Leo Perry: Zauberberg Wien

Leo Perry [ ]: Zauberberg Wien (1932)

Ein gewisser Thomas Mann, von dem die glänzend informierte „Dötz“ kürzlich gelegentlich eines scharfen Angriffes behaup­tete, er wäre ein Namensvetter von Heinrich Mann, den jedoch die übrige Mitwelt als den Dichter der Buddenbrooks, des Zauberbergs und der herrlichen Novelle Der Tod in Venedig verehrt, weilte dieser Tage in Wien.

Wie es bei Besuchern von Rang und Namen üblich ist, wurde auch Thomas Mann von der Wiener Fremdenverkehrs-Kommission ersucht, sich über die in Wien erhaltenen Eindrücke zu äußern und gewisser­maßen ein Attest über Wien abzugeben. Thomas Mann erfüllte diesen Wunsch, aber er erfüllte ihn in einer Form, die ihm bei den Parteigängern des Dritten Reiches kaum nützen wird. Er war unvorsichtig genug, Wien nicht als die Stadt der Lieder zu preisen und allerlei Flachheiten über die Stadt Schuberts, Mozarts und Beethovens zu äußern, sondern das Hauptgewicht auf die sozialen Institutionen des neuen Wien zu legen. Er hat freilich eine Entschuldigung dafür. Er ist der Dichter des Zauberbergs, jenes Romans, der Davos schildert, und so war es naheliegend, daß er Parallelen zwi­schen Davos und Wien zog.

Thomas Mann hatte Gelegenheit, die von der Gemeinde Wien geschaffenen Nachkriegseinrichtungen auf sozialem Gebiet ken­nen zu lernen, und so sagt er wörtlich:

„Namentlich das Tuberkulosenheim mit sei­nen nach den neuesten Errungenschaften der Wissenschaft geschaffenen Einrichtungen er­weckte meine Begeisterung, da ich Davos kenne, wo ich meine Studien für den Zauberberg machte und das mir vielfach zu Vergleichen Anlaß gab“. Was Thomas Mann weiter sagt, ist für Wien außer­ordentlich schmeichelhaft und bedeutet ein derartig ernstes und von rein menschlichen Gesichtspunkten diktiertes Lob, daß ihm ge­genüber ein für allemal das leichtfertig zu demagogischen Zwecken geprägte Wort von der „Fürsorge-Inflation“ verstummen muß. Thomas Mann erklärt nämlich: „Es ist er­staunlich und im höchsten Maße bewundernswert, was hier vom hygienischen, ästhetischen und sozialen Standpunkt an Vorbildlichem geschaffen wurde und von keiner Stadt der Welt übertroffen wird. Was dem sozialfühlenden Menschen so viel Befriedigung verschafft, ist die Tatsache, daß für Menschen der armen Volksklasse an mustergültigen Einrichtungen bereitgestellt wird, was sich in gleicher Weise in Davos und anderwärts nur die reichen Bevölkerungskreise verschaffen können. Es ist so­ziale Gerechtigkeit, wie man sie hier am vollendetsten und vorbildlich finden kann.“

Keinen schöneren, keinen edleren, keinen reineren Gruß an Wien hätte der Dichter hinterlassen können als diesen. Er bestätigt uns, daß in Wien die vornehmste Menschenpflicht, jene der sozialen Gerechtigkeit, in mustergültiger Weise erfüllt wird, indem nicht der Besitz von Geldmitteln das Anrecht auf Heilung und Gesundung verleiht, son­dern dieses Anrecht aus Gründen brüder­licher Menschenliebe sozial und gerecht jedermann zugemessen wird.

Wien dankt dem Dichter für seine hohe Gesinnung und es dankt ihm für den durch sie bewiesenen Mut. Denn leider gehört be­reits allerpersönlichster Mut dazu, sich als Mensch und als Menschenbruder zu beken­nen. Thomas Mann, ein Halsstarriger sei­ner Überzeugung und deshalb von der Un­geistigkeit der fascistischen Reaktion gehaßt und häufig angespuckt, hat es reichlich erfahren müssen.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 27.10.1932, S. 3.