Moritz Scheyer: Gas. Schauspiel in fünf Akten von Georg Kaiser

Moritz Scheyer: Gas. Schauspiel in fünf Akten von Georg Kaiser (1920)

Das ist die Grundstimmung unsrer entblättert sterbenden Gegenwart und unsrer zerbrochenen Zukunft: Explosion, Schiffbruch überall. Die Menschheit an den zerfressenden, giftigen Gasen ihrer Lügen gescheitert. Und unsre Nachkommen werden es machen, wie wir es gemacht haben. Der Menschheit schlechtes Gedächtnis ist ihr Segen und ihr Fluch zugleich.

Die Menschheit hat ungeheure Fortschritte aufzuweisen: das Gas der Technik wirkt auf die unerhörtesten Entfernungen. Um zu morden, haben wir es gelernt, zu fliegen und auf den Meeresgrund hinabzutauchen; um zu morden, ließen wir über Tausende von Meilen elektrische Wellen drahtlos schwingen. Wir haben die Wissenschaft der Zerstörung genial zur höchsten Vollendung und Verfeinerung emporgetrieben; was hat da­gegen die Zerstörung der Wissenschaften zu bedeuten! Un­glaublich, märchenhaft sind die Fortschritte der Menschheit; aber die Menschen sind ein wenig zurückgeblieben: sie stehen auf demselben Fleck, auf dem sie seit jeher waren und wo sie in alle Ewigkeit bleiben werden, mitten im Chaos, in der Urnacht der Zeiten, allen Erfindungen, allen Revolutionen, allen menschheitsbeglückenden Theoretikern und Demagogen zum Trotz. Man wirft jetzt gern alles in einen Kessel, das Unterste zuoberst, und das Resultat ist, daß einige kluge Köche es aller­orten verstehen, ihr eigenes bißchen Parteisuppe an dem mit Schlagworten geheizten Feuer zu kochen und das Fett rechtzeitig abzuschöpfen.

Noch niemals haben wir es so furchtbar deutlich und rettungslos empfunden wie jetzt nach dem Kriege: was aus uns geworden ist und was aus uns hätte werden können. Wie kindlich, reich waren wir doch an blühender Hoffnung und über­quellendem Glauben, süß betäubt und zugleich angetrieben von dem „Gas“ unsrer Sehnsucht und unsrer Träume! Aber eines Tages versagte die Formel, ganz wie in Georg Kaisers zwie­spältigem Spektakelstück, es kam die große Explosion über uns, wir wurden jäh zu Boden geschleudert, und als wir uns mühsam und verkrüppelt wieder zu erheben versuchten und unsre schönsten, tröstlichsten Illusionen wieder vorsichtig hervorholen wollten, da sahen wir zu unserem Entsetzen, daß sie morsch waren und auseinanderfielen gleich alten Kleidern, die man von Motten zerfressen findet, wenn man lang verschlossene Schränke endlich öffnet….

Darum sind jetzt so viele unter uns, die im Dunkel den Weg verloren haben und sich nun wild und inbrünstig in metaphysischer Verzückung nach dem dritten Reiche sehnen; nach einer lichten, erlösten Zeit, die keine Gewalt mehr üben und keine Gewalt mehr leiden wird.

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Diese ohnmächtige Entmutigung, diesen sinnlosen Haß und dieses gierige Verlangen nach dem neuen befreiten Menschen sucht Georg Kaiser mit einer Art expressionistischer Stenographie in eine krampfhaft überstürzte, atemlos vorüber­rasende Phantasmagorie zu ballen; bald aufgelöst in ideologi­schem Dunst, bald wieder grob körperlich, hin- und herschwankend zwischen brutalen Kinospannungen und reiner Abstraktion, das Ganze eingehüllt in eine Gaswolke von gedrängter und doch redselig wuchernder Rhetorik, die jeden Augenblick in künstlich erhitzten Tiraden und Manifesten explodiert, statt in heißer Leidenschaft. Es gibt dann immer einen schrecklichen Knall, aber keinen tragischen Blitz, und fast nirgends schießt die Stichflamme unmittelbaren Erlebens bannend hervor. Viel Gewalt und wenig Kraft; Größe oft, doch selten Tiefe. Dazwischen eine Szene von verklärter, einsam dichterischer Schönheit: wie ein Mensch, verfolgt von den gräßlichen Visionen der Explosionen, die er eben überstanden, geschüttelt von den Delirien des Wahnsinns, den anstürmen­den Furien seiner Not ein einziges Wort, ein reines, frommes Wort gleich e. nein geheiligten Kreuz« entgegenstreckt: „Mutter“….

Die Katastrophe geschieht in dem riesenhaften Werk eines Milliardärs, das die ganze Welt mit Gas versorgt und bereits sozialisiert ist. Nach der Explosion verlangen die Arbeiter die Entlassung des Ingenieurs, der die Formel für das Gas erfunden. Die Formel stimmt, kein Fehler ist zu entdecken, das Unglück war Force majeure; aber die Erregung der Massen braucht ein Ventil, seit jeher, und das ist die Beseitigung des Ingenieurs, die durch Streik erzwungen werden soll. An­fänglich weigert sich der Milliardär; doch dann stimmt er ihnen

bei: nicht nur der Ingenieur soll entlassen werden, sie alle sollen entlassen sein aus der verderblichen Fron, sie sollen aufhören, schutzlos, allen Formeln der Welt zum Trotz, jeden Augenblick einer todbringenden Gefahr preisgegeben zu sein. Er will seinen Grund und Boden unter sie verteilen, freie glückliche Menschen in Lust und Sonne sollen sie werden. Da lehnen sie sich auf, empören sich gegen die eigene Befreiung; die Sozialisierung hat sie in Kapitalisten verwandelt, und als Kapitalisten wollen sie lieber weiterarbeiten für das Kapital, das drohend nach seinem Gas schreit, weiter­arbeiten für den Staat, der ihnen mit Rücksicht auf den kommenden Krieg „alle Wünsche vollinhaltlich befriedigt“. Der Ingenieur soll bleiben und sie ins Werk zurückführen, wo sie wieder Gas erzeugen werden, Gas für die ganze Welt — bis zur nächsten Weltexplosion.

Der Milliardär sieht die heulende Menge abziehen. Allein bleibt er zurück und tröstet sich mit der Hoffnung auf den neuen Menschen, auf den Messias.

Vielleicht kommt er wirklich, der Messias, sowie er ja schon einmal unter uns wandelte; aber ich fürchte, sie verhöhnen ihn dann wieder und schlagen ihn zu Golgatha ans Kreuz. Und hören werden sie in alle Ewigkeit nur auf die falschen Pro­pheten, die sich in Milliardäre verwandeln, als Milliardäre, die zu Volksbeglückern werden.

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Die Regie des Herrn Bernau hat Geist und Atem und breitet über das Ganze einen feinen Schleier von über­dimensionaler Unwirklichkeit. Die Arbeiterversammlung im vierten Akt möchte man sich differenzierter wünschen, es wird da zu viel und zu kontinuierlich geschrien, von der Komparserie und den sonst vortrefflichen Damen Danegger, Vollkmar, Werner und den Herren Brausewerter, Kammauf, Altringen, Brady. Der schwierigen,

kantig scharfen Diktion Kaisers zeigte sich Herr Everth als Ingenieur ge­wachsen. Das übrige Ensemble wird von den Herren Goetz, Ehrle, Kutschera, Novotny und Fräulein Wessely

ergänzt.

Den Milliardär spielt der überaus fleißige, strebsame Herr Klitsch; er plagt sich ehrlich und beherrscht die Gebärde. Aber was er dazu spricht, bleibt aus- und abrollende Dekla­mation und dringt zu keiner Gestaltung vor. Dieser Milliardär wirkt oft wie ein monumentales Filmplakat: „Der Herr der Welt, fünfter Teil, der Mann mit den Milliarden.“

Dr. Moriz Scheyer.

In: Neues Wiener Tagblatt, 28. 11. 1920, S. 10.