Gey[er] Siegfried: „Gas“. Ein Schauspiel von Georg Kaiser – Im Volkstheater. (1920)

Gey[er] Siegfried: „Gas“. Ein Schauspiel von Georg Kaiser – Im Volkstheater. (1920)

Die Formelwelt des Milliardärs, vom Genie eines Ingenieurs ausgeheckt, geht eines Tages in Trümmer. Gas explodiert, trotzdem die Mischung stimmte. Die Chemie blamiert sich. Aer Arbeiter-Mensch krepiert an der Wissen­schaft, am Fortschritt, an der Erfindung, wie er früher im Schwungrad zermalt, im Kohlenoxid erstickt wurde. Nun holt ihn der Welt neuester Betriebsstoff, das Gas.

In Georg Kaisers Dramen erhebt sich eine Spracharchitektur wir aus betoniertem Eisen, Zweckschönheit strahlt, Phantastik der Nüchtern­heit bereitet Kälteschauer, in denen das Wort gefriert. Eisblumen sprechen die Menschen, Herzen schalten aus, zwischen den Gehirnen laufen die Kontakte, an denen die Lebensmotore hängen. Menschen von Georg Kaiser atmen, denken, wirken, leben unterm Druck vieler Atmosphären. Von Katastrophen beengt, in Treibhäusern, er­füllt von künstlicher Lust, den Organismus blitz­schnell verbrauchend. Jedwedes Menschen Dasein //in diesem Raum – eine langsame Explosion. Keiner geht ans natürlichem Wege zu Ende, keine Lungenentzündung, kein Typhus, kein Karzinom, nur „Gas“. Am Betriebsstoff stirbt diese ame­rikanisierte, dynamobesessene Menschheit. Deren Weltbild: die Maschine, deren Zweck des Auf-der-Welt-seins: Betrieb, Betrieb.

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Am Eisplatz der Kaiserschen Gedanken gibt es nur behende, routinierte Läufer. Dialektische Virtuosen. Milliardär und Arbeiter-Geist rotiert gleich schnell; beider Diktion beherrscht die „Ballung“, die Verkürzung, der „Dreh“. Kaisers Gedanken-Extrakt gibt allen Schichten des Publikums eine schmackhafte, intellektuelle Bouillon. Selbst Gemeinplätze haben ihre eigene Prägung und die Banalität geht gescheidheitsgepanzert einher.

Dieser Art Dichtung erzeugt fortwährend Unter- Null-Temperaturen. Dem Zuhörer fröstelt’s, muß er die Lösung der Menschheitsfragen kontinuierlich von Schaltbrett und Sichtglas her gegenwärtigen. Ihm verlangt’s nach dem Herzton, nach der Aussprache zwischen Menschen, die sich Menschliches zu sagen haben. Wo bei Kaiser Leid, Verzweiflung, dumpfer Zorn der Massen anklingt, Schrei der Rache tönt, bestaunt man noch immer die geistige Hal­tung, in der all das gekonnt ist. Der Urlaut des Menschen, in letzter Ekstase hinströmend, erstarrtbei Georg Kaiser zum präzisen Bild, hat Schnittpunkte und Diagonalen, besitzt die nüch­tern praktische Struktur eines geometrischen Exempels.

Georg Kaiser bleibt unbestritten heute des neuen Deutschland größter Dichter-Ingenieur, sehr reizvoll in der spirituellen Energie seiner Begabung, in der motorischen Kraftentfaltung, der Wirklichkeits-Phantastik einer Dichtung, in der sich Ethos und Spekulation die Wage halten.

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Die Volkstheateraufführung einer der interessantesten Wiener Theaterabende seit langer Zeit. Außerordentlich die Regieleistung Bernaus, die Tempo, Intensität und geistige Cou­leurs des Stückes wiedergab, seine Atemlosigkeit gestaltet, daß es den Zuschaueratem bisweilen verschlug. Die fünf Akte förmlich als einziger gellender Schrei inszeniert, bewußt mit ans Kino streifenden Effekten, greller, kalter Beleuchtung, jagender Bewegung, aus dem Schau­spieler Ungeahntes herausholend.

Resultate: Eine erregend-starke Szene des Herrn Brady, Herrn Klitsch gedämpfte rethorische [!] Bravour, der heilige Ernst, der um jeden Episodisten… Nowotnys Schreiber und der weiße Herr von Goetz, auf mensch­lichen Fundamenten ruhend. Und Märtyrergloriole, seelischen Erlebnisses Widerschein war um Everths modernen Romantiker und Chemiehelden, Schwung auch im Pathos der proletarischen Frauen Danegger und Werner.

In der ganzen Darstellung nichts Stören­des, keine Leistung, die daneben geht. Sogar das Publikum würdig eines ernsten Anlasses.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 29.11.1920, S. 5-6.