Fritz Karpfen: Großstadtnächte
Fritz Karpfen : Großstadtnächte. (1925)
Improvisationen im Juli.
Mitternacht. Die Blumen des Gartens duften schwer, und eine Schwüle liegt über dem Pflaster, schlägt Wellen an den Rand der Straße, tausend Sterne glänzen verhüllt am schwarzen Himmel, Bogenlampen zittern. Wenige Menschen nur sitzen auf der Terrasse des Kaffeehauses, schauen in die Nacht, träumen. Niemand spricht, keiner liest eine Zeitung. Große Insekten taumeln von den grellen Lampen herab.
Aber in der Ferne gellen noch die Hupen der Autos, und der Lärm der Großstadt schrillt hie und da auf. Die Stadt schläft in der Glut dumpfer Sommernächte, alles Leben geht vorbei wie hinter dichten Schleiern, man träumt, sinnt…
Ein Mädchen, ganz in Weiß, betritt die Terrasse, blickt sich um, setzt sich an einen leeren Tisch, mustert müde die spärlichen Gäste.
Das ist die Zeit, da die kleinen Mädchen der Straße, die Mädchen in dünnen Gewändern, die des Abends immer das gleiche Stück Weges gehen, auf und ab, und ab und auf, das ist die Zeit, da die kleinen Mädchen noch einen Augenblick im Kaffeehaus verweilen, ehe sie heimwärts gehen. Müde, die Augen trübe, hoffnungslos…
*
In den Winkeln der engen Straßen der Inneren Stadt hockt die Dunkelheit, rankt sich empor an verwitterten Mauern, kriecht in tiefe Fensterhöhlen und schlägt über den steilen Dächern zusammen. Spärliches Licht zittert von flackernden Laternen, Katzengeschrei pfaucht von den Dächern. Hie und da ertönt der Schritt einsamer Männer, die nach Hause eilen.
Eng an die Mauer gedrückt stehen drei Gestalten. Sie warten. Warten auf den Gast, der ihnen kargen Liebeslohn schenken wird, auf den Gast, der zu dieser Stunde fast nie mehr kommt. Wer sollte auch bei diesen Armen die Liebe sich kaufen, da in den hellen Hauptstraßen die schönen jungen Mädchen in Seidenkleid und Seidenhut vergebens warten müssen. Die Sünde stirbt aus in Wien, vor den Nachtlokalen schläft der Portier, und das Klavier klirrt im leeren Raum…
Nicht überall. Es gibt einige Lokale, versteckt und unbekannt, da tobt der Rausch, der Tanz und die Liebe bei johlenden Zigeunern, gedämpften Lampen. Schmal und nieder ist der Raum. Einst mag hier eine Mönchszelle oder eine Badestube gewesen sein. Spitzbogen schwingen sich, und die Mauern sind meterdick. Die Besucher tanzen auf einem Parkett von zwei Quadratmetern, man drückt die Leiber aneinander, küßt sich, stampft, jauchzt… Die Zecher an den Tischen schmettern die Gläser an die Decke, Wein wird verschüttet, ein junges Weib springt auf den Tisch, rafft das Kleid hoch empor und dreht sich rasend, daß ihre Seidenwäsche flattert.
Die Kellner kriechen zwischen den Tischen, fremdländische Banknoten wandern in ihre Taschen, die Damen lassen sich auf der Toilette die Provision bezahlen. Ein junger Dandy hat zu wenig Geld, die Kellner scharen sich um seinen Tisch, die Gesichter werden starr, höhnisch lächelt das Publikum, die Musik bricht ab. Der Herr läßt seine goldene Tabatiere als Pfand zurück und eilt fort.
„Joi mamam!“ und wieder fiedeln die Zigeuner, und neue Champagnerflaschen blinken, die Tänzerin springt durch den Raum, wirft die Beine, und in den dunklen Logen girren Küsse und Umarmungen.
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Draußen, am Rande des Herzens der Stadt, liegt der große schöne Park. Tausend Rosen duften schwer und selig, wunderbar steht die Wand aus Laub und Strauch im fernen Licht der Laternen. Der Wanderer, der dieses Reich betritt, ist umgeben im Nu wie von Schmetterlingen von vielen Mädchen und Frauen. Und hinter jedem Mädchen taucht ihr Beschützer auf, und auf jeder Bank im Dunkel drückt sich ein Paar, und vor jeder Bank steht ein Louis und hält Wacht. Unendlich ist die Erzählung, die sich hier erzählt, und ohne Unterlaß kommen und gehen die Gestalten. Nichts Bacchantisches liegt in diesem Treiben, nicht laute Fröhlichkeit der Sinne unter Sternen im mitternächtlichen Park. Die Verfemten der großen Stadt sind hier daheim, die Letzten, die Elendesten, die, die am Rande des Flusses hoffnungslos angelangt sind. Aber auch da herrscht Gesetz, Gesetz von Dirne und Zuhälter, Gesetz von Arbeit und Lohn. Und der Lohn ist entsetzlich und die Arbeit ist grauenhaft, und der Hunger ist der Herrscher dieses Reiches.
Das ist der Park in der Nacht, in der Großstadt.
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Immer wenn ich heimgehe in den ersten Stunden des kommenden Tages, das Hirn schwer von der Arbeit, die Glieder müde und die Nerven brennend, immer wenn ich durch die ausgestorbenen Straßen gehe, zu einer Stunde, da niemand mehr wacht, ist es mir, als wandle ich durch die Mauern einer verschütteten Stadt, einer Stadt in der Wüste, einer Stadt, die vor Jahrtausenden gelebt.
Nur das feuchte Zeitungsblatt in meiner Hand, das erste, das die Notationsmaschine ausgespien hat, gibt Kunde vom kommenden Morgen. Und ein paar Vögel zwitschern in den Zweigen der Bäume der Straße.
Sie singen das Lied des Lebens.

