaubhafte, sein[e] charakterisierte Menschlichkeit und Ferdinand Exl machte mit diskreten aber eindringlichen Zügen aus dem Kleinbürgers Pickel eine von echtem Simplizissimushumor umschimmerte Gestalt. Maria Gutmann spielt die Eva Berg mit starker geistiger Kraft, ohne einen Moment lang scharf zu werden, ganz in sympathischer Weiblichkeit verharrend. Der Karl Thomas des Herrn Loibner ist schauspielerisch freilich schwächer, als der Berliner Karl Thomas des Herrn Granach; aber er ist schlichter, echter, stiller und hat mehr an Intensität des Unbeholfenen. Vortrefflich Herr Novotny als Irrenarzt, das ist eine Figur aus der Fülle, lebenswahr wie ein meisterhaftes Porträt. Die allegorischen Figuren wurden in wirksamen Masken wirksam gesprochen. Am besten von Forest, Onno und Skoda, die jugendlichen Darsteller der beiden Kinder, Joses Schmid, besonders aber die kleine Emma Bulla, haben den Frühlingsreiz hochbegabter Anfänger. Es muß überhaupt hervorgehoben werden, wie viel ausgezeichnete Sprecher Dr. Beer auf die Bühne stellt, wie viele junge, begabte Talente und um wie Vieles diese Wiener Ausführung der Berliner an schauspielerischer Qualität überlegen ist.

Das Publikum wurde rasch warm, wurde im Verlauf des Abends immer heißer und blieb bis zum Schluß einmütig in seinem stürmischen Beifall. Er galt ebenso den Darstellern wie dem Dichter.

In: Neue Freie Presse, 12.11.1927, S. 1-3.

Hanns Saßmann: Premiere: Ferdinand Bruckner: Elisabeth von England. (1930)

Schauspiel in fünf Akten.

I. Das Problem Ferdinand Bruckner.

In Wallensteins Lager finden sich die vier Verszeilen:

Ein Hauptmann, den ein anderer erstach,
Ließ mir ein paar glückliche Würfel nach,
Die will ich heute einmal probieren,
Ob sie die alte Kraft noch führen.

Wenn ein noch so routinierter Schiller-Rezitator auf diese vier belanglosen Verszeilen trifft, beginnt er stets zu stutzen und zu stocken; er unterbricht seinen Vortrag einen Herzschlag lang, nimmt sichtbarlich einen neuen, kräftigen Anlauf, als müßte er über ein Hindernis hinweg. Seine Empfindungswelle prallt gleichsam an die Peripherie eines magischen Kreises und wird zurückgeschlagen. Die zitierten Verse sind nämlich nicht von Schiller, sondern von Goethe, der sie in das Manuskript des „Lagers“ einfügte, das ihm Schiller 1798 zur Durchsicht über­sandte, als er — wie Wilhelm Scherer sagt— „zum erstenmal Goethes typische Methode in der Charaktergestaltung“ ange­wendet hatte.

Wenn wir ein Drama des mysteriösen Dramatikers Ferdinand Bruckner hören oder lesen, ergeht es uns wie dem Rezitator bei Wallensteins Lager. Wir stoßen auf Szenen und Dialogstellen, an denen der Strom der Geistigkeit wie ab­gedämmt sich unterbricht und feinnervigere Leser einen Schock verspüren. Diese Szenen und Dialogstellen sind von ganz anderer geistiger Art, sie sind stets leeres Theater und bilden in­ mitten der dämonischen Bewegtheit des Ganzen eine Gedanken­öde, die rings von den prunkenden Giftblumen der psycho­analytischen Sexualdramatik Bruckners üppig umblüht ist. Wir finden das Beispiel einer solchen Szene in Bruckners Ver­brecher, es ist die Szene zwischen den beiden  „Richtern“, die voll von törichtem, juridischem Tendenzschwatz, uns mit keinem Hauch des abgründigen Geistes berührt, der die unappetitliche, aber höllisch grandiose Gestalt der Köchin Marie schuf.

***

Vier Jahre lang verbarg sich der mysteriöse Dramatiker Ferdinand Bruckner im Dunkel. Den Versuchen, seine Anonymität zu durchbrechen, trat er in zahlreichen Presseäußerungen entgegen, aus denen zuweilen der erschütternd echte Aufschrei einer Menschenseele klang, die jede Berührung mit der Welt als Qual empfinden mochte. Man war nahe daran, diese fast pathologisch erscheinende Sucht nach Verborgenheit z zu respektieren und den offiziellen Vertreter des Dichters Herrn Theodor Tagger zu bewundern, der als selbstschaffender Dramatiker die Selbstentäußerung aufbrachte, den lichtscheuen Dichter dadurch zu decken, daß er ihm geschäftlich die Prokura führte. Bis wir erfuhren, all dies sei nur Blendwerk gewesen und Theodor Tagger nicht nur der Inkassant des Unbekannten, sondern dieser selbst. Wenn das wahr ist, so geht es neuerdings über unser menschliches Begreifen, welcher Seelen, und Geistes­zustand es bedingt, daß ein Mensch jahrelang es vermeidet, sich zu seinem Werk zu bekennen, und dabei keine Abneigung zeigt, vor den Augen aller das Geschäft zu führen, das daraus wurde. Bisher wandten weltscheue Dichter die umgekehrte Methode an, wenn sie sich den materiellen Unannehmlichkeiten ihres Schaffens entziehen wollten.

Ferdinand Bruckners neues Werk überragt in seiner unerhörten dramatischen Wucht alles, was in den letzten Jahren auf deutschem Boden an Drama entstand. Ferdinand Bruckner wäre, wenn er nicht Psychoanalytiker, also durch Pansexualismus gehemmt wäre, mit diesem Werk der derzeit größte Dramatiker Deutschlands und einer der größten überhaupt. Wir müssen uns nun fragen: Hat Herr Theodor Tagger in seinem bisherigen Schaffen je eine Zeile geschrieben, die uns überzeugt, daß dieses unbekannte, gewaltige Dichterwesen, das wir Ferdinand Bruckner nennen, auch nur als Keimzelle in ihm lebte? Finden wir in Taggers bisherigen Werken auch nur eine Zeile, aus der uns auch nur ein Hauch der Geistigkeit be­rührt, der das neue monumentale Werk Bruckners entsprang? Wenn das nicht der Fall (was leicht zu beweisen ist) und wenn Herr Theodor Tagger trotzdem Ferdinand Bruckner wäre, dann stünden wir vor einem noch nie gewesenen Naturspiel, vor dem unfaßbaren Phänomen, daß sich — um es an einem Beispiel zu erläutern — ein Kotzebue über Nacht in einen Shakespeare verwandelt. Wir vermögen an solche Wunder nicht zu glauben und sind eher geneigt anzunehmen, daß die Dramen Ferdinand Bruckners die Arbeit zweier Autoren sind, von denen einer ein gewaltiger Dichter von Satans Gnaden, der andere — zum Schaden des ersteren — ein flacher Theatereffektemacher ist, der beide Hände voll gröbsten Kitsches hat. Seltsam sind heutzutage die Wege der Menschenseele und des Kommerzes.

***

II. Das Werk.

Elisabeth von England, die jungfräuliche Königin, ist in Bruckners Drama bereits fünfundfün[f]zig. Ihre Libido — um mit Professor Freud zu reden — von dem auf königliche Selbstbehauptung heiß erpichten Ichtrieb erbärmlich verdrängt, befriedigt sich, in einer höchst widerwärtigen Objektbesetzung, durch die spielerische Lust einer halben Greisin an einem noch halben Jüngling, dem schönen Grafen Essex. Der Jüngling macht mit, steht nächtelang vor dem Fenster seiner Gloriana, merkt nicht, wenn es regnet, wodurch oben im Gemach der Königin die Libidostauung lustvoll gelöst wird. Doch dieses unbefriedigende Liebesspiel führt bei Essex zur sogenannten Libidoregression. Ganz vom Lustprinzip beherrscht, hält Essex sich schadlos, indem er sich in den scharmanten Philosophen Francis Bacon, Baron v. Verulam, verliebt, der seine Homosexualität längst zum politischen Ehrgeiz sublimiert hat. Essex will den geliebten Freund zum Kronrat von England machen, Elisabeth sagt nein; sie wittert den Nebenbuhler. Essex, der sich seiner Macht über das Weib in der Königin sicher glaubte, erleidet eine sogenannte Sexualeinschüchterung, für die sich, nach den Ge­setzen der Psychoanalytik, jede männliche Libido grausam zu rächen pflegt. Als Essex seine Elisabeth beim Ankleiden überrascht und ihre Runzeln sieht, nennt er sie „Mütterchen und Hexe“; er träufelt ihr das Gift sexueller Minderwertigkeitsgefühle ins Ohr und benimmt sich wie ein waschechter Renaissancemensch, der seinen übertragenen Ödipuskomplex abreagiert. Er verschwört sich mit den Lords gegen die Königin. Als die Sexualrevolutionäre Ihre Majestät bereits im Nachthemd durch // die Gärten des Schlosses jagen, verrät Bacon seinen Liebling Essex und Elisabeth ist gerettet.

Nun könnte der Fall, der uns geschichtliche Geschehnisse als Sexualsymbole darstellt, mit der Enthauptung des Grafen Essex schließen, der diese Enthauptung sogar herbeiwünscht. Man nennt das im psychoanalytischen Jargon „einen Kastrationskomplex haben“. (Siehe Professor Freud: „Die Symbolik des Köpfens für Kastration“.)

Doch der Autor will seine Grundidee, daß alle menschlichen Energiequellen ihren Ursprung in einem Konflikt zwischen dem Geschlechtstrieb und dem Ichbewußtsein haben, in einer welt­umspannenden Variation noch einmal zeigen. Er übersetzt zu diesem Zwecke die erbarmungswürdige Sexualtragödie des „Mütterchens Beß“ ins Großhistorische und beginnt das Spiel noch einmal von vorn. Der Geschlechtskampf zwischen Essex und Elisabeth wird auf den Kampf Englands mit Spanien über­tragen, nun werden sogar Königreiche zu Scxualsymbolen, die Genitaltheorie wird zur historischen Methode, Weltgeschichte wächst aus dem Uterus.

In der so entstehenden Repetition des Dramas wird König Philipp von Spanien an Stelle Essex das Lustobjekt Elisabeths. Sie weiß, daß der Spanier im Haß des fanatischen papistischen Asketen in ihr, der Protestantin, die Pestbeule am weltlichen Leibe des Herrn, die teuflische Unzucht des Fleisches ficht. Sie weiß, daß Philipp sich sehnt, ihre „flammende Er­leuchtung“ zu sein und sie in seinen Armen zum Scheiterhaufen zu tragen. Elisabeth weiß, daß der Weltbeherrscher Philipp nur aus diesem erotischen Motiv den Krieg will, und sie nimmt den Kampf auf. Sie ist mit einem Essex fertig geworden, sie wird (mit Hilfe des Sturmes, der die spanische Kriegsflotte vernichtet) auch mit Philipp fertig. Und nun, da sie ihr Geschlecht durch die Entmannung ihrer Liebhaber überwunden glaubt, fühlt sie sich reif, die englische Weltherrschaft zu begründen. Das „subjektlose Subjekt England“ wird Objekt ihrer Luststrebungen.

Diese weltpolitische Variante der Haupthandlung wird in die Geschlechtstragödie Elisabeths teils keilförmig eingeschoben, teils umrankt sie diese wie die Bruchstücke eines Ornaments. Vom dritten Akt ab spielt das Stück vier Szenen durch gleichzeitig auf zwei Schauplätzen, auf denen Philipp und sein Hof, Elisabeth und ihre Räte die gewaltigsten Probleme des spanisch-englischen Kulturkampfes in einem oft sinnlosen Durcheinander aufrollen, gleichsam zerbröseln und in den Wind streuen, der stellenweise da gemacht wird. Verwirrt und verheddert kreuzen sich die Linien der dünnen Geschehnisse, die zwei Hauptgestalten dieses Abklatsches der Essex-Elisabeth-Tragödie tun dabei das Schlimmste, das man auf der dramatischen Bühne tun kann, sie reden unaufhörlich aneinander vorbei. Dies ist der tödliche Fehler des Brucknerschen Schauspiels.

Den organischen Schluß des in seinem ersten Teil epochalen Werkes bilden zweifellos die zwei Szenen, in denen Elisabeth das Todesurteil über Essex unterschreibt und, ohn­ächtig im Turmfenster hängend, der Hinrichtung des Geliebten be[i]wohnt. Diese zwei Szenen, von denen die Hinrichtungsszene vom Regisseur Dr. Beer sinnlos verstümmelt und klanglich wie bildlich geradezu lächerlich inszeniert wurde, sind in ihrer dämonischen Kraft und unerbittlichen Geschlossenheit ein Wunderwerk dramatischer Kunst. Sie sind vom Dichter meister­lich dazu entwickelt, das Ende der Elisabeth-Tragödie zu sein. Wir fühlen deutlich, daß ihm hier ein fremder Wille ins Handwerk pfuschte, und unbedenklicherer Wille, der den gestaltungs­süchtigen Geist des anderen nach seinen Platten Plänen lenkte.

Es wäre wider alle Naturgesetze geistiger Erscheinung, wenn der banale szenische Einfall des Parallelgeschehens im zweiten Teil des Stückes von dem gleichen Dichter stammte, der die vorhergehenden zwei Akte von einzigartiger dramatischer Konsistenz schuf. Dieser unglückliche Einfall ist zweifellos das Werk eines ausgelernten Expressionisten aus der Zeit der Schrei- und Scheinwerferdramatik. Er zerstört die wundervolle Architektonik der Schöpfung Bruckners, vor dessen übermächtigem Talent wir trotz des satanistischen Elements in ihm ehrfürchtig erstaunen müssen; denn auch der Teufel (den ich für den Inspirator der Psychoanalyse halte) ist Geist und ein Produkt der Gedanken Gottes.

Die Besetzung der Rolle der Elisabeth mit Frau Konstantin ist eine Fehlbesetzung. Frau Konstantin als Schauspielerin virtuos aber nicht vital. Sie bringt nicht genug Überwindung auf, das naturwidrige Spiel der Geschlechtlichkeit einer senilen Halbjungfrau konsequent auf die Spitze zu spielen. Sie spielt zumeist eine königliche Tänzerin zwischen ihren polaren Trieben.

Unheimlich ist stellenweise Karl Forest als König Philipp. Ein grausiger Eitersack in Menschengestalt, aus dem sich flammend die Gott verbundene Menschenseele des Homo religiosus erhebt, der jenseits von Gut und Böse steht.

Hans Schweikhart ist kein Bacon; er spielt ihn mit großer darstellerischer Intelligenz, aber ohne die männer­bezaubernde Anmut und den Sex appeal philosophischer Genialität. Wolf Kersten dagegen ist als Essex ganz Sexus in Jugendkraft, man glaubt ihm nur nicht, daß er sich in einen Philosophen verlieben kann. Viktor Kutschera überwältigt als Dominikaner durch sein prachtvolles Organ und seine Plastizität.

Otto Schmöle ist wieder so adrett und pedantisch gut, daß man das Bedürfnis hat, ihn endlich in einer schwachen Leistung zu sehen. In den übrigen Rollen beweisen Siegfried Breuer, Louis Böhm, Walter Brandt, Emmi Förster, Homma, Theodor Grieg, Eduard Loibner, Lessen, Schafheitlin und Mitznegg, daß das Deutsche Volkstheater ein treffliches Ensemble bilden könnte, wenn es einen Regisseur an die Arbeit ließe, der nicht ausschließlich von geschäftlichen Er­wägungen geleitet wird. Alles übrige gehört, wenn auch als be­gabt, in die Provinz; als Kronräte Elisabeths und Lords des Parlaments sah man zwei grinsende Babygesichter aus der Klasse Professor Beers teils mit Bärten versehen, die Kirchen­chöre der englischen Protestanten hätte ein Regisseur in Znaim eindrucksvoller gemacht. Das Stück wurde im ersten Teil ein ungewöhnlicher Erfolg, der Schluß, ohne jede dichterische Kraft,

fiel ab.

In: Neues Wiener Journal, 21.12.1930, S. 3-4.

Moritz Scheyer: Gas. Schauspiel in fünf Akten von Georg Kaiser (1920)

Das ist die Grundstimmung unsrer entblättert sterbenden Gegenwart und unsrer zerbrochenen Zukunft: Explosion, Schiffbruch überall. Die Menschheit an den zerfressenden, giftigen Gasen ihrer Lügen gescheitert. Und unsre Nachkommen werden es machen, wie wir es gemacht haben. Der Menschheit schlechtes Gedächtnis ist ihr Segen und ihr Fluch zugleich.

Die Menschheit hat ungeheure Fortschritte aufzuweisen: das Gas der Technik wirkt auf die unerhörtesten Entfernungen. Um zu morden, haben wir es gelernt, zu fliegen und auf den Meeresgrund hinabzutauchen; um zu morden, ließen wir über Tausende von Meilen elektrische Wellen drahtlos schwingen. Wir haben die Wissenschaft der Zerstörung genial zur höchsten Vollendung und Verfeinerung emporgetrieben; was hat da­gegen die Zerstörung der Wissenschaften zu bedeuten! Un­glaublich, märchenhaft sind die Fortschritte der Menschheit; aber die Menschen sind ein wenig zurückgeblieben: sie stehen auf demselben Fleck, auf dem sie seit jeher waren und wo sie in alle Ewigkeit bleiben werden, mitten im Chaos, in der Urnacht der Zeiten, allen Erfindungen, allen Revolutionen, allen menschheitsbeglückenden Theoretikern und Demagogen zum Trotz. Man wirft jetzt gern alles in einen Kessel, das Unterste zuoberst, und das Resultat ist, daß einige kluge Köche es aller­orten verstehen, ihr eigenes bißchen Parteisuppe an dem mit Schlagworten geheizten Feuer zu kochen und das Fett rechtzeitig abzuschöpfen.

Noch niemals haben wir es so furchtbar deutlich und rettungslos empfunden wie jetzt nach dem Kriege: was aus uns geworden ist und was aus uns hätte werden können. Wie kindlich, reich waren wir doch an blühender Hoffnung und über­quellendem Glauben, süß betäubt und zugleich angetrieben von dem „Gas“ unsrer Sehnsucht und unsrer Träume! Aber eines Tages versagte die Formel, ganz wie in Georg Kaisers zwie­spältigem Spektakelstück, es kam die große Explosion über uns, wir wurden jäh zu Boden geschleudert, und als wir uns mühsam und verkrüppelt wieder zu erheben versuchten und unsre schönsten, tröstlichsten Illusionen wieder vorsichtig hervorholen wollten, da sahen wir zu unserem Entsetzen, daß sie morsch waren und auseinanderfielen gleich alten Kleidern, die man von Motten zerfressen findet, wenn man lang verschlossene Schränke endlich öffnet….

Darum sind jetzt so viele unter uns, die im Dunkel den Weg verloren haben und sich nun wild und inbrünstig in metaphysischer Verzückung nach dem dritten Reiche sehnen; nach einer lichten, erlösten Zeit, die keine Gewalt mehr üben und keine Gewalt mehr leiden wird.

***

Diese ohnmächtige Entmutigung, diesen sinnlosen Haß und dieses gierige Verlangen nach dem neuen befreiten Menschen sucht Georg Kaiser mit einer Art expressionistischer Stenographie in eine krampfhaft überstürzte, atemlos vorüber­rasende Phantasmagorie zu ballen; bald aufgelöst in ideologi­schem Dunst, bald wieder grob körperlich, hin- und herschwankend zwischen brutalen Kinospannungen und reiner Abstraktion, das Ganze eingehüllt in eine Gaswolke von gedrängter und doch redselig wuchernder Rhetorik, die jeden Augenblick in künstlich erhitzten Tiraden und Manifesten explodiert, statt in heißer Leidenschaft. Es gibt dann immer einen schrecklichen Knall, aber keinen tragischen Blitz, und fast nirgends schießt die Stichflamme unmittelbaren Erlebens bannend hervor. Viel Gewalt und wenig Kraft; Größe oft, doch selten Tiefe. Dazwischen eine Szene von verklärter, einsam dichterischer Schönheit: wie ein Mensch, verfolgt von den gräßlichen Visionen der Explosionen, die er eben überstanden, geschüttelt von den Delirien des Wahnsinns, den anstürmen­den Furien seiner Not ein einziges Wort, ein reines, frommes Wort gleich e. nein geheiligten Kreuz« entgegenstreckt: „Mutter“….

Die Katastrophe geschieht in dem riesenhaften Werk eines Milliardärs, das die ganze Welt mit Gas versorgt und bereits sozialisiert ist. Nach der Explosion verlangen die Arbeiter die Entlassung des Ingenieurs, der die Formel für das Gas erfunden. Die Formel stimmt, kein Fehler ist zu entdecken, das Unglück war Force majeure; aber die Erregung der Massen braucht ein Ventil, seit jeher, und das ist die Beseitigung des Ingenieurs, die durch Streik erzwungen werden soll. An­fänglich weigert sich der Milliardär; doch dann stimmt er ihnen

bei: nicht nur der Ingenieur soll entlassen werden, sie alle sollen entlassen sein aus der verderblichen Fron, sie sollen aufhören, schutzlos, allen Formeln der Welt zum Trotz, jeden Augenblick einer todbringenden Gefahr preisgegeben zu sein. Er will seinen Grund und Boden unter sie verteilen, freie glückliche Menschen in Lust und Sonne sollen sie werden. Da lehnen sie sich auf, empören sich gegen die eigene Befreiung; die Sozialisierung hat sie in Kapitalisten verwandelt, und als Kapitalisten wollen sie lieber weiterarbeiten für das Kapital, das drohend nach seinem Gas schreit, weiter­arbeiten für den Staat, der ihnen mit Rücksicht auf den kommenden Krieg „alle Wünsche vollinhaltlich befriedigt“. Der Ingenieur soll bleiben und sie ins Werk zurückführen, wo sie wieder Gas erzeugen werden, Gas für die ganze Welt — bis zur nächsten Weltexplosion.

Der Milliardär sieht die heulende Menge abziehen. Allein bleibt er zurück und tröstet sich mit der Hoffnung auf den neuen Menschen, auf den Messias.

Vielleicht kommt er wirklich, der Messias, sowie er ja schon einmal unter uns wandelte; aber ich fürchte, sie verhöhnen ihn dann wieder und schlagen ihn zu Golgatha ans Kreuz. Und hören werden sie in alle Ewigkeit nur auf die falschen Pro­pheten, die sich in Milliardäre verwandeln, als Milliardäre, die zu Volksbeglückern werden.

***

Die Regie des Herrn Bernau hat Geist und Atem und breitet über das Ganze einen feinen Schleier von über­dimensionaler Unwirklichkeit. Die Arbeiterversammlung im vierten Akt möchte man sich differenzierter wünschen, es wird da zu viel und zu kontinuierlich geschrien, von der Komparserie und den sonst vortrefflichen Damen Danegger, Vollkmar, Werner und den Herren Brausewerter, Kammauf, Altringen, Brady. Der schwierigen,

kantig scharfen Diktion Kaisers zeigte sich Herr Everth als Ingenieur ge­wachsen. Das übrige Ensemble wird von den Herren Goetz, Ehrle, Kutschera, Novotny und Fräulein Wessely

ergänzt.

Den Milliardär spielt der überaus fleißige, strebsame Herr Klitsch; er plagt sich ehrlich und beherrscht die Gebärde. Aber was er dazu spricht, bleibt aus- und abrollende Dekla­mation und dringt zu keiner Gestaltung vor. Dieser Milliardär wirkt oft wie ein monumentales Filmplakat: „Der Herr der Welt, fünfter Teil, der Mann mit den Milliarden.“

Dr. Moriz Scheyer.

In: Neues Wiener Tagblatt, 28. 11. 1920, S. 10.

David J. Bach: Das Problem der Arbeit (Zu G. Kaisers Drama „Gas“.) (1920)

Die Industrie ist bis an einen äußersten Punkt vor­geschritten. Ein Gas, als stärkste Energiequelle entdeckt, wird in einer einzigen Fabrik erzeugt, um von hier aus die gesamte Industrie zu versorgen. Und diese einzige Fabrik wird in Scherben geschmettert, Hunderte von Menschenleibern, Proletarier­leibern, mit ihr, durch eine Explosion. Die Formel, nach der das Gas erzeugt wird, stimmt durchaus, der Weltgeist, der Sinn, die Bestimmung des Menschen hat dagegen revoltiert. So faßt es der Fabrikant, der Milliardärssohn (diese Bezeichnung für einen Mann mit grauen Haaren hat den Zweck, das Drama durch die Person, auch leitmotivisch, mit einem früheren Werk Georg Kaisers, mit der Koralle zu verbinden). Der Fabrikant geht im Tun wie im Denken bis an die letzten Grenzen. Er hat versucht, aus dem kapitalistischen Betrieb alle sozialpolitischen Möglichkeiten hervorzutreiben, vor allem durch die Gewinnbeteiligung der Arbeiter am Betrieb. Es sind Schein­möglichkeiten. Die Gewinnbeteiligung wirkt nur als Peitsche für Mehrarbeit. Aber sie hat noch weit furchtbarere Folgen.

Der Fabrikant nämlich will aus dem Joch der Fabri­kation, aus der Erzeugung von Gas heraus. Wenn die Formel richtig war, und sie war es, welches Verbrechen also, von einer Explosion zur anderen Gas erzeugen zu wollen! Jenes Gas, das den höchsten Stand der Industrie bedeutet und ihn gleich­zeitig verbürgt. Nicht die Fabrik allein, die ganze Menschheit ist an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt: der Gipfel der industriellen Entwicklung ist erreicht, nun gilt es, neue, höhere Daseinsformen zu finden. Der Fabrikant will die Fabrik nicht wieder aufbauen, sondern das ungeheure Areal unter die Arbeiter aufteilen, damit sie als freie Menschen in einer Art Agrarkommunismus leben. Tut er’s, so müssen die anderen Industriebetriebe, die alle von der Gaserzeugung ab­hängen, ihm wohl oder übel nachfolgen.

Das Experiment der Menschheitsbeglückung scheitert. Es muß scheitern, weil es nicht so sehr die Tragödie des Be­glückers als vielmehr die Tragödie der arbeitenden Menschheit enthielt. Dies ist die große Leistung Georg Kaisers, dies erhebt sein Werk über alle seine anderen, ihn selber über die gesamte Dichtergeneration. Er hatte ver­mutlich keine „Absicht“, als er das Drama Gas schrieb; aber es ist das Zeichen wahrer künstlerischer Größe, daß ein Kunstwerk über den Schöpfer, über sich selbst hinausführt zu neuen Reichen, zu künftigen Zeiten, daß es unserem Denken und Fühlen neue Möglichkeiten offenbart, die gleichwohl alle in unserem Bewußtsein geschlummert haben. Es ist die Tragödie der Arbeit an sich, die in Gas geoffenbart wird. Der Arbeiter nämlich, verflochten in das kapitalistische System, auferzogen in dem Begriff der Pflicht — Arbeit ist Pflicht —, angetrieben von der Gewinnbeteiligung, will von der Arbeit nicht lassen. Umsoweniger, da dieses materielle Sein auch hier den ideologischen Überbau der heroischen Gefühle und Vorstellungen erzeugt, den „Helden der Werkstatt“, den wahren „Herrn der Welt“. Vielleicht ist es ein Zufall, daß der kategorische Imperativ dem Erwachen der deutschen Industrie, dem Erstarken des Bürgertums zur Herrschaft unmittelbar voranging. Der große Denker Kant war weit davon entfernt, mit seiner sittlichen Forderung den Unterdrückern gegen die Unterdrückten eine Waffe in die Hand geben zu wollen. Doch sie ist eine Waffe geworden, nicht erst im Krieg, sondern auch im Frieden der industriellen Aus­beutung. Das Proletariat kann der großen Denker und ihrer großen Gedanken nicht entbehren: aber es tut not, überall an die Wurzel zurückzugehen und so auch bei Kant, auf das fast gleichzeitig geborene Recht der Persönlichkeit. Dieses Recht ist in der kapitalistischen Welt dem Proletarier als unerfüllbares, nur der herrschenden Klasse zugängliches Ideal so ferne gerückt, wie ihm das andere Ideal, das Götzenbild der Pflicht, der Arbeit, als greifbare Wirklichkeit vor Augen steht. Also sind auch die Arbeiter des Milliardärssohnes in die fürchterliche Umklammerung ihrer Arbeit verstrickt. Zuerst fordern sie freilich die Entlassung des Ingenieurs, der das Gas ersonnen hat. Nicht eher wollen sie die Arbeit aufnehmen, bevor dieser Sühneforderung nicht Genüge geschehen ist. Die Forderung ist befristet, denn der Vorrat an Gas für die Industrie der ganzen Welt ist in drei Wochen erschöpft. Je gewisser das der Fabrikant weiß, umsoweniger will er den Ingenieur entlassen. Nicht weil dieser schuldlos ist, sondern weil er darin die sicherste Gewähr sieht, die Arbeiter von der mörderischen Arbeit fernzuhalten. Die Welt soll endlich aufhören, eine immer mehr und mehr wachsende Sammlung von Fabrikschloten zu sein, bis überhaupt kein Platz für etwas anderes mehr da ist, weder auf dem Boden noch in den Gehirnen; Mit einem Schlag, mit dem Tode der Industrie, will er die Welt säubern. Gegen die Tragödie des einzelnen läuft die Tragödie der Zeit, die Tragödie der Klasse. Der Fabrikant will die Industrie ausschalten; den Kapitalismus vergißt er. Die Entlassung des Ingenieurs wird fast zum Schiboleth. Die Herren der Industrie, die nach Gas hungern, würden begreifen, daß der Fabrikant den Ingenieur behält, um „Herr im eigenen Hause“ zu bleiben; daß er ihn hält, um Arbeiter in Hinkunft vor mörderischen Explosionen zu bewahren, gilt als Verbrechen. Man ist entschlossen, gegen ihn die Gewalt der Regierung anzurufen. Was ist der Ingenieur? Da er nun einmal die Formel des Gases erfunden hat, kann jeder andere an seine Stelle treten, um nach diesem Rezept zu arbeiten. Dem Kapitalismus ist das Schicksal des Erfindergeistes ebenso gleichgültig wie das des einzelnen Arbeiters, der ein Stück seines Körpers, die Hand, den Fuß oder das Auge, so untrennbar an seine Arbeit heftet, daß er aufhört Mensch zu fein und nur Hand oder Fuß oder Auge ist, ja nur noch ein Stück Maschine. Der Ingenieur erfährt die wahre Absicht des Fabrikanten. Sie dünkt ihm ungeheuerlich, weil auch er dem Moloch der Arbeit, dem Moloch Industrie verfallen ist. Eine Streikversammlung bringt die Entscheidung. In Reden, die ein wahrer Dichtergeist zu revolutionärer // Sprengkraft geballt hat, wird nochmals die Entlassung des Ingenieurs gefordert. Unbemerkt wohnt der Milliardärssohn der Versammlung bei. Schließlich besteigt er die Rednertribüne. Diese eine Forderung, sagt er, ist zu geringfügig. Fordert mehr! Weit mehr! Und als die Versammlung stutzt, da entwickelt er seine Idee: sortiert euer Recht aus Menschentum, reines Menschentum; löst euch vom Werk und bebaut das Land, damit die anderen folgen! Schon packt die Arbeiter der Wille zu dieser neuen Freiheit, da stürzt von der anderen Seite der Ingenieur in die Versammlung. Sich selber will er zum Opfer darbringen, nicht bloß die Entlassung nehmen, obwohl er schuldlos ist, sondern auch sein Leben hingeben: aber werdet nicht Bauern, bleibt Arbeiter. Kämpfer und Vorkämpfer der Industrie! Dieselbe Versammlung, die ihn beim Erscheinen fast tätlich bedroht hat, folgt seinem Ruf. Die Arbeit ist stärker als der Arbeiter. Will doch auch der Büroschreiber, dem die Explosion einen Arm gelähmt und das Nervensystem vollkommen zerstört hat, durch­aus zu seinem Schreibtisch zurück, selbst auf die Gefahr einer neuen Explosion.

Es hat noch seinen zweiten tiefen Grund, daß die Arbeiter zur Arbeit zurückkehren; er ist im Drama nicht ausgesprochen, vielleicht nicht einmal erkannt, aber er steckt, wenn auch unbewußt, in den Voraussetzungen der Dichtung. Der Sozialismus nämlich, der, wie jede echte Lebensform, seine tragischen Konflikte in sich birgt, ist eine optimistische und nicht eine hoffnungslos pessimistische Anschauung. Sein Reich beginnt nicht erst in jenem Augenblick, wo aus der Welt jedes Fleckchen grüne Erde getilgt ist; aber es beginnt unter allen Umständen mit der Beseitigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Hier in dieser kapitalistischen Ordnung den Sozialismus zu verwirklichen ist nicht möglich, weder durch Gewinnbeteiligung noch durch Abschaffung der Industrie. Die Entwicklung des Proletariats fordert die Entwicklung der In­dustrie; doch die erste wird schneller laufen als die zweite, dank den geistigen Antrieben, die das Proletariat erhält, nicht zuletzt durch wahrhafte Dichtungen, wie deren eine Georg Kaisers Gas ist. Auch der Fabrikant bleibt trotz seines Beglückerwillens an kapitalistische Anschauungen gefesselt. Um die Arbeiter an dem Wiederaufbau der Fabrik zu hindern, hat er für seinen Grund und Boden militärischen Schutz erbeten. In der besten Absicht natürlich: doch man ruft nicht ungestraft die Machtmittel des kapitalistischen Staates an. Sie wenden sich gegen den Fabrikanten, das heißt gegen sein wahres Selbst, gegen seine Erlöserabsicht. Die Regierung ist zwar jederzeit bereit, auf streikende Arbeiter schießen zu lassen, und ein Steinwurf gegen die Hüter des Gesetzes könnte nur mit Maschinengewehren beantwortet werden. Aber dieselbe Regierung, dieselbe kapitalistische Regierung macht trotz aller Verbeugungen vor dem Eigentumsrecht des Fabrikanten von ihrem Enteignungsrecht Gebrauch — denn die Rüstungsindustrie ist in Gefahr! So muß der Fabrikant endlich selber die Zustimmung geben, daß die Arbeiter mit dem Wiederaufbau beginnen, um Waffen in jedem Sinne gegen sich zu schmieden…

Der Milliardärssohn bleibt allein, verzweifelnd an der Menschheit; seine Tochter, deren Mann sich getötet, weil er von falschen Ehrbegriffen nicht loskommen konnte, der Milliardär seine Schulden nicht bezahlen wollte, um ihn zu einem höheren Menschentum zu zwingen, diese Tochter will den neuen Menschen gebären: Die Tragödie des Fabrikanten wird sich fortsetzen; doch sie ist unbeträchtlich gegen die Tragödie der Welt. Vielleicht wollte Georg Kaiser diese Tragödie gar nicht schreiben; aber er hat sie geschrieben. Sein Drama ist unpolitisch; aber es gehört dem Proletariat. Nicht allein, weil es durchaus, ob mit Willen oder ohne Absicht, antikapitalistisch ist; sondern weil es wie jede echte Tragödieschon mit seiner Problemstellung in die Zukunft führt. Das Proletariat ist die Klasse der Zukunft, diejenige Klasse, die über sich selbst hinausweist — darin ist sie eins mit der Kunst.

Das Deutsche Volkstheater hat mit der Aufführung dieser Dichtung selber auch ein Zukunftswerk geleistet. Die Dichtung fordert in Rede und Szene neuen Stil; die Auf­führung hat ihn vollbracht. Gas ist ein Gegenwartsdrama jenseits der gemeinen Wirklichkeit. Probleme der Gegenwart steckendarin, aber dadurch, daß sie enthüllt und dichterisch geformt werden, sind sie aus eine höhere Wahrheit gebracht. Diese Realität der Idee, die mit dem Naturalismus gar nichts zu schaffen hat, wird durch die Aufführung des Deutschen Volkstheaters wunderbar erzeugt. Kaum daß in der Versammlungsszene, die am leichtesten dazu verführt, noch schwache naturalistische Spuren zu finden sind; gerade hier aber zeigt sich die Vortrefflichkeit der Regie (Direktor Bernau), die alles Licht wörtlich und bildlich jeweils auf den entscheidenden Punkt zu sammeln weiß. Aus­gezeichnet Herr Klitsch als Fabrikant. Der leise Zuschuß an Bürgerlichkeit, der allen seinen Gestalten innewohnt, macht die Figur nur um so glaubhafter: in Rede und Spiel ist er der neuen Aufgabe, dem neuen Stil vollkommen hingegeben. Prachtvoll als Ingenieur Herr Everth, ein Schauspieler, den man erst nach Gebühr schätzen wird, wenn er nicht mehr in Wien sein wird. Nur seine erste Szene müßte trotz aller fieberhaften Erregung deutlicher gesprochen werden, wie denn überhaupt anfangs ein bißchen zu viel geschrien oder auch umgekehrt zu leise gesprochen wird, zum Beispiel von Herrn Goetz. Seine Erscheinung ist ganz nach dem Willen der Dichtung geradezu aufreizend gespensterhaft; ebenso Herr Nowotny von der Halluzination besessen. Vorzüglich in der Streitversammlung Fräulein Danegger, Frau Werner und Frau Volckmar, die ein Talent zu sein scheint; eben so vorzüglich als Arbeiter die Herren Brausewettter, Kammany und Zetenius. Sehr gut sind auch die Fabrikantentypen herausgearbeitet, verkörpert durch die Herren Schreiber, Knabe, Elfeld, Pater, Iwald. Auch Herr Ranzenhofer als militärischer Kommandant sei lobend genannt. Herr Kutschera gibt sich mit dem Regierungskommissär alle dankenswerte Mühe, aber er ist für dieses Symbol bürokratisch-kapitalistischer Regierungsweisheit in seinem Wesen denn doch zu weich. Wenn die Schauspieler gewusst hätten, welche Ehre es ist, in solch einer Aufführung mitzutun, wenn sie geahnt hätten, welche Erfolgmöglichkeiten in jeder, auch in der kleinsten Rolle stecken, sie hätten darum gerauft. Die Bühne folgt der Dichtkunst nach; das Publikum auch.

In: Arbeiter-Zeitung, 5.12.1920, S. 2-3.

David Bach: Kampf der Welten. Bruckners Elisabeth von England im Deutschen Volkstheater (1930)

Zwang einer historischen Notwendigkeit be­stimmt schon die Elisabeth in Schillers Maria Stuart. Die Heldin freilich ist die schottische Maria, nicht die englische Elisabeth. Die ist nur Gegenspielerin, allerdings eine von großem For­mat. Aber merkwürdig genug, seit zwanzig Jahren gilt den Tragödinnen Elisabeth interessanter als Maria (in früheren Zeiten ist die Besetzung beider Rollen oft genug vertauscht worden). Der Ge­schmack an der edlen Dulderin Maria verging mit jener Zeit, die sich noch mit Schumannscher Musik „Er, der Herrlichste von allen“ vorsingen ließ. Die tätige, kühne Elisabeth, die auch bei Schiller das Böse tut, weil sie es tun muß, sie zog die Liebe der Darstellerinnen, wenn schon nicht die Liebe der jugendlichen Schwärmer im Zuschauerraum, an sich. Ist Elisabeth schon rein menschlich im Kampf gegen eine Frau inter­essanter als die Nebenbuhlerin, so wächst ihre Ge­stalt an Bedeutung, je mehr man sich in ihre ge­schichtlichen und psychologischen Voraussetzungen vertieft. Vor wenigen Jahren ist ein Buch über die Königin Elisabeth erschienen, von Strachey, das nach Art der neueren, von der der Psychoanalytischen und andrer psychologischer Forschung beeinflußten Biographik Elisabeth als die Schöpferin eines neuen England zeigt, als die Mitbegründerin einer weltgeschichtlichen Epoche, die man als Renaissance bezeichnet. Elisabeth kommt hier zu diesem Ruhme nicht auf dem Weg der üblen höfischen Geschichtsschreibung. Die Königin Stracheys ist nichts weniger als ein Engel, vom Himmel auf Erden gesandt, um die Menschen zu beglücken; sie ist dies schon nicht in einer der Quellen Stracheys, in der Geschichte Englands des großen Philosophen David Hume, der auch ein großer Politiker gewesen ist. Sondern sie kommt zu diesem Ruhm als Trägerin bestimmter geschichtlicher Tendenzen, denen ihre persönliche Veranlagung entsprach. Das nordische, reformistische England, das sich eben anschickte, ein Weltreich mit ungeheurem Kolonialbesitz zu werden, mußte das katholische spanische Weltreich ablösen. Und an diesem Schnittpunkt zweier Zeiten und zweier Welten steht eine Frau, von

deren „weiblichen Schwächen“ zu sprechen ein Ueberbleibsel einer veralteten und sinnlos ge­wordenen Ausdrucksweise ist. Wenn man, wie ihr neuester Biograph, ihre Stärke in ihrer Schwäche sieht, weil nur ein „hilfloses Weib“ so mächtig sein konnte, so macht nicht Elisabeth, wohl aber oft die männlichen Geschichtsschreiber aus der Not eine Tugend.

Hebbel sagt einmal, die Tragödie siedle sich am besten am Schnittpunkt zweier Welten an. Nun, auch hier ist ein tragisches Werk, eine bedeutende Tragödie entstanden, Elisabeth von England von Ferdinand Bruckner. (Das Buch ist im S.-Fischer-Verlag, Berlin, erschienen.) Ferdinand Bruckner, der Dichter der Verbrecher, die ihrem Autor Weltruhm gebracht haben, hat schon Jahre vorher und vor den Krankheiten der Jugend unter seinem ersten Namen Theodor Tagger eine Reihe Theaterstücke (eines ist vor ungefähr zehn Jahren in den Kammerspielen gegeben worden) und interessanter philosophisch-ästhetischer Abhandlungen geschrieben. Daß er lange Zeit hin­durch sein Pseudonym nicht lüften wollte, ist ihm von einer in Privatdingen unangenehm neu­gierigen Journalistik arg verübelt worden. Wie er sich nennen will, ist seine Angelegenheit; sein Werk jedoch ist von ihm losgelöst und gehört allen. Wie gleichgültig, wer Ferdinand Bruckner persönlich ist! Wie wichtig und wie schön, daß sein Werk es ist, und daß das deutsche Theater mit einem neuen Werk einen neuen Dichter ge­wonnen hat.

Weltanschauliche, weltgeschichtliche Gegensätze erzeugen die dramatische Spannung in Bruckners Schauspiel; daß die Gegensätze an lebendige Menschen gebunden sind, den tragischen Konflikt. Es ist tragisches Schicksal, individueller Träger einer geschichtlichen Entwicklung zu sein. Dieses Schicksal umwittert Elisabeth, auch ihren Gegenpol Philipp von Spanien. Deshalb ist Elisabeth keineswegs eine pathetische Tragödie, ihr Schick­sal geht nicht auf Stelzen. Sie wandelt auch nicht auf der Menschheit Höh’n, sondern auch sehr in den Niederungen der Menschlichkeit, solange sie sich weibliche Triebe, Privatleben überhaupt ge­statten darf. Mit den Füßen steht sie auf dem Boden einer gemeinen Wirklichkeit, hat ihre Triebe und ihr Triebleben; mit dem Haupt rührt sie an die Gestirne einer Welt, welche die Menschheitsgeschichte umspännt. So vollzieht sich das Geschehen in diesem Drama auf zwei Ebenen. Die eine heißt Elisabeth-Essex, die andre Elisabeth-Philipp. Die erste bringt das Spiel vom Weibe, das aufhören muß, Weib zu sein, um seiner Aufgabe willen, die Außermenschliches verlangt. So läßt die alternde Elisabeth ihren jungen Günstling und Liebhaber, der auf einer Verschwörung ertappt wird, ohne Gnade hinrichten. Die Schillersche Elisabeth läßt Maria Stuart töten, weil sie nicht in Ruhe leben kann, solange die andre atmet.. Die Brucknersche Elisabeth verfährt ebenso mit Essex, weil sie ihrer Aufgabe nicht treu bleiben kann, solange jeder hübsche Junge ihr Herz ins Schwanken bringen kann. In beiden Fällen wird ihr Tun nicht bloß politisch oder gedanklich motiviert, sondern rein menschlich, aus den Trieben und Leidenschaften eines Weibes. Nur bei Bruckner, gemäß den neueren Anschauungen über die Rolle des erotischen Trieblebens im Unbewußtsein. Dieses Triebleben verbindet als psychologisches Band die zweite Ebene des Dramas mit der ersten. Auf der zweiten entwickelt sich der polare Gegensatz zwischen

Elisabeth und Philipp. Sie beide sind Träger des Geschehens in derselben geschichtlichen Zeit; mir Philipps Tod wendet sich eine Welt ihrem Abend zu, die überlebende Elisabeth hilft einen neuen Morgen herausführen. Es sind welt­anschauliche Kämpfe, die hier ausgetragen werden. Aber von Menschen, deren ursprüngliche menschliche Triebe außerhalb der Vergeistigung, der Sublimierung, wie man dies nennt, noch gerade­ zu körperlich, materiell sichtbar bleiben. Elisabeth empfindet Philipp zeitlebens als ihren Gegensatz, das heißt gleichzeitig als ihre Ergänzung. Es ist eine Haßliebe, die auf Jahrzehnte zurück ihre eine Wurzel im Erotischen hat; die andre Wurzel aber ruht in Geistigen und ist in ihrer Unerschütterlichkeit um so mächtiger, unzer­störbar. Philipp stirbt, Elisabeth bleibt. Doch hatte nicht er recht, er, dessen Andenken länger Bestand hat als seine Taten? Von Elisabeth wird ihr Wert bleiben, ein neues England — ein tragisches Schicksal verbindet alles Schöpferische; das Individuum, zum Schaffen berufen, geht in dem Werk der Allgemeinheit auf. Elisabeth ist Trägerin und gleichzeitig Dichterin ihres Schicksals.

Noch eine Verbindung gibt es zwischen jenen zwei Ebenen des Dramas. Es ist eine dramaturgische Verbindung, durch den Aufbau des Stückes, durch seine Form. Die Form ist mit dem Inhalt notwendig verbunden, daher eine neue Form gefunden werden mußte. Nicht zu­fällig hat sich die Technik der Simultanszene, das heißt der Gleichzeitigkeit mehrerer Szenen herausgebildet. Man mag in ihr sogar die Vergeistigung und technische Vollendung dessen sehen, was als „Revue“ so lange die Bühnen beherrschte. Denn die Revue ist eine Mechanisierung, eine Versachlichung des „Lebensbildes“ älterer Theaterperioden. Es wird in einer neuen, weniger ver­zerrten, menschlicheren Form wiederkehren. Seine letzte geistige Entwicklung verwandelt das un­mittelbare Nacheinander der Szenen in eine Gleichzeitigkeit. Also sehen wir Elisabeth und ihren Hofstaat in einer anglikanischen Kirche und gleichzeitig oben Philipp und die Seinen in der katholischen Kirche. An beiden Orten wird um den Sieg gebetet. Noch wichtiger, daß sich an beiden Orten gleichzeitig die Seele Elisabeths und die Seele Philipps offen­baren. Ja, es werden Beziehungen zwischen den Gesprächen oben und unten geschaffen, scheinbar zufällig, aber dem Hörer verständlich. Dies allein wäre allerdings nur ein alter Komödientrick, wie ihn am höchsten Nestroy in dem Haus der Temperamente ausgebildet hat. Aber bei Bruckner herrscht diese Beziehung in Wahrheit schon zwischen den Seelen Elisabeths und Philipps; es wird nur dargestellt, was wirklich ist. Diese Szene hat ihr Gegenstück auf der ersten Ebene. Auch hier gibt es einmal ein Oben und ein Unten. Oben hängt Elisabeth im Fenster und hört halb ohnmächtig zu, wie unten ihrem geliebten Essex das Todesurteil verkündet wird. Hier ist die Beziehung noch unmittelbar deutlich. Ganz ins Gedankliche gehoben wird sie durch den Schluß des Dramas. Philipp stirbt und sein Werk geht in ihm auf. Die überlebende Elisabeth verzichtet auf eigenes Leben, denn ihr Werk verschluckt sie. Die Tragödie von der Leidenschaft des Herzens und der Vernunft des Verstandes, eine Spiegelung dieses Dramas, nicht das ganze Drama, wird nie zu Ende gekämpft werden.

Die geistige Gleichzeitigkeit der beiden Schlußszenen ist im Buch selbst zwar durch das In­einandergreifen der Sätze angedeutet, aber schon hier szenisch in ein Nacheinander aufgelöst. In der Wiedergabe des Theaters tritt das Nach­einander noch stärker hervor, nicht immer bequem für den Hörer, der auch die geringste geistige Anstrengung scheut. Ganz zu lösen wäre die Aufgabe nur nach dem Vorbild des Films; es ist eine seelische Überblendung, die hier szenisch ausgedrückt werden soll. Aber wie vortrefflich hat im allgemeinen das Deutsche Volks­theater hier die schwierigen Probleme bewältigt! Die Bühnenbilder von Alfred Kunz sind doch mehr als bloß geschickt, weil solch eine Geschicklichkeit, die den Absichten des Dichters und des Spielleiters (Dr. Rudolf Beer) ausgezeichnet dient, an sich schon vom Handwerklichen ins Geistige umschlägt. Die Spielleitung erfaßt ihre Aufgabe sehr richtig vom Geistigen her, gibt Bilder der Seele und nur dort, wo es unum­gänglich notwendig ist, Abbildungen einer Wirklich­keit; der Regisseur ist da mit Recht gelegentlich sogar zurückhaltender als der Dichter. Gleichzeitig auf den verschiedenen seelischen Ebenen zu spielen, ist die ungeheure Aufgabe für die Darstellung der Elisabeth. Frau Konstantin kann sich rühmen, den größten Teil siegreich bewältigt zu haben; die letzte Geistigkeit, namentlich des Schlusses, bleibt noch zu erobern, und wird von ihr erobert werden. Den Philipp spielt auf seine Art Herr Forest, das heißt, immer interessant auch für denjenigen, der die Figur ganz anders sieht. Herr Forest nähert sie seinem Zaren im „Patriot“ an; die Geisteskrankheit heißt hier religiöser Wahn. Der Wahn löst Furcht aus; die Überwältigung durch eine Welt­anschauung, die auch Philipp verkörpert, wird nicht so deutlich. Für den Grafen Essex hat man Herrn Wolf Kersten, einstmals Mitglied des Raimund-Theaters, aus Berlin berufen; es war ein Fehlgriff. Die „Sonne Englands“, wie er genannt wird, ist ohne Glanz, seine Rede nicht Feuer, sondern schlechte Deklamation. Aus dem Gefolge hüben wie drüben treten Herr Schmöle als Kanzler, Herr Lessen als Kardinal — welch ein Schauspieler, der schon durch Haltung und Miene zu wirken versteht! — und Frau Liedermann als Infantin hervor. Ein Mann für sich Herr Schweikart als Francis Bacon. Dieses Monstrum an Gelehrsamkeit war rein menschlich ein Ungeheuer, ein um so grausameres, als er von der Naturwissenschaft herkommt, und im Menschen nur ein wert­loses Mittel des Weltgeschehens sieht; so grausam können nur noch Dichter sein. Herr Schweikart spielt diesen Bacon mit einer blitzblanken Ge­scheitheit, mit einer Leidenschaft des Verstandes, die immer ruhig, immer voll tötlicher Sachlich­keit bleibt.

Der Erfolg des Abends war ungeheuer groß. Die Wirkung des Dramas und seiner Aufführung kann nicht getrübt werden durch die üble Nachrede, die ihm ein stückeschreibender Rezensent hält. (Die Schande unserer Lessinge von heute ist schon oft in der Arbeiter-Zeitung aufgezeigt worden. Damals haben Direktoren und Schauspieler geschwiegen, im Gefühl einer Abhängigkeit, die nur in ihrem eigenen Glauben an die Allmacht einer korrupten Presse besteht. Herr Direktor Beer setzt sich jetzt in einer öffentlichen Erklärung zur Wehr. Wird dieser Mut vorhalten?

In: Arbeiter-Zeitung, 24.12.1930, S. 6.

Ludwig Ullmann: Ferdinand Bruckner gegen die Götter (1932)

„Timon“ – Uraufführung im Burgtheater

Gesinnung gegen Geist? Es ist doch so. Ferdinand Bruckner weiß vermutlich warum. Und er schreibt bezaubernd gegen sich selbst.

Denn es ist des Dichters Gesinnung, die sogar mit den olympischen Göttern an­bindet. Sind es nur die olympischen Götter? Hat man im Burgtheater nicht vielleicht zu flüchtig gelesen?

Das ist doch das Welttheater eines Atheisten. Noch dazu eines Pazifisten und Defaitisten. Und überdies eines Bolsche­wiken des Geistes. Ein Kriegs- und Gott- und insbesondere Geldverächter hat einen rauschenden Theatererfolg. Nicht durchaus sogar mit populären Mitteln. Nur bis­weilen.

Etwa mit diesem Hitler-Gesicht des athenischen Kriegshetzers und -Schwätzers Alkibiades. Das ist gesprochener Offenbach. Oder wenn die Götter im Olymp Bernhard-Shaw-Konversation machen. Sie bezeichnen sich selbst, mitten auf der Burg­theaterbühne, als eine Erfindung der Menschen. Und sie sprechen auch so, wie Ausgeburten beschränktester und phrasen­berauschter Anbetung. Sie sprechen, wie Ferdinand Bruckner das Volk von Athen sprechen läßt. Auf einer höheren, vom Weihrauch der Schlachtvieh-Dummheit um­nebelten Ebene, wiederholen sie die Schlag­worte der Weltverblendung.

Der Kriegsgott trägt die Bramarbas-Züge des Alkibiades. Denn er wäre nicht, gäbe es diesen säbelrasselnden Ungeist nicht. Aphrodite plappert wie die athenische Dirne Myrthis. Das Donnerwort des Zeus wird vom Sturmwind der Unschlüssigkeit bewegt. Und das hat die Burgtheaterzensur durchgelassen. Natürlich, um Zeus kümmert sich keine Leo-Gesellschaft.

Nur Pallas Athene hat kein irdisch Ebenbild. Denn sie ist die Stimme der Vernunft, der unbestochenen und ungetrüb­ten. Zeus gehorcht ihr, nur ihr. Des Dich­ters besondere und besonders gallige Ironie zeigt: ohne befriedigendes Er­gebnis.

Noch ärger lästert Bruckner den Gott des Reichtums und diesen selbst. Um es gleich zu sagen: Der Unterschied zwischen Shakespeare und ihm ist kaum einer des Formats. Er ist, daß Shakespeare die Tragödie des Menschenhasses schrieb, Bruckner die der — irrigen —Menschenliebe. Aber Reichtum, darüber wird erst der ver­armte Timon belehrt, muß seinen eigenen Gesetzen genügen. Timon will den Reich­tum hintergehen, indem er sich hemmungs­los dem Geist ergibt. Etwa: Als Mann von Geschmack und Kultur vertraut er den„attischen Göttern“ mehr als einer aus­giebigen Schiffsversicherung. Und wird von einem landläufigen Schieber ausgelacht. Wird von einer Kokotte verspottet, weil er Menschenflucht für Menschenliebe hält. Erst in seiner Todesstunde klagt Timon diesen Geist der Dichter und Denker, mit dem er ein optimistisch einsames Leben verbrachte, des Betruges an. Ferdinand Bruckner, in dieser unklarsten seiner sonst rhetorisch fast überdeutlichen Szenen, läßt durchblicken: Zu Unrecht. Denn Geist ohne Tat muß unfruchtbar bleiben.

Timon versäumt die Tat, das ist seine tragische Schuld. Er treibt Verschwendung als Selbstzweck, das ist nur farbenprächtig, aber nicht heroisch. Er sei, sagen seine aus tiefer Gesetzmäßigkeit undankbaren Freunde, ein überflüssiger Mensch. Das ist er wirk­lich.

Freilich, es ist eine strahlende, eine be­zaubernde, eine beneidenswerte Überflüssigkeit. Timon rebelliert da ein wenig gegen seinen Hofmeister Bruckner. Er be­

kennt sich „gegen Fleisch und Blut“ für den Geist. Wer hat nicht Lust, sich mit und zu

ihm zu bekennen? In Todesangst, in aller­dings freiwillig gewählter, verleugnet er sogar Platon. Aber ist Todesangst ein Prüfstein des Geistes?

Bruckner bejaht es. Er bejaht über­haupt das tätige gegen das aphoristisch geistvolle Leben. Sein Timon ist schuldig durch seine Leidenschaft der Untätigkeit, besser gesagt, der Unterlassung. Aber er ist, gerade dadurch, auch groß, ja beinahe über­menschlich. Dieser Büßer eines morali­schesten Lebensgenusses ist seinem Dichter ein wenig entglitten. Er lebt, über den Sinn der Dichtung hinaus, sein Eigenleben in schmerzensreicher und in justament geist­gesegneter Glorie.

Dieser Sinn ist überaus aktuell. Er ist ein Aufruf, fast ein Kampfruf. Nicht zu­fällig tritt Alkibiades mit einem modernen Stahlhelm auf. Und es sind nicht bloß Ge­setze des Dialogs, denen zuliebe die Plutokraten Athens ihre Philosophie fühllos in sich „ruhenden“ Geschäftsgeists entwickeln. Dieser Dialog freilich, ist grandios, von Blitzen der Ironie hellsichtig durchzuckt, ein Gedankengefecht, bisweilen ohne Beispiel, zumindest ohne ein zeitgenössisches.

Bruckners Dichtung ist ja keineswegs schwächer als ihre Gesinnung. Nur: Diese

scheint diesmal wichtiger. Auch zeitgemäßer. Und dieses Athen, die „im unvergänglichen

Geiste lebende“ tote Stadt kennen wir zu genau. Nur dort wo Bruckner seinen Timon

Unrecht geben (oder tun?) muß, wird auch der dramatische Atem kürzer.

Das Burgtheater hat für die Größe wie für die Gewissensschärfe dieser dramati­schen Abhandlung fast nur den Timon Paul Hartmanns aufzubieten. Damit freilich eine Menschlichkeit, fast jenseits jeder Schauspielergrenze, eine Ruhe, eine Würde, eine Majestät der Qual, die den „gerad­linigen“ Hartmann von unheimlichen Lichtern seelischer Zerrissenheit umspielt zeigt.

Daneben darstellerisch Vortreffliches, wie den zärtlich fanatischen Diener Balsers

und seinen begeistert bettelnden Hunde­blick. Oder Herrn Heines unduldsam satten reichsten Mann. Dann Herr Heim, der eine kleine Szene sehr klug zerlegt. Und den standesgeblähten Aristokraten Herrn Höblings, der erstaunlich scharf und schlau beobachtet ist. Nicht minder: Die erquickend hinterlistige Schönheit Frau Wageners und Frau Wohlgemuths kühles, frei und fern schwebendes Götterwort.

Nur Herrn Hennings hat man in eine Karikatur des Alkibiades hineingehetzt, die mit seinen schönen Mitteln, seinem Talent und der keineswegs so flachen Idee dieser Figur Raubbau treibt.

Leider, leider unterschlägt überhaupt Herrn Heines Regie die phantastischen und auch die sarkastischen Möglichkeiten ihrer eigentlichen Aufgabe. Schon die großartige, symbolisch prächtige Bühnenvision Bruckners ist zur dürftigen, ja öfters fast lächerlichen Deutlichkeit entstellt. (In Berlin inszenieren den Timon Hilpert und Strnad!) Diese Götterszene etwa wäre höchstens einer Nach­mittags-Märchenvorstellung würdig und von des Dichters zu Bild und Prunk und Massenschrei erstarrtem Feuerwort ist nur ein bißchen exaktes Volksgewimmel übrig geblieben.

Auch aus den „Volksstimmen“ schlägt die redliche Kraft Herrn Sieberts und Herr Emmerich Reimers bestätigt wieder ein­mal die Vermutung, daß er ein überaus brauchbarer Charakterspieler wäre. Außer ihm noch Herr Schütze von schneidender, Herr Lohner von zart verklärter Bered­samkeit.

Noch ein Gruß an Paul Hartmann und seinen himmlisch holden, seinen irdisch flammenden Knabentrotz.

Stimmt man also für Ferdinand Bruckner oder für seinen Timon? Das ist nicht ganz das Nämliche. Bruckner (mit einer Technik, die schon dadurch über­wältigt, wie nebeneinander jagende Ge­danken zu stürmisch ineinander geflochtenen Gesprächsketten werden) ist gegen Gott und Geld und Glanz der Waffen wie der Worte: Timon, sein Timon, nicht der heilige Menschenfeind Shake­speares, ist ein Ästhet der Selbstvernichtung, Bruckner ist für Aufbau. Ohne Glanz, ohne Gott, ohne Geld. Timon wandelt in der Purpurwolke des Unterganges, von Flöten umgaukelt und von den erhabenen Lügen des Geistes. Bruckner ist selbst Timon, natürlich, oder er war es.

Und so dankte auch Theodor Tagger im Namen des Dichters.

                                                                       ***

Und Röbbeling? Sein Anfang ist immerhin eine Verbeugung vor dem Geist. Man muß sie mitmachen. Nicht nur aus Loyalität…

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 26.1.1932, S. 5.