Friedrich Austerlitz: Das Fest der ewig Gestrigen.
N.N. [Austerlitz]: Das Fest der ewig Gestrigen. (1925)
Festgottesdienste, Festversammlungen, Festzüge, Glockengeläute und Paradeaufmärsche, mit Gelehrsamkeit aufgeputzte Jesuitenvorträge und die Reden der unvermeidlichen Kardinal Piffl, Fürstbischof Hefter und des Altkanzlers Seipel, der, seit er uns nicht mehr regiert, täglich in Reden niederplätschert, unerbittlicher und wasserhältiger als unser verregneter Juni — kurz Wien hat wieder einmal seinen Katholikentag. Kreuz ist Trumpf: vorn schwankt es an der Spitze betender Züge, hinten lugt es verschämt hervor im Geschäftsteil Katholikentagsannoncenernte haltender frommer Blätter. Was werden wir wieder alles zu hören bekommen? Aber wir müssen es nicht erst abwarten. Wir wissen es im voraus haargenau. Wir kennen den Text und kennen die Herren Verfasser. Bis auf den Tonfall der Stimme und die eingelernt-gerundete Priestergebärde, ist es immerdar, ist es alle Jahr tödlich-gleichmäßig dasselbe.
Sanierung, Rettung Österreichs durch den gottüberlegenen Ignaz, die Schulreform, dieser Greuel an heiliger Stätte, die Dispensehe und zuvor und danach ein nicht enden wollendes Kulturgeschmuse! Jeder rühmt sich, wenn sein Festtag kommt. Doch vor der Ruhmposaune der Katholikentage verstummt verschüchtert der Ausruferlärm der Großstadtstraße und der gerissenste Reklamechef erkennt ehrfürchtig seine Meister. Denn diese Herren Klerikalen, sie haben nicht nur den Alleinvertrieb des echten und unverfälschten Christentums — vor Lutherischer und Calvinischer Nachahmung wird gewarnt —, sie haben auch sonst in ihrem Kramladen alles, was gut ist und teuer. Das deutsche Volk liegt mit zerfetztem Leib und gebrochenen Gliedern ohnmächtig am Boden, todwund geschlagen in dem Kriege, den die Wiener Römlinge mit Hoch und Halleluja eingeläutet. Tut nichts! Rom klebt, kleistert, leimt alles. Wenn nur die vierzig Millionen deutscher Protestanten, die jetzt in der Finsternis der Ketzerei oder in der Sünde des Unglaubens wandeln, in den Schoß der Alleinseligmachenden zurückkehren, so erhebt sich alsbald aus der Einheit des Glaubens die Herrlichkeit des heiligen römischen Reiches deutscher Nation in erneuertem Glänze, womöglich mit der kostenlosen Zugabe des glaubenstreuen Erzhauses und seiner „Barockkultur“.
Doch was Barock! Weiter geht die Rückfahrt heimwärts in die Dämmer und Schauer der alten Dome. Vor hundert Jahren war es die geistreiche Paradoxie kulturmüder Ästheten, heute ist’s die stroherne Tagesration unermüdlicher Wiederkäuer der katholischen Kulturphilosophie. Und der hundertjährige Ladenhüter— Protestanten mußten sich „bekehren“, um den Römlingen diese eine Idee zu schenken — wird nun je nach dem Zeitbedarf umgemodelt. Alles ist jetzt „sozial“. Also heißt der romantische Schnickschnack neuzeitlich aufgestützt: Die Kirche allein kann die soziale Frage lösen, die sie doch schon im Mittelalter in der vollkommensten Weise gelöst habe. Doch selbst dieser schlechte Witz kommt aus zweiter Hand, aus der Hand der Protestanten Haller und Adam Müller. Schließlich, weshalb sollte die Kirche nicht schon vor sechshundert Jahren den gesellschaftlichen Vollkommenheitszustand erreicht haben, wenn sie gleichzeitig durch die Philosophia perennis, durch die ewig gültige Philosophie des Thomas von Aquino, an die sich nach päpstlicher Vorschrift jeder rechte Katholik halten muß, den Menschen alles weitere Forschen und Sinnen über Weltanschauungsfragen erspart hat? Wir waren schon im Schlaraffenland, ein halb Jahrtausend und mehr könnte die Menschheit in sorglos-fröhlicher Muße auf dem Bauche liegen, hätte Luther den süßen Schlummer nicht gestört, Luther, der — man sagt es uns ja täglich — auch an der Revolution des katholischen Frankreich und an dem Weltkrieg des Wiener Hofes die letzte und eigentliche Schuld trägt. Hoffe keiner ironisierend übertreiben zu können, wo doch die selbstversöhnende Torheit klerikalen Großmaultums im trockensten Ernste weit Groteskeres bietet. Schon vor mehr als fünfzig Jahren vernahm man auf einem deutschen Katholikentag die Rede Holzwarths: „In Demut hat die Wissenschaft vor dem Glauben ihr Haupt zu beugen, das ist ihre Aufgabe; nicht daß sie die Kirche korrigiere, // sie selbst muß sich korrigieren.“ Und wieder auf einem Katholikentag (1906) rief Professor Einig: „Wir Katholiken sind im Besitz der Wahrheit.“ Und ein Jahr später, es war im Jahre der Modernistenenzyklika, verkündete der Präsident des Würzburger Katholikentages: „Ist die Forschung Sache der Wissenschaft, so ist die Entscheidung Sache des kirchlichen Lehramts.“ Was wäre darauf zu erwidern? In den seltenen Augenblicken der Selbsterkenntnis haben Klerikale selbst die Antwort gegeben, indem sie von der „Rückständigkeit der katholischen Wissenschaft“, von „Wissenschaft aus zweiter Hand“ redeten. Indes nicht bloß die Wissenschaft, alles, was der Klerikalismus seit Jahrhunderten tut und vornimmt, sein ganzes geistiges Sein, sein soziales und politisches Handeln ist aus zweiter Hand. Man bewundert so oft die Dauerhastigkeit, die Anpassungsfähigkeit des Klerikalismus. Doch Bewunderung an den menschlichen Dingen verdient nur, was dies eine hat: „Das Stirb und Werde“, verehrungswürdig ist nur das ewig sich Wandelnde, des Heilig-Neuen sterblicher, doch schöpferischer Mutterschoß.
Humanismus, Renaissance, Aufklärung, sie waren und sind nicht mehr. Aber als sie kamen, waren sie ein nie gesehenes Himmelslicht und Schöpferwort, ein seelenentfesselnder Zauber und haben eine andre Menschheit zurückgelassen, als sie sie empfangen. Die Kirche hat sich „erneuert“, zum Beispiel in Trient, als sie in Gefahr stand, alle Deutschen an den Protestantismus zu verlieren, und nun notgedrungen den mittelalterlichen Augiasstall ein wenig auszufegen begann. Der Klerikalismus hat sich „angepaßt“, zum Beispiel im Jahre 1848, als er im „Völkerfrühling“ plötzlich demokratische Gebärden annahm, von „Freiheit“ zu reden begann, Vereine gründete und den Katholikentag — auf den Trümmern des Absolutismus, dem er sich vordem als „sicherste Stütze des Thrones“, als „geistliche Gendarmerie“ geschäftskundig angeboten hatte. Und kaum hatte der Säbel der Gegenrevolution gesiegt, schon wieder standen die alten „Stützen des Thrones“ in der Reichweite der schenkenden Hand der Dynastien. Auch „sozial“ wurden die Ketteler, die Leo in dem Augenblick, da der Sozialismus die städtischen Arbeiter zu ergreifen begann.
Aus zweiter Hand alles, von der Schlauheit eingegeben, niemals von selbstlos dienender Liebe zur Sache! Nachahmung und gestümpert, wie alles bloß Nachgeahmte! Das ist des Klerikalismus Wesen und Tun. Er dauert schwer lastend wie das unbewegliche Dunkel in den Köpfen der ihm ergebenen Massen. Er ist stark wie das ewig Gestrige. Aber keine noch so oft erneute Schminke verwandelt sein welkes, unfruchtbares Alter in blühende, zeugungskräftige Jugend.