N.N.: Die Anschlußkundgebung in der Sängerhalle.

N.N.[Leitartikel]: Die Anschlußkundgebung in der Sängerhalle. (1928)

Ansprache des Obmanns des Deutschen Sängerbundes.

Bei der gestrigen Anschlußkundgebung in der Sängerhalle hielt der Präsident des Deutschen Sängerbundes Rechtsanwalt Friedrich List (Berlin) die nachstehende Rede:

„Deutsche Sänger, die ihr gekommen seid nach den Worten des deutschen Liedes:

„Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt,“

ja darüber hinaus von jenseits des großen Wassers, der Deutsche Sängerbund grüßt euch als seine Kinder und heißt euch durch mich herzlichst willkommen im Einheitszeichen des deutschen Liedes, in der von allem Zauber der Natur und Kunst verklärten Stadt Wien, in der deutschen Ostmark, in der jeder Stein von deutschen Großtaten in Krieg und Frieden redet. Das Land, durch das einst die Nibelungen zogen, das als letztes Bollwerk deutschen Boden  und deutsche Kultur vor dem gewaltigen Ansturm der Türken rettete, das die Großmeister deutscher Kunst, vor allem deutscher Musik, beherbergte, das einen Franz Schubert gebar — dieses Land, es ist mit tausend Ketten an uns ge­bunden, es ist ein Teil von uns selbst, und unwillkürlich tritt auf unsre Lippen der Schwur: Du öster­reichisch Land, du herrliche Stadt Wien, so wie ihr deutsch w a r e t und deutsch seid, so werdet ihr deutsch bleiben, solange

es ein deutsches Volk, eine deutsche Volksverbundenheit gibt. Diese Volksverbundenheit war in dem gewaltigen Weltkrieg zur Schicksalsverbundenheit geworden, zu einer Waffenbrüderschaft, in deren Reihen mit den andern Volksgenossen auch die deutschen Sänger kämpften und starben. In tiefster Wehmut und nie erlöschender, heißester Dankbarkeit gedenken wir der gefallenen Brüder, die ihr Leben opferten, damit wir leben. Unsre Gedanken wandern zu all den treuen Kameraden, die nicht mehr in unsre Sangesgemeinschaft zurückkehren durften, ihr Gedächt­nis brennt in unsern Herzen, ihrer Erinnerung sei ein stilles Gedenken geweiht.

Die Schicksalsgemeinschaft des Weltkrieges hatte verwirklicht, was der Sängerbund seit seiner Gründung auf seine Fahne geschrieben hatte, eine allgemein­deutsche  Volksverbundenheit ohne Rücksicht auf politische Grenzen zu schaffen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme zu erhalten und zu stärken und sie durch das Lied zu einen. Der Deutsche Sänger­bund hat damit seine Arbeit in den Dienst des großen Ganzen, in den Dienst von Volk und Vaterland ge­stellt und die heilige Glut der Begeisterung für deutsches Wesen und deutsches Vaterland bei seinen Festen immer wieder aufs neue zur Flamme entfacht. Welch tiefe Wurzeln der Gedanke, die Liedgemeinschaft zur Volksgemeinschaft zu erheben, in den Herzen der deutschen Sänger geschlagen hat, dafür ist der beste Beweis die unerhörte Anziehungskraft dieses Festes, das mehr denn hunderttausend deutsche Sänger in Wien ver­einigt sieht.

In unser aller Adern, ihr deutschen Sanges­brüder aus Ost und West, aus Nord und Süd, der politisch noch getrennten Bruderländer, fließt deutsches Blut, unser Herz schlägt deutsch, unsre Gedanken kreisen nur um deutsches Wohl und Wehe, in deutschem Sinne empfinden wir die Arbeit an Volk und Vaterland als sittliche Pflicht, ein einziger gewaltiger Strom vater­ländischer Begeisterung, ein einziges großes Gelöbnis der Treue zum deutschen Wesen durchpulst uns alle, die wir Sangesbrüder im Einheitszeichen des deutschen Liedes hier vereinigt sind. Wie sollte es da anders sein, als daß der heiße Wunsch in uns aufsteigt, um das deutsche Volk auch das äußere Band der Einheit zu schlingen, das geistige Groß-Deutschland, das wir mit geschaffen haben, auch nach außen als ein einiges Groß-Deutschland erstehen zu lassen! Wir wissen wohl, daß tausend Bedenken der Verwirklichung dieses Gedankens entgegenstehen, aber wir deutschen Sänger fühlen es zu tiefst, daß es nationale Pflichten gibt, die über allen Bedenken stehen, die ein Volk nicht aufgeben darf, ohne sich selbst aufzugeben und wider den Geist seiner Geschichte und seiner Bestimmung zu handeln.

Unsre Seele dürstet nach diesem Groß-Deutschland, aber unser Verstand sagt uns, daß wir es nicht erzwingen, daß wir nur Vorbereitungsarbeit leisten können. Dieser Arbeit wollen wir uns unterziehen mit der Kraft und Begeisterung, die aus dem deutschen Liede fließt: ringen wollen wir um die Seele des deutschen Volkes, hineinsingen wollen wir in die Herzen aller Deutschen den Gedanken von dem einigen, großen deutschen Vaterland, eine Aufgabe wollen wir uns damit stellen, würdig des die Herzen meisternden deutschen Liedes und seines Künders, des Deutschen Sängerbundes.

Aus den Flammen der Begeisterung des heutigen Tages möge die Liebe zum großen deutschen Vater­lands, befreit von allen Schlacken und Vorurteilen, er­stehen, damit die Welt sieht und erkennt, daß der Deutsche Sängerbund und jeder einzelne seiner Sänger nur das eine Ziel im Auge hat, durch die Pflege des deutschen Liedes dem deutschen Gedanken in der Welt zu dienen für Alldeutschlands Einigkeit und Größe.

Wir grüßen dich, du großes deutsches Vaterland, aus überströmendem Herzen mit brausendem Heilruf, wir erneuern das Bekenntnis zu dir in den machtvoll dahinströmenden Klängen des Deutschlandliedes, das in seiner Verbindung der Worte des norddeutschen Dichters mit den von einem österreichischen Meister ge­schaffenen Tönen das Sinnbild deutscher Verbrüderung, unlöslicher deutscher Schicksalsverbundenheit ist.

In heiliger Begeisterung, als ein einzig Volk von Brüdern vereinigen wir unsre Stimmen in dem Rufe:

Das große deutsche Vaterland, das wir ersehnen und erstreben, und sein Wegbereiter, das deutsche Lied,

Heil! Heil! Heil!

In: Neues Wiener Tagblatt, 22.7.1928, S. 1.