Max Milrath: Tanz
M[ax] M[ilrath]: Tanz (1924)
Die Hochflut an Tänzerinnen, die die letzten Jahre heraufbeschworen haben, schwillt noch immer an. Kaum ein Abend, an dem nicht in irgendeinem Konzertsaal getanzt wird. Aber man muß nicht unwillig, nicht ungeduldig werden, ob dieser Massenerzeugung an Gliederverrenkungen, an Grimassen und an Fingerspitzenscherzen. Sie werden schon wieder verschwinden und bleiben wird, was Wert hat: die Wiesenthal, die Kieselhausen, die Altmann, die Impekoven, die Ellen Tels. Und Gertrud Bodenwieser. Sie hat schon vor Jahren durch ihre Grotesktänze die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Seither ist sie nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Lehrerin außerordentlich hoch gestiegen. Ihre Tanzkunst kommt von innen her und das ist das Maßgebende, das ist das, was man nach den ersten Takten überzeugungsvoll empfindet. Das strenge Abstreifen jeder Gebärde, jeder Bewegung, die rein äußerlich ist, hat Gertrud Bodenwieser so weit geführt, daß sie und ihre Schule bis zur Verkörperung von Begriffen und Gedanken vorgedrungen sind. Und noch etwas gehörte dazu, was jeder Künstler besitzen muß: der Großes, auf welchem Gebiete immer, vollbringen will, eine hohe Sittlichkeit, eine auf reine Menschlichkeit eingestellte, gerade herausgesagt: soziale Lebensauffassung. Die Technik der Bewegung an sich wird dann erst das, was sie zu sein hat: Mittel zum Zweck. Genau so wie der große Pianist, der große Geiger seine Fertigkeit dem Ausdruck dienen läßt. So können Tanzabende auch denjenigen, der dieser Kunst fernesteht, zu ihr bekehren.
Gertrud Bodenwieser und ihre Schule — nicht mehr als sechs ausgewählte Vertreterinnen ihrer Lehre — tanzten im Großen Konzerthaussaal. Es gab kaum ein Zugeständnis an die seichten Wünsche jener, die vom Tanz immer wieder nur erotische Reize erwarten. Den künstlerischen Höhepunkt der Darbietung bildeten fünf erschütternd verkörperte Begriffe, darunter am packendsten Dämon Maschine. Man sah die Gewalt des Ungeheuers leibhaftig vor sich: die Turbinen, den Motor, die Hebel, die Kolben, die Ventile, die Transmissionen… ein Zusammenwirken von sechs Leibern in wirklich dämonischer Einheit; eine Übersetzung der unheimlichen Gewalt leblosen Metalls in die Sprache der Gliederknechtschaft; ein Sinnbild unerlösten Sklaventums. Dann der Tanz um das goldene Kalb: unheimlich thronender Götze in gespenstischem Licht, vierarmig, starr und unbesiegbar, teuflischen Triumphes Volk; zu ihm empor jagt kämpfend, hassend die geldgierige Menschheit; Bewegung, die in ihrer Lautlosigkeit durchdringend schreit. Zuletzt Erlösung durch Güte, eine Gruppe, die an poetischer Kraft, an Lyrik der Körpergebärde das Eindrucksvollste war, das man je auf einer Tanzbühne zu sehen bekam.
Ich übergehe die anderen Leistungen des Abends, nicht etwa, weil sie schwächer waren… Ich wollte nur, so weit es Worte auszudrücken vermögen, zeigen, in welchem Maße sich die Tanzkunst menschlicher Fragen zu bemächtigen vermag, bis zu welchem Grade sie ungesprochenes Drama werden kann. Hier ist ein Weg beschritten, der zu bisher nur geahnten Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers führt, weit hinaus über das, was man bisher landläufig als mimische und physische Darstellung zu bezeichnen pflegte.