Moriz Benedikt: Anschluß oder Zollvereinigung.

N.N. [M. Benedikt]: Anschluß oder Zollvereinigung. Präsident Seitz in einem Gespräche. (1918)

Präsident Seitz ist nach der deutschösterreichischen Verfassung für die Politik des Landes nicht verantwortlich. Die Staatssekretäre haben für sie einzustehen. Die politischen Aussprüche eines Präsidenten haben nur die Bedeutung, die seiner Würde zukommt. Die Präsidenten vertreten den Staatsrat nach außen und gegenüber anderen Ländern und Nationen. Wer diese Pflicht hat, darf besonders in Ge­sprächen mit Angehörigen von Völkern, mit denen wir formell noch im Kriege sind, wichtige Fragen nicht agitatorisch aufputzen und nicht von ihrem sachlichen Unter­grunde losreißen. Diese Art, über Politik zu reden, sollte, wenn es schon nicht anders sein kann, ortsüblich bleiben, aber nicht auch für die Ausfuhr hergerichtet, nicht auch vor den Feinden angewendet werden. Warum soll eine so wichtige Angelegenheit wie die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zu den Völkern der ehemaligen Monarchie nicht ruhig und vernünftig erörtert werden können, ohne daß die Gegengründe statt durch ihr eigenes Gewicht zu wirken, agitatorisch aufgebauscht und mit allerlei Würzen gebeizt werden? Der Vertreter des Bureau Reuter wird den Präsidenten Seitz auch schwerlich verstanden haben, als dieser sagte, der Plan einer wirtschaftlichen Vereinigung mit den Staaten des früheren Österreich werde von der kapitalistischen Klasse unterstützt. Jeder Engländer weiß, daß die Spannweite der Verkehrsgebiete, die innere Freizügigkeit für Waren und die Zollpolitik auf zwei wirtschaftliche Kategorien naturgemäß den höchsten Einfluß haben: Auf Kapital und auf Arbeit. In der ernsten Zeit, die wir jetzt durchzumachen haben, in der Krise, die uns zu bewältigen droht, sind Arbeitsgelegenheit und Arbeitsanerbieten so eng miteinander verbunden, daß eines, von dem anderen nicht getrennt werden kann. Wenn jedoch unter Kapital, auf das Präsident Seitz hingewiesen hat, Industrielle zu verstehen sind, kann wahrheitsgemäß fest­gestellt werden, daß die Erörterung dieser Frage schon lange aus der freien öffentlichen Meinung hervorgegangen ist. Selbständig, aus eigenem Nachdenken und Antrieb, ohne Zusammenhänge, nur von der Sorge geleitet, daß eine wirtschaftliche Krise vermieden werde, wenn der Beschluß, der aus Deutschösterreich einen Bestandteil der deutschen Republik gemacht hat, durch den Widerstand der Entente, besonders von Frankreich, undurchführbar werden sollte.

Die Novemberverfassung erklärt, Deutschösterreich sei ein Bestandteil der deutschen Republik. Die besonderen Gesetze, welche die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der deutschen Republik sowie die Aus­dehnung des Geltungsbereiches von Gesetzen und Ein­richtungen der deutschen Republik auf Deutschösterreich regeln sollen, wurden bisher nicht beschlossen. Die Vereinigung ist daher völkerrechtlich noch nicht vollzogen. Die deutsche Nationalversammlung ist noch nicht gewählt und ob auch sie einen Vereinigungsbeschluß fassen werde, kann jetzt niemand sagen, da die Entscheidung vielleicht eher in Versailles getroffen werden wird als in Berlin. Das deutsche Wahl­gesetz stellt eine gewisse Verbindung her, da unter der Voraussetzung, daß die künftige Nationalversammlung sich auch in Berlin für die Vereinigung aussprechen sollte, bereits die Teilnahme von Deutschösterreich an der großdeutschen Konstituante zugelassen und näher bestimmt worden ist. Die Novemberverfassung hat sich mit einem allgemeinen Satze begnügt, dem noch das Knochengerüst fehlt und der nicht mitteilt, wie sich die Zusammengehörigkeit gestalten werde. Alles ist schwebend, alles unsicher, und für das Fragezeichen, das sich vor dem Schlosse in Versailles aufpflanzt, wurde bisher die Antwort nicht gefunden. Wenn Angehörige des­selben Volkes sich zusammenschließen wollen, kann es niemand bleibend hindern. Aber die Gefahren der wirtschaft­lichen Krise in Österreich sind groß. Jeder Mensch, der am öffentlichen Leben teilnimmt und keine bloße Mandatspolitik treibt, hat die Pflicht, anzuerkennen, daß es notwendig sei, sich mit der Schwierigkeit für Deutschösterreich, das auch nach der Ansicht des Präsidenten Seitz allein nicht bestehen könnte, zu befassen, wenn der Anschluß in den Friedensbedingungen verweigert werden sollte.

Da ist es nun ein Fehler, die Vereinigung mit Deutsch­land und ein verkehrsfreies Gebiet in dem früheren Österreich in einen Gegensatz zu bringen. Wir haben jetzt eine solche Wahl gar nicht zu treffen, weil das verkehrsfreie Gebiet auf Grund des Ausgleiches mit Ungarn für alle früheren Staaten der Monarchie noch besteht. Die Beschränkungen und Quälereien sind mannigfach. Die Ab­sperrung durch Zollschranken hat jedoch bisher nicht statt­gefunden. Dieses Verhältnis braucht nur zur formellen Anerkennung gebracht zu werden und wir gewinnen ein ganzes Jahr zum Übergang und zur Überlegung. Kann es einen vernünftigen Sinn haben, diesen Vorteil zu ver­schmähen und die Menschen, die ihn wollen, mit agitatori­schen Gemeinplätzen, die für einen Präsidenten unserer Republik unpassend sind, zu bekämpfen? Das ist schon deshalb ein Mißgriff, weil die gewöhnliche Staatsklugheit verbietet, daß eine Regierung sich in den von ihrem Willen nicht allein abhängigen Beziehungen zu anderen Völkern festlege und die Freiheit der Bewegung verliere. Ein voraussichtiger Staatsmann muß schon jetzt an die Verlegen­heit denken, die er seinem Lande bereiten würde, wenn es nach dem Frieden von Versailles gezwungen wäre, nicht mehr aus freiem Willen, sondern unter Druck über eine Zolleinigung oder auch nur über Zollverträge mit den Staaten des früheren Österreich zu verhandeln. Das würde nach einer solchen Vernachlässigung kostspielig werden.

Präsident Seitz hat gemeint, daß eine Zollvereinigung ein gemeinsames Parlament voraussetze. Auch das ist ein Irrtum. Die Ausfassung, daß Deutschösterreich keine wie immer geartete politische Gemeinschaft mit den Staaten des früheren Österreich haben dürfe, ist so richtig, daß wenig­stens in diesem Punkte die Meinungen übereinstimmen und keiner den Wunsch hat, dem alten Elend wieder zu verfallen. Das ist tot und begraben. Die Geschichte des deutschen Zollvereines ist ein schlagendes Beispiel, daß eine Vereinigung, die schon wegen ihrer zahlreichen Teilnehmer schwierig war, mehrere Jahrzehnte ohne gemeinsame Ein­richtungen für parlamentarische Gesetze sich bewähren konnte. Das Zollparlament wurde erst nach dem Prager Frieden ge­schaffen und vorher arbeiteten Generalkonferenzen, deren Ergebnis je nach den Verfassungsbestimmungen den schon damals vorhandenen Einzelparlamenten unterbreitet worden sind. Wir hätten nur sechs Teilnehmer, Deutschland hatte ohne Österreich über dreißig. Dennoch war es ein blühendes, aufsteigendes Land und viel glücklicher als heute. Erinnern wir uns, wie Delbrück die Widerspenstigkeit von Hannover durch einen geschickten handelspolitischen Schachzug im alten Zollverein zu beugen wußte. Könnte nicht Ähnliches durch einen plötzlichen Vertragsabschluß zwischen Czechen und Magyaren, zwischen Czechen und Polen geschehen und meint nicht Präsident Seitz, daß wir in die Hinterhand kämen, während Deutschösterreich jetzt viel zu bieten hat, was Böhmen braucht? Sorgen wir für Arbeit und reden wir uns nicht in einen Gegensatz hinein zwischen dem künftigen Anschluß und der jetzt noch bestehenden, wenn auch vielfach geschädigten Verkehrsfreiheit. Wenn der Präsident Seitz in den feindlichen Ländern mitteilen läßt, daß er Deutsch­österreich mit Deutschland vereinigen wolle, aber eine kapitalistische Anleihe von der Entente fordere, so wird dieser eigentümliche Plan den Staatssekretär Dr. Steinwender schwerlich von den Sorgen entlasten. Die Entente würde dem künftigen Bestandteil der deutschen Republik kaum Geld borgen, aber vielleicht eine Rechnung vorlegen. Fragen der heikelsten internationalen Politik dürfen nicht zum agitatori­schen Kleingeld ausgemünzt werden.

In: Neue Freie Presse, 31.12.1918, S. 1.