Otto Abeles: Ernst Tollers „Hinkemann“

Otto Abeles: Ernst Tollers „Hinkemann“. Sonntagvormittagsaufführung im Raimund-Theater. (1924)

Wie traurig die Verwirrung in den Köpfen, daß dieses Stück bei jungen Menschen wütenden Haß weckt, daß sie diese reive, gütige, in Qual des Mitleidens gezeugte Dichtung ein „Schandstück“ nennen können!

Hinkemann, der deutsche Arbeiter, kam verstümmelt aus dem Kriege. Sein Weib ist jung, gesund. Geschlechtshunger, physischer Ekel vor dem Verstümmelten streiten mit der Liebe zu dem Lebensgefährten, dem Menschen – der nicht mehr Mann ist. Für seinen Jammer hatte niemand Verständnis. Auch die sozialdemokratischen Arbeitsgenossen nicht. Einer von ihnen, der robuste Weibermensch Großhahn, schüttelt sich vor Lachenn, wie er hört, was Hinkemann geschah und hat mit Frau Hinkemann leichtes Spiel. Der traurige Held der Tragödie verdingt sich einem Budenbesitzer. Arbeitslosigkeit und das Bedürfnis, seinem Weibe Geld zu bringen, da er es doch sonst nicht erfreuen kann, veranlassen ihn, in der Bude des Ausrufers sich als Ratten- und Mäusefrssser zu zeigen. (Diese Überspitzung ist allerdings zu gräßlich und übersteigt die Grenze des ästhetisch Zulässigen. Toller mußte Hinkemann nicht just Rattenblut trinken lassen. Seine Erniedrigung hätte anders gezeigt werden können. Aber man begreife: Ein seit Jahr und Tag im Gefängnis Schmachtender hat dieses Drama geschrieben.) Von Grauen geschüttelt, geht Hinkemann in die Schenke, um den Gaumen nach dem Rattenmahl mit Fusel zu waschen. Aussprache mit Genossen. Einer von ihnen ist der typische Versammlungsredner. Der schildert, wie alles aufs beste bestellt sein wird in der neuen Gesellschaftsordnung. Aber Hinkemann, durch sein Leiden erschreckend wissend geworden sagt ihm:

„Da, wo eure Heilmittel aufhören, da fängt unsere Not erst an; da steht der Mensch allein; da tut sich ein Abgrund auf, der heißt: ohne Trost; da wölbt sich ein Himmel, der heißt: ohne Glück; da wächst ein Wald, der heißt: Hohn und Spott; da brandet ein Meer, das heißt: lächerlich: da würgt eine Finsternis, die heißt: ohne Liebe…“

Großhahn, der sich in der Zwischenzeit an Frau Hinkemann gütlich getan hat, nimmt an der Diskussion teil, ist über das Eunuchentum seines Freundes noch immer höchst amüsiert und sagt ihm, so zwischendurch, daß Frau Hinkemann während der Produktion ihres Gatten in der Praterbude herzlich gelacht hat. — Sie hat natürlich nicht gelacht (das Publikum weiß, daß sie sich weigerte, mit Großhahn in die Jahrmarktbude zu gehen), und es ist die dichterisch wertvollste Szene, da das Weib zu ihrem Mann zurückkehrt und alles auf sich nimmt, auch jene Lüge ihres sattgewordenen Beischläfers, um Buße zu tun und dem Märtyrer in demütiger Liebe zu dienen. Wunderbar, wie die Einfache plötzlich miz dem Instinkt des Weibes erkennt, daß es falsch war, die Intrige nicht zu zerreißen, Hinkemanns Antlitz faßt und ihm in die Augen spricht: „Du willst dir ein Leid antun! So höre doch, ich hab‘ gar nicht gelacht! Ich bleib‘ bei dir! Immer!!! — Ein Augenblick der Glückseligkeit für beide. Grete Hinkemann flüstert:

„Sommer wird sein und Stille im Wald…
Sterne und Gehen Hand in Hand…“
Ihr Mann aber entwindet sich ihren Armen und ergänzt:
„Herbst wird sein und Welken im Laub…
Sterne… und Haß! …und Faust gegen Faust!…“

Da schluchzt! das Weib auf, weiß alles und kommt ihm durch einen Sprung aus dem Fenster zuvor. — Für Hinkemann bleibt der Strick.

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„Diese Zeit hat keine Seele; ich hab‘ kein Geschlecht: ist da ein Unterschied?“ hatte Hinkemann resümiert. Die riesigen Manipel der Protestler, welche diese Aufführung stören kamen, waren Sendlinge eines seelenlosen, perversen Geschlechts.

Was rennt das Volk, was wälzt sich dort… Das sind die Herren Studenten. Sie haben sich nach der Samstagkneipe opfervoll schon um die zehnte Morgenstunde aus den Federn

bemüht, um zu verhindern, daß einer die Liebe kündet.

Wundervoll in ihrer wesenhaften Prägnanz die Inszenierung der Tragödie durch Renato Mordo und die Hingabe der mitwirkenden Künstler. Die vorgenommenen Kürzungen sind zu billigen. Nur die Szene mit Hinkemanns Mutter, die uns für die Entwicklung der Handlung unentbehrlich schein, hätte bleiben müssen.

Wilhelm Klitsch hat nach niemals so einfach menschlich, so bezwingend echt gespielt wie diesmal, Trude Wessely erschütternd als Grete Hinkemann (unvergeßlich die Gebärde der Trauer in Not und Lust, in Sehnsucht und Erfüllung), prachtvoll Hugo Werner-Kahle in der Nolle des Dritten und alle anderen voll Verdienst.

            Über die Vorgänge während der Matinee hat unsere gestrige Mittagsausgabe berichtet.

In: Wiener Morgenzeitung, 12.2.1924, S. 3.