Maximilian Schreier: Uns allen gehört die Republik und deshalb…!

Maximilian Schreier: Uns allen gehört die Republik und deshalb…! (1927)

Die Republik begeht heute ihren neunten Geburtstag. Nicht mit großen Festen, Glocken­geläute, Chorälen, wie dies bei so feierlichen Anlässen sonst üblich ist. Der Feiertag ist vom Staat diktiert, aber die heilige Friedens- und Feststimmung ist noch nicht in die Herzen aller gedrungen. Die Republik ist da, der Ge­danke der republikanischen Staatsform be­ginnt sich wohl zu vertiefen, aber noch sind die Reihen der wahrhaften Republikaner nicht fest geschlossen. Der große Aufmarsch der Arbeiter am Staatsfeiertag hat auch nicht den Charakter eines jubilierenden Festzuges, son­dern tritt als eine gewaltige Demonstration der Arbeiterschaft in Erscheinung, eine De­monstration, durch die sie teils ihre Zugehörigkeit als Republikaner zu diesem Staat mani­festieren wollen, teils, um der Welt den Beweis zu erbringen, daß eben die organisierte Arbeiterschaft in ernster und würdiger Weise auch auf der Straße ihre politische Meinung zu dokumentieren vermag.

Es gibt verschiedene Ansichten darüber, ob es klug war, die hunderttausende Menschen zu einer großen Demonstration zu bewegen, denn seit dem ominösen fürchterlichen Sommertag besteht wohl allgemein der Wunsch, die Aus­tragung politischer Gegensätze an anderen Orten und in anderen Formen durchzuführen, als durch Bewegungen auf der Straße.

Aber die Kundgebung, zu der für heute auf­gerufen wird, soll nicht durch die Signatur des Kampfes, sondern durch die Größe des Friedenswillens ihre imponierende Bedeutung gewinnen. Noch sind wir weit entfernt von Demonstrationen unter der Parole „Nie wieder innerpolitischer Krieg“, aber die Kund­gebung, zu der sich heute Hunderttausende von Menschen vereinigen werden, trägt in sich den Gedanken nach Verständigung, politischen Waffenstillstand, kurz nach all dem, was heute die Sehnsucht der gesamten Bevölkerung ist, — nach innerem Frieden!

Daß diese Idee, die seit dem sozialdemokra­tischen Parteitag die Öffentlichkeit beherrscht, am Festtag der Republik gerade von den echten, hundertprozentigen Republikanern als weithin sichtbares Manifest auf die Straße ge­tragen wird, gibt dem Tag, der sonst mit den offiziellen Veranstaltungen nicht über die Eigenart eines Geburtstagsrummels hinaus­gehen würde, eine höhere Weihe im Sinne einer wirklich politischen Tat. Die Republik gehört uns allen, Hoch und Nieder, wie das allgemeine Wort heißt, den Bürgern, den Arbeitern, den Bauern. Alle die, die sich zur Republik bekennen, haben darum ein Anrecht, am republikanischen Schaffen des Staates aktiv teilzunehmen. Das eigensinnige Festhalten an der Auffassung, daß nur Parteien, die über die Majorität verfügen, ein Anrecht haben, den Staat zu verwalten, hat in den letzten Jahren viel Unheil angerichtet und statt einer Aufwärtsbewegung unseres Staatswesens eher ein Niedergleiten im An­sehen zur Folge gehabt, worüber sich aller­dings diejenigen, die durch dieses System einen Gewinn für die eigene Partei erhofften, leicht hinwegtrösten. Wohin das völlige Ignorieren des Vorhandenseins mächtiger Gruppen Andersgesinnter führt, haben jene traurigen Julitage gezeigt, bei deren Erinnerung wir noch alle schaudernd erzitternd uns immer wieder die Frage stellen, wieso dies denn bei uns möglich war. Gelehrten forschender Massenpsychologie bleibt es vorbehalten, ein­mal die Erklärung für diese fürchterliche Entgleisung zu finden. Uns aber genügt die traurige Tatsache, daß derartiges geschehen konnte, und wir müssen als ernste Menschen eben aus dieser Tatsache die einzig richtige Lehre ziehen: daß das, was einmal möglich war, sich nach dem Spruch des weisen Ben Akiba immer wiederholen könne: — wenn man nicht rechtzeitig mit dem besten Heilmittel die schwere Krankheit, von der der Gesamtorga­nismus befallen wurde, bekämpft. Ohne Vorwurf, nur zur Feststellung des Geschehens, muß konstatiert werden, daß das seit so vielen Jahren bei uns herrschende System nicht zum Frieden, sondern zum erbittertsten Kampf ge­führt hat, zu einem Kampf, der bei Fort­dauer der jahrelangen Methode der absoluten Parteiherrschaft die Gefahr eines Bürger­krieges in beängstigende Nähe rückt.

Die Staatsweisheit von ehedem, in der man die höchste Auswirkung demokratischer Auffassung in der Verherrlichung des Majoritäts- und Minoritätsprinzips sah, diese Doktrin hatte nur in einem Staatswesen Berechtigung, in dem neben der konstitutionel­len Gewalt noch die absolute Autorität des Herrschers sich auswirken konnte, diese Dok­trin hatte einen Schein von Berechtigung in einem Staate, wo die Staatsangehörigen nichts für den Staat übrig hatten. Diese Re­publik aber, die uns allen gehört, muß nach ganz anderen Grundsätzen verwaltet und re­giert werden, es darf nicht Staatsangehörige erster und zweiter Kategorie geben, die Mino­rität darf nicht den Eindruck gewinnen, daß sie unter der Diktatur einer augenblicklichen Majorität steht, denn dadurch müßte über kurz oder lang das eintreten, was das Erb­übel der Monarchie war, eine Abkehr vom Staate, eine ausgesprochene Staatsverdrossenheit. Das ist eben der gewaltige Unterschied zwischen Republik und Monarchie, daß in der Staatsform der Monarchie, trotz aller möglichen fortgeschrittenen Gesetze und Ver­ankerung konstitutioneller Rechte, der Bürger nicht das Gefühl besitzt, daß der Staat ihm und er zum Staate gehört, während, wenn die Erziehung der Massen zu Republikanern voll­zogen ist, jeder einzelne von ihnen die Re­publik als sein heiligstes, unantastbares Gut in sein Herz einschließt. Kommen aber Poli­tiker, die sich sogar Staatsmänner nennen, und weisen mit strenger Geste fast die Hälfte der Bevölkerung von den Stellen weg, wo die Arbeit am Staate geleistet wird, dann ent­steht in letzter Auswirkung das, was sicherlich nicht zu entschuldigen, aber durch ein verfehltes System erklärt werden kann — eben das, was wir an den blutigen Sommertagen miterlebt haben.

Die Republik gehört uns allen und des­ halb…! Es klingt wie eine bittere Ironie, daß gerade jene Hunderttausende von Men­schen, die heute allerorten demonstrativ den republikanischen Staatsfeiertag begehen wer­den, daß gerade diese Massen ausgeschaltet bleiben von der Mitverwaltung und vom Mitregieren der Republik. Verheißungsvolle Anzeichen für die Zukunft werden sichtbar. Schon beginnt es da und dort zu dämmern, schon er­ hält die Friedensaktion deutliche Formen, und wenn die Erkenntnis, daß alle die, die sich zur Republik bekennen, auch ein Anrecht haben, an der Entwicklung des Vaterlandes mitzuwirken, noch weiter um sich greift, so wird der neunte Geburtstag unseres Staates, den wir heute begehen, der letzte sein, an dem die Gegensätze sich so schroff äußern, der letzte sein, der die Masten der Angestellten und Arbeiter in der Aschenbrödelrolle sieht, ausgeschaltet von der aktiven Mitwirkung an der Republik; dann wird der nächste Geburtstag die Repu­blik nicht mehr unter dem Absolutismus einer Parteiherrschaft sehen, sondern er wird ge­feiert werden unter dem Zeichen, daß die Re­publik uns allen gehört!

In: Der Tag, 12.11.1927, S. 2.