Irene Harand: Antisemitenversammlung des Herrn Jerzabek
Irene Harand: Antisemitenversammlung des Herrn Jerzabek (1934)
An anderer Stelle berichten wir über eine Antisemitenversammlung, die vor einigen Tagen stattgefunden hat. Wie wir erfahren, hat Dr. Jerzabek seine Tätigkeit in allen Bezirken Wiens aufgenommen. Er kündigte seinen Plan an, 22 Versammlungen in Wien abzuhalten.
Ich staune, daß man ihn gewähren läßt. Schon die Tatsache, daß diese Versammlungen des Hasses nur in einem als nationalsozialistisch orientiert bekannten Blatte angekündigt werden, beweist deutlich, zu welchem Zwecke sie veranstaltet werden. Mir hätten uns um Herrn Dr. Jerzabek und die traurigen Gestalten, die um ihn herum sind, gar nicht gekümmert, wenn wir nicht aus dem Munde einer verläßlichen Zeugin erfahren hätten, daß in diesen Versammlungen nationalsozialistische Agitation betrieben wird.
Die Versammlungen des Herrn Jerzabek entpuppen sich nämlich als Herde der Zerstörung, die nicht geduldet werden sollen. Wir sind die letzten, die für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit eintreten. Wir haben das größte Interesse daran, daß unbeschränkte Gesinnungsfreiheit in Österreich herrsche. Unser Bundeskanzler Dr. Schuschnigg hat diese Gesinnungsfreiheit feierlich versprochen. Sie ist auch in der Verfassung verankert.
Ebensowenig aber, wie man in Versammlungen die Menschen zu Mord, Totschlag oder zum Diebstahl auffordern darf, ebensowenig darf man zum Hasse gegen bestimmte Religionsgemeinschaften oder Volksstämme auffordern.
Man sage nicht, daß ebenso wie wir das Recht haben, gegen den Rassenhaß zu kämpfen, Herr Dr. Jerzabek das Recht für sich in Anspruch nehmen darf, die Haßinstinkte in den Menschen zu wecken und sie gegen die Mitmenschen zu mobilisieren. Zwischen unserer Arbeit und der Tätigkeit des Herrn Jerzabek klafft ein tiefer Abgrund. Wir können jederzeit beweisen, daß wir Aufbauarbeit im vollsten Sinne des Wortes leisten. Wir können durch Originalbriefe nachweisen, daß unsere fortwährenden Aufrufe an unsere Mitmenschen im Auslande, Österreich zu helfen, schöne Früchte gezeitigt haben. Es ist nachweisbar, daß viele Ausländer unserer Bewegung zuliebe gewisse Waren in Österreich einkaufen oder ihren Urlaub bei uns verbringen. Dazu kommt noch, daß ich persönlich in verschiedene ausländische Städte fahre und dort gleichzeitig für meine Bewegung,und für mein Vaterland Österreich wirke.
Als ich im polnischen Rundfunk sprach, wußten alle Radiohörer in Polen, daß ich Österreicherin bin und daß von Wien aus die Idee der Menschenversöhnung ausgeht.
Ich habe auch in Österreich selbst durch meine Anhänger zur Befestigung der Regierung beigetragen. Seit Mai 1933 kämpfe ich unentwegt für den österreichischen Gedanken. Wer meine Versammlungen besucht hat, der wird den Eindruck mitnehmen, daß dort für das Vaterland und für seine Regierung gearbeitet wird, die uns vor der Sklaverei, vor der Gleichschaltung mit dem Hakenkreuz bewahren will.
Herr Dr. Jerzabek leistet aber bei Gott keine Arbeit für Österreich. Er mißachtet das Gesetz, ja er tritt es mit den Füßen. Er verpflanzt das Gift des Hasses in die Herzen der Mitmenschen und hindert auf diese Weise das Werk des Aufbaues. Menschen, die in seine Versammlung kommen, um dort die Hetzreden gegen die Juden zu hören und Hitler-Bilder zu kaufen, leisten wahrlich keine vaterländische Arbeit und die Redner, die in diesen Menschen die Hoffnung wecken, daß der Nationalsozialismus in Österreich seine Auferstehung feiern wird, wirken der Aufbauarbeit entgegen.
Wer den Rassegedanken fördert, der fördert nicht Österreich, sondern das Dritte Reich. Wer gegen die Juden hetzt, der ist ein Gesetzesverächter, weil unser Strafgesetz diese Hetze ausdrücklich verbietet.
Die junge Frau, die in Begleitung ihrer Mutter die Versammlung besuchte und zu uns kam, weinte bittere Tränen, als sie gelegentlich ihrer Erzählung sich die Eindrücke wieder wachrief, die diese Versammlung bei ihr hinterlassen hatte. Jeder Österreicher, der einer solchen Versammlung beiwohnt, wird durch das Treiben der Hitler-Leute entmutigt.
Was soll eine solche Frau denken, wenn sie sieht, daß solche Versammlungen in einer Stadt stattfinden können, wo einige Monate vorher aus dem Verschulden der Hitler-Leute unser Schönstes und Herrlichstes uns geraubt wurde. In ähnlichen Versammlungen, wie sie Herr Jerzabek jetzt abhält, wurde der Haß großgezogen, der letzten Endes zum Putschversuch und zum niederträchtigen Kanzlermord führte.
Wir begreifen vollständig die Toleranz unserer Regierung und wir würdigen die Gründe, die die Regierung bestimmen, die Versammlungsfreiheit möglichst zu erweitern. Es kann nur eine Ehre für unsere Regierung sein, wenn sie auch Andersdenkenden die Möglichkeit gibt, ihre Meinung zu äußern.
Wenn aber solche Versammlungen dazu mißbraucht werden, um einen Geist wieder lebendig zu machen, der unser Vaterland in die größte Gefahr bringen kann, wenn solche Versammlungen dazu benützt werden, um unser Gesetz in der krasse sten Weise zu verletzen, dann besteht auch keine moralische Pflicht, Versammlungsfreiheit zu gewähren.
Man vergleiche die Reden in unseren Versammlungen, wo nicht ein Wort gesagt wird, das der Wahrheit widersprechen würde, die aber zur Befestigung des österreichischen Gedankens beitragen, mit den Zusammenkünften des Herrn Jerzabek, die den Hakenkreuzlern die Möglichkeit geben, ihre Wühlarbeit zu leisten.
Ist es nicht eine Schmach, daß man erst die Leute aufmerksam machen muß, anläßlich eines Nachrufes für Dollfuß keine Pfuirufe auszustoßen und keine Demonstrationen zu veranstalten? Mit welchem Publikum hat man da zu tun, das man erst ermahnen muß, die Ehre des teuren Toten nicht zu profanieren und das man erst durch ein Handzeichen bestimmen muß, sich von den Sitzen zu erheben?
Abgesehen davon, daß diese Hetze in unserem Strafgesetz verboten ist, wissen wir ja alle gut, daß die Jugendlichen, die man in ihrem Antisemitismus bestärkt, sich mit dem Judenhaß allein nicht begnügen, sondern viel weitere Aspirationen besitzen. Wir sind neugierig, ob es in Deutschland möglich wäre, eine Versammlung gegen den Antisemitismus oder gegen den Rassenhaß abzuhalten oder auch nur Zusammenkünfte von Katholiken zu veranstalten, um gegen die Unterdrückung der katholischen Religion zu protestieren. Wir erblicken im Dritten Reich keineswegs das Ideal, das wir anstreben sollen.
Es ist aber nicht einzusehen, warum wir ein übriges tun und Versammlungen eines Herrn Dr. Jerzabek dulden, die in unverschämter Weise das Strafgesetz verletzen.

