Richard Schmitz: Der Katholikentag und die soziale Frage

Richard Schmitz: Der Katholikentag und die soziale Frage (1925)

Der dritte Katholikentag des Wiener Erzbistums ist unter das Zeichen der sozialen Frage gestellt. Kaum eine andere Tagung ist würdiger und geeigneter, die Probleme der Gesellschaftsreform zu erörtern; denn wer sollte und könnte mit mehr Recht als eine Tagung gläubiger Katholiken die moderne Gesellschaft an ihre Pflichten gegenüber dem „kleinen Mann“, dem „Proletarier“, oder wie immer das politische Schlagwort die Opfer der sozialen Not bezeichnen mag, erinnern? Aus den Katho­likentagen des alten Deutschland und des neuen Deutschen Reiches, ebenso wie auf den Katholikentagen Österreichs hat die Behandlung sozialer Fragen stets einen großen Raum eingenommen und höchste Aufmerksamkeit gefunden. Das geschah schon in einer Zeit, in der das soziale Gewissen der Mehrheit der deutschen Nation schlummerte, da der Geist des manchesterlichen Liberalismus weithin, wenn auch nicht immer die Worte, so doch die Taten der in Wirtschaft und Politik führenden Kreise bestimmte. Ohne das Verdienst anderer, so vor allem der Geehrten im Vereine für Sozialpolitik zu schmälern, kann mit stolzer Genugtuung festgestellt werden, daß es Katholiken waren, die der Sozialreform im deutschen Volke ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit Bahn gebrochen, Wege gezeigt und Ziele gesteckt haben. Nicht als Widerschein klassenkämpferischer Denkweise, sondern aus den Impulsen, die die katholische Religion ihren wahrhaft gläubigen Kindern schenkt, kam die soziale Frage auf die Tagesordnung der großen deutschen Katholikentage und seit den siebziger Jahren ist es so geblieben. Man gedenke der ehrwürdigen Gestalt des edlen Fürsten Löwenstein, der im Habit des Dominikaners starb, um eine Fülle von Erinnerungen wach werden zu lassen. Gerade Fürst Löwenstein war das Bindeglied zwischen den Katholikentagen und der sie tragenden mächtigen Volksbewegung der deutschen Katholiken einerseits und den „Freien Vereinigungen“ anderseits, in denen Seelsorger und Politiker, Gelehrte und Männer der sozialen Praxis sich immer wieder zusammenfanden, mir vom katholischen Standpunkte aus die sozialen Probleme ihrer Zeit zu durchdenken und Lösungen zu erwägen. An dieser sozialen Arbeit der Katholikentage wie der „Freien Vereinigungen“ hat Österreich seinen vollen Anteil. Ja man darf sagen, daß gerade auf dem österreichischen Boden Reformideen heranreiften und Persön­lichkeiten wirkten, die andere Länder befruchteten und so mitwirkten, die Umwelt zu schaffen für das gewaltige Rundschreiben Leos XIII. über die Arbeiterfrage. Vor allem muß hier des II. Allgemeinen österreichischen Katholikentages gedacht werden, der ein umfangreiches Programm sozialer Reformaufgaben für alle bedrängten Stände zum Beschlusse erhob und damit der Welt Zeugnis gab von der Tiefe der sozialen Erkenntnis und der Kraft des sozialen Wollens der österreichischen Katholiken der achtziger Jahre, denen ja das Hauptverdienst an der unschätzbaren sozialpolitischen Gesetzgebung jener schweren Zeit gebührt.

Warum aber wählt man jetzt neuerdings das soziale Leitmotiv für den Wiener Katholikentag?

Auf dem letzten Kongreß unserer christlichen Gewerk­schaften verwies ich darauf, daß wir jetzt noch eine sozialpolitische Reaktionsperiode durch­zumachen haben. Der soziale Reformeifer wirkt sich erfahrungsgemäß ähnlich einer bizarren Kurve aus, die bald jäh ansteigt, bald ebenso jäh herabsinkt. Gesteigerte Reformtätigkeit ist sodann zumeist in Zeiten drückender Not zu beobachten. Beide Umstände wirkten in jener schrecklichen Zeit nach dem verlorenen Kriege zusammen, um einen Rekord sozialer Gesetzgebung in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit zustande zu bringen, von dem ein einwandfreier Zeuge, der frühere Leiter der sozialpolitischen Sektion im Ministerium für soziale Verwaltung, Sektionschef Dr. Lederer, kürzlich schrieb, daß er treibhausähnlich gewesen sei. Jedem Siege folgt die Ermattung, jeder wichtigen Gesetzgebung der Gegenstoß der Kritik. Hier hatte sie es manchesmal leicht: die „treibhausähnliche“ Hast revolutionärer Gesetzgebung hatte ja nicht immer eine sorgfältige und objektive Formulierung der einzelnen Bestimmungen zugelassen. Dazu kam der große Katzenjammer nach dem Inflationsrausch. Alles das verschärfte mitunter die antisoziale Stimmung einflußreicher Kreise, denen zumeist auch die öffentliche Meinung unseres Landes gehorcht, so sehr, daß man Grund haben konnte, um die Bewahrung wahrhaft wertvoller sozialer Errungenschaften der Nachkriegszeit zu bangen. Gleichwohl ist auch diese gefahrdrohende Reaktionsperiode bisher ohne wesentliche Verluste in Österreich vorübergegangen, während im Deutschen Reich breite Durchbrüche erfolgten.

*

Unsere reichgegliederte soziale Gesetzgebung ist im wesentlichen unangetastet. Kann man aber deshalb sagen, daß die soziale Not aufgehört habe oder daß der soziale Friede besser gesichert sei als in früheren Zeiten? Nein! Gärende Unzufriedenheit fiebert in Herz und Hirn weiter Schichten unseres Volkes. Die Massen erleben, daß Rückschläge in der Weltwirtschaft oder in der heimischen Wirtschaft immer wieder an den Besitzlosen mit voller Wucht sich auswirken, während die Opfer der Besitzenden in solchen Zeiten immerhin noch erträglich genannt werden müssen, ver­gleicht man sie etwa mit proletarischen Schicksalen oder mit der Vernichtung des alten Rentnerstandes. Diese Ungleichheit im Unglück hat etwas revolutionierendes. Sozialistisch-bolschewikische Agitation sorgt dafür, daß die Leidenschaft sich nicht beruhigt und so sehen wir in allen Staaten Europas deutliche Symptome eines sozialrevolutionären Prozesses, dessen Umfang schwer abzuschätzen ist, dessen Tatsächlichkeit jedoch nicht geleugnet werden kann. Den stärksten Antrieb bekommt es aus der ungeheuren Massennot gerade unserer Tage. Diese wirtschaftliche Not und das Umsichgreifen sozialrevolutionärer Stimmungen und Agitationen wird immerhin wiederum planmäßig in antireligiösem Sinne ausgewertet, indem man die jetzige Gesellschaftsordnung mit allen ihren Fehlern einfachhin als eine christliche bezeichnet, die Irrtümer einzelner als Versagen des Katholizismus hinstellt und so breite Massen des Volkes Kirche und Religion immer mehr entfremdet, gegen sie stellt und schließlich von ihnen loslöst. Die innere Loslösung vom Christentum bedeutet aber zugleich die Beseitigung der stärksten Hemmungen, die den sozialrevolutionären Tendenzen entgegenwirken.

Dürfte überhaupt ein Katholikentag, der in solcher Zeit zusammentritt, an der sozialen Not, ihren Problemen und ihrem Verhältnis zu Religion und Kirche achtlos vorübergehen? Ein solcher Katholikentag würde kein Ver­ständnis in den Volksmassen finden. Ein solcher Katholikentag hätte auch nicht dem derzeitigen Stande des Geisteslebens im österreichischen Katholizismus ent­sprochen. Stärker als in der Zeit unmittelbar vor dem Kriege ringen seit dem schreck­lichen Weltbrande in der katholischen Be­wegung sozialreformerische Prinzipien miteinander. Mag auch vieles wieder versunken sein, die große Welle religiösen Erneuerungswillens, die man am Anfang des Krieges erwartungsvoll erlebte, scheint noch heute in einem Teil der jungen katholischen Intelligenz nachzuwirken. Rege Geister suchen, aus den Werten der Vergangenheit und den Erkenntnissen der Moderne alte und doch wieder neue Systeme zu bauen. Mögen unsere Gegner diese Bestrebungen mit dem Schlagworte romantischer Utopien abtun, im katholischen Lager hat man Grund, mit dem verheißungsvollen geistigen Schaffen, mit dem reinen und edlen Wollen der jungen akademischen Generation in liebevoller Aufmerksamkeit sich auseinanderzusetzen. In einem hat dieser Kreis unbestreitbar recht: in seiner bitteren Anklage gegen die Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit, mit der weithin die katholische Be­völkerung den prinzipiellen Fragen der jetzigen Wirt-// schaftsweise, ihrer sozialen Folgeerscheinungen und der Haltung der Katholiken dazu entgegenbringt, indes viele tausende Proletarier nicht nur dem Vertrauen auf die auf die Möglichkeit einer Reform der Gesellschaft, sondern — infolge des Zusammenwirkens der sozialistischen Arbeiterbewegung mit dem Freidenkertum — dem Glauben an Gott und seine Gebote verloren gehen.

Aus solchen Gedankengängen heraus hat der Diözesanverband beschlossen, dem dritten Wiener Katholikentage die soziale Not der Gegenwart und die Pflichten der Katholiken ihr gegenüber zum Leitmotive zu geben. Möge auch diesem Katholikentage der Erfolg beschieden sein, der so manchen seiner Vorgänger krönte! Möge von diesem Wiener Katholikentage der Marchfeldbauer und der Industriearbeiter im Steinfeld, der Bürger der Großstadt und der Knecht im Bergdorfe an der Südgrenze unseres Bistums, mögen sie alle mit­einander heimkehren mit der ernsten Erkenntnis und dem festen Willen zur bewußten und opferfrohen Mitarbeit an der Besserung unerträglich gewordener Zustände, an der Durchführung der großen Ideen der christlichen Sozialreform!

In: Reichspost, 28.6.1925, S. 2-3.