Stefan Zweig: Bilanz des Jahres
Stefan Zweig: Bilanz des Jahres (1920)
(Ein Brief an Henri Barbusse)
Stefan Zweiggeb. am 28.11.1881 in Wien – gest. am 23.2.1942 in Petrópolis, Rio de Janeiro, Brasilien; Schriftsteller, Übersetzer..., der in Salzburg als deutscher Botschafter Romain Rollands wirkt, erzählt in dieser höchst melancholischen Rückschau, wie viele Blütenträume der „Revolution, der Intellektuellen“ nicht gereift sind. Ach, wo sind sie alle hin, die Räte der geistigen Arbeiter, die deutschen Gruppen der Clarté1919 veröffentlichte Henri Barbusse seinen Roman Clarté, der die Aus- u. Fortwirkungen des Krieges im Alltag von Krieg..., und wie alle diese schnell wieder zerstobenen Tribunale aufgeregter Geister hießen? Niemals hat der deutsche Intellektuelle seine politische Impotenz ungehemmter nachweisen können als seit dem November 1918… Ich wageEine Wiener Wochenschrift. (1898-1925), Begr. u. Hg. von Rudolf Lothar (1898-1902, urspr. R. Spitzer), ferner von Ernst ... nicht zu beurteilen, inwieweit auch die französische Clarté-Bewegung durch literarische Inzucht zur Volksfremdheit verdammt ist— die pädagogisch-moralischen Neigungen von Barbusse und Rolland geben der Bewegung doch immerhin ethische Volkstümlichkeit — in Deutschland fehlt dem Intellektuellen das natürlichste Gemeinschaftsgefühl. Er sitzt immer auf dem Isoliersessel, er wagt nicht ins Wasser einer jungen, starken Bewegung zu springen, er bleibt ewig kritisierender Ideologe, im Innersten, nämlich in der Willenszone, steril, d. h. unschöpferisch. Clarté, ach, das heißt in deutscher Übersetzung vorläufig: Impotenz.
Sie haben, Henri Barbusse, vor einem Jahre das Wort „Clarté“ „Klarheit“ vor ein Buch, vor einen Willen, vor eine Tat gestellt. Und wenn wir auch nicht alle Ihrem Willen restlos eines geworden sind — manche unter uns vermeinen, soziale Neuformung der Welt könne nicht die wesentliche Natur unserer Menschheit wie unserer Zeit verändern —, so sind wir doch Gefährten in dem Willen zur Wahrheit, zur „Klarheit“. Und die Stunde, heute nach einem Jahr, scheint mir die rechte, um in Klarheit von dem zu sprechen, was wir erhofften und was wir erreichten, wir, denen dies Zeichen eine Botschaft über dem Dunkel der Zeit gewesen ist.
Wir wollen klar sprechen, wir wollen wahr sprechen. Und so müssen wir vor allem sagen: wir haben viel erhofft, wir haben wenig erreicht. So viel wie nichts ist geschehen in der Welt von dem, was wir verwirklichen wollten. Der internationale Gedanke, den wir wieder erwecken wollten in den Menschen, in den Nationen (deren Hände noch blutig waren vom Krieg, deren Seelen verkrustet in Haß), ist ohne Macht geblieben, die Grenzen starren härter als je zwischen den Völkern, das Mißtrauen — gedüngt von dem Kot einer erbärmlichen Presse — wuchert noch zu beiden Seiten des Abgrunds. Wir haben nicht einmal uns die Hände reichen können heute nach einem Jahr, nur in geschriebenem Wort unsere Erbitterung, unsern Zorn uns übermitteln.
Ein weiteres Eingeständnis — wir wollen ja in Klarheit reden —: Wir sind heute nicht mehr, wir sind weniger als vor einem Jahr. In der ersten Leidenschaft strömten manche zu, das Wort der Welt-// Verbrüderung wogte über ihr unklares Gefühl: sie meinten, hier sei ein leichtes Werk, ein billiger Erfolg, eine schöne Reklame und vor allem: ein Schleier, den sie über ihr törichtes Verhalten im Kriege werfen könnten. Dann kam das Unvermeidliche: die Unerträglichkeit der einzelnen, die eine Idee nur so lange lieben, als sie ihnen zum Argument ihrer eigenen Existenz dient, kam die Trägheit der Gesinnung, die nicht atmen kann ohne Antwort, ohne Erfolg. Es wäre töricht, es zu leugnen: wir, die wir von je und die wir von heute noch die Einheit Europas, die Verbrüderung der Völker wollten, sind weniger als vor einem Jahre. Denn die Welt ist müde. Der einzelne ist müde, er will nicht in die Ideale, die Wirklichkeiten erst für eine nächste Generation sind, er will Ruhe, er will sein eigenes Werk, sein eigenes Leben. Wir leben in einer ermatteten Generation, die fühlt, daß sie an Phantome der Zukunft schon zuviel in den fünf Kriegsjahren vergeudet hat und die jetzt sich selbst empfinden will. Verhöhnen wir sie darum nicht: in jedem von uns selbst sind solche Stunden des Ekels und der Müdigkeit nicht selten, und wir bedürfen unserer ganzen Kraft, um die Enttäuschungen nicht Macht gewinnen zu lassen über unsere Seele.
Nie war aber — dies müssen wir nun fühlen! — unsere Bemühung darum notwendiger als jetzt, wo sie fast aussichtslos geworden ist. Wir sind weniger, darum müssen wir leidenschaftlicher, müssen wir stärker sein. Vielleicht ist es gut, daß unsere Pläne einer Zusammenkunft, einer Parade, nicht zu früh sich erfüllten: zu viele Arrivisten, zu viele Spaziergänger auf allen Straßen der Oeffentlichkeit hätten sich zugedrängt. Wenige, wie wir jetzt sind, kennen wir einer den andern, wissen wir um unsern Willen und Wert. Wir brauchen nicht eine trügerische Fülle von Menschen vor unsere Idee hinzustellen — eine Idee lebt, wenn sie von hundert Millionen auch nur ein Dutzend Menschen, ja wenn sie nur ein einziger Mensch mit seinem ganzen Wesen darstellt. Sprechen wir darum klar vor der Welt: wir sind wenige geblieben, wie wir immer wenige waren. Wir haben keine Mittel, unsere Idee andern zu verbreiten als durch Werk und Wesen, wir sind arm, wir sind zerstreut, wir sind ohne jede Macht in dem politischen Europa von heute. Wir können keine Torheit verhindern, wir können keine wirklichen Taten tun— wir können nur die Idee lebendig erhalten, den Keim aller wahren Taten, die wahrste Wirklichkeit der Welt.
Dies scheint mir notwendig zu sagen am Ende des ersten Jahres der „Clarte“: daß wir wenige sind und wenig erreichten, aber da die Zahl nicht entscheidet, sondern die Kraft, die eine Idee bewegt. Je weniger wir sind, um so mehr müssen wir uns, einer den andern bestärken, und in diesem Sinne grüße ich Sie heute, Henri Barbusse!