Leopold Jacobson: Georg Kaisers „Gas“. (1920)

Leopold Jacobson: Georg Kaisers „Gas“. (1920)

Schauspiel in fünf Aufzügen – Erstaufführung am Deutschen Volkstheater.

Es hat ein künstlerisches Problem Georg Kaiser gegeben, noch ehe ein kriminalistisches auftauchte. Das erste, ebenso seltsam anziehend wie das zweite, wird wahrscheinlich schwerer zu lösen sein. Im Gerichtssaal entscheidet die nüchterne Formel, in der Kunst hat man es mit Imponderabilien zu tun. Das Unwägbare beherscht das ganze Schaffen Georg Kaisers, angefangen vom Schüler Vehgesack bis zum Tanzspiel Europa. In diesem Dutzend, das immer auf sonderbare Art schillert, locken fortwährend Fragen aller Art, literarische, psychologische, theatralische; einmal scheint nur ein reiner, seelischer Intellekt am Werk, das nächste Mal ein spekulatives Wollen: einmal eine ursprüngliche

Geistigkeit, die über Abgründe und Höhen sich hinüberschwingt, das nächste Mal ein kühles Rechentalent, das mit Plus und Minus auf seinen Vorteil bedacht scheint. Die Stücke sind ungleichmäßig, im Stil, im Denken, im Wurf; nur eines ist ihnen fast immer gemeinsam: die gebrochene Linie. Sie verlassen irgendwo den Weg und gehen plötzlich im Zick-Zack. Das mag ebensosehr ein künstlerischer wie psychologischer Defekt sein; ein theatralischer war es von eh und je.

Aber dieses Problem Georg Kaiser hat seine Reize. In diesem Schriftsteller ist trotz Aber, trotz Wenn ein literarischer Ausdruck der Zeit lebendig, ein triebhaftes Künstlertum von neu­artigem konstruktiven Pathos, das aus gedanklicher Ethik und sinnlich-physischen Wallungen entspringt. In seinen letzten Schauspielen tritt der Zusammenhang schärf« und klarer hervor. Sie bilden schon eine Kette. Immer von neuem ergibt sich hier, daß alles ursprüngliche Menschentum und jeder Gefühlswert scheinbar keinen Bestand hat vor der Realität des eingeengten, anerzogenen Denkens, vor der Häßlichkeit der Menschennatur überhaupt, die im höheren Sinne immer amoralisch bleibt.

Das Schauspiel Gas hat bei Georg Kaiser schon Vor­läufer. Der Anknüpfungspunkt könnte beim Schluß der Komödie Von Morgens bis Mitternacht gefunden werden, wo sich der Defraudant zur Heilsarmee flüchtet, aber es erleiden muß, daß sich eine der Heilslehrerinnen seiner versichert, um die Prämie für die Ergreifung des Verbrechers zu verdienen. Näher noch zum Schauspiel Gas aber ist Die Koralle, diese große Anklage gegen den Kapitalismus, die den Milliardär an dem Experiment der Selbstläuterung scheitern läßt. Der eigene Sohn stellt sich gegen den Vater und macht die Sache der Arbeiter zu seiner eigenen. Dieser Sohn ist jetzt der Held des Schauspiels Gas, das nicht mehr und nicht weniger sein will als die Probe auf das Exempel, wie über alle sozialpolitische Praxis die letzte endgültige Idee des freien und befreiten Menschentums, der Christusgedanke überhaupt, nur eine Vision bleiben muß, daß Mensch, Schule, Staat, Technik, Wissenschaft, kurzum der ganze kapitalistische Weltbegriff, eine Verwirrung aller Denk- und Gefühlswerte herbeigeführt hat, die nicht mehr aus Hirn und Herz zu reißen sind. Aber im Symbol und Gleichnis ist auch wie Prolog, Apologie und Epilog des Krieges. Es ist kein realistisches Schauspiel, sondern ein im bedingten Sinne expressionistisches. Er ist die ins Theatralische umgesetzte Dämonie eines Gott- und Menschensuchers.

Der Milliardärssohn hat gemeinsam mit den Arbeitern ein ungeheures Werk aufgerichtet, in dem ein Gas erzeugt wird, das die gesamte Weltwirtschaft in Betrieb setzt. Dieses Werk ist – der Sozialisierungsgedanke erscheint vorweggenommen – Eigentum aller, der Milliardär nur der Erste Arbeiter. Da entsteht eine ungeheure Explosion, die Tod und Verderben herbeiführt. (Der Knall, das Chaos, aus dem eine neue Welt erstehen soll, ist ein mehrfach wiederkehrendes Motiv bei Georg Kaiser.) Die chemische Formel für die Erzeugung des Gases, die zweifellos stimmte und doch wieder nicht stimmte, hat plötzlich versagt und der Milliardär weigert sich nun angesichts des Unglücks, das das Werk aus den Trümmern neu erstehen zu lassen. Lieber will er eine Siedlung gründen und die Arbeiter zur Natur zurückführen, ihnen ein Lebensidyll schaffen. Aber während die Masse eben noch die Entfernung des Ingenieurs gefordert hat, als ob es nicht gleichgültig wäre, ob dieser oder ein anderer nach der gleichen Formel die Erzeugung von Gas bewerkstelligen würde, schlägt plötzlich die Stimmung der Arbeiter um; eben haben sie sich noch von dem Gedanken beherrschen lassen, daß ihre Augen, ihre Hände, ihre Füße, ihr Leib bloß einzelne Maschinenteile im Räderwerk des Kapitalismus sind und daß sie selbst die Waffen gegen sich schmieden, eben noch sind sie für den Gedanken einer individuellen, idyllischen, natürlichen Gemeinwirtschaft im Sinne des Milliardärs ent­brannt, da tritt ihnen jener gehaßte Ingenieur entgegen und zeigt ihnen in flammenden Worten auf, daß sie mit dem Werk, das sie schaffen halfen, tiefer verbunden seien als sie selbst ahnen. Er stellt ihnen die Leidenschaft der Arbeit vor und fragt sie, ob sie, die die Technik und Wissenschaft zur Vollendung führten, Bauern werden wollen. Und die Masse antwortet mit Nein. In ihr lebt unausrottbar der Trieb: schöpferisch zu arbeiten. Arbeiten ist ihr Gefühl, Arbeit ihr Beruf, Arbeit ihre Tragik. Vergebens warnt der Milliardäre. Die Arbeiter erzwingen ihren Willen, und der Milliardär mit der menschenbeglückenden Idee bleibt besiegt zurück. Schön ist dann der Ausblick, daß ihm seine Tochter den neuen Menschen zu gebären hofft, (Dieser neue Mensch, der Sohn, ist der Held des zweiten Teiles von Gas, eines ebenfalls schon erschienenen Schauspiels. Darin wird, um die Menschheit auf einmal zu zerstören, ein Giftgas erzeugt, sozusagen als letzter Ausweg aus der geistigen und seelischen Hölle.)

Das Schauspiel Georg Kaisers, diese weit über alle sozialpraktische und Erkenntnistheorie hinauslangende Vision, schwingt in einem für den Dichter immer charakteristischen Rhythmus hin. Die Menschen sind irreal wie die Idee, ihre Seelen und Leidenschaften vom Individuellen ins Allgemeine, projiziert. Kurz, knapp, scharf fallen die Worte, Unter- und Oberstimmen sind gegeneinander abgestimmt. Aber man wird bei alledem doch nie die Empfindung der dialektischen Überhitztheit, des mir kaltem Wege erzeugten ethischen Pathos los. Irgendwo spürt man eine Unwahrhaftigkeit, eine literarische Spielerei mit den letzten Dingen des Intellekts. Das ist wieder die gebrochene Linie.

Dennoch bleibt Gas das Schauspiel eurer Zeitepoche, senkt es sich tief in die Gedankenwelt ein und ist in der mit der in kinohafter Technik aufgebauten, einprägsamen Bildhaftigkeit von bemerkenswerter theatralischer Wirkung. Sie hervorzurufen fordert einen bis aufs Unwirkliche gerichteten Inszenierungs- und Darstellungsstil. Hier hat die Regie Bernaus die Aufgabe mit Glück dem Ziel genähert. Es breitet sich eine in Untergangsstimmung getauchte Welt aus, in der zwischen Tag und Traum die Ideenträger wandeln. Es sind ihrer viele, dabei jeder mit einem anderen Zug, der ihn als Typus Mensch und Masse erscheinen läßt. Heraus springen zwei: der Milliardär, der Menschensucher, den Herr Klitsch, und dann der Ingenieur, den Herr Everth darstellt. Klitsch gibt dem Fanatismus einem bei aller Herzensbewegtheit sachlichen Ton, eine zwingende Unerbittlichkeit des Gedankens, und steigert dann die Entladung seines gepreßten Gefühls zu starkem geistigen Pathos. Es ist seine bei weitem stärkste schauspielerische Leistung, die er geboten. Everth ist die Gegenmaske; auch er ein Ideenträger, nur viel härter, brutaler, mehr aufs Tatsächliche gerichtet, mit einer kunstvoll verhaltenen Leidenschaftslosigkeit, die wie Leidenschaft aussieht. Aus dem Wechselbild des Spiels heben sich noch einige bizarre und charakteristische Gestalten ab: die Herren Novotny, Zehetny, Goeth, Brausewetter, Fräulein Volkmar. Im stark aufgepeitschen Sturm der Arbeiterversammlung und der Redeschlacht wurde dann der entscheidende Höhepunkt der Aufführung erreicht. Sie hat ihren Sinn nicht verfehlt: den Bankrott einer Weltanschauung aufzuzeigen.

Von dem Problem des Werkes weg flogen aber doch schließlich die Gedanken zu dem Häftling in München, dem Strafgefangenen Georg Kaiser, von dem seine Freunde sagen, daß er seine Literatur ins Leben umsetzte: zu einem neuen Problem. „Mit Ketten geht man lahm“, dichtete Oscar Wilde im Zuchthaus von Reading.

In: Neues Wiener Journal, 28.11.1920, S. 13.