Anton Kuh: Verhafter und Verhaftete

Anton Kuh: Verhafter und Verhaftete (1934)

Die Lage Österreichs wird mit jedem Tag undurchdringlicher. Hat die Regierung Dollfuß noch Kraft und Autorität genug, um die widerspenstigen nationalsozialistischen Parteigänger – die übrigens keineswegs eine so große Zahl darstellen, wie sie rebellische Unbeugsamkeit an den Tag legen – in Schach zu halten? Noch vor einem Vierteljahr hatte es den Anschein. Seit der Errichtung des Anhaltelagers in Wöllersdorf schien tatsächlich über das unruhegepeitschte kleine Land ein milderer, friedlicherer Wind zu streichen. Das hat sich in den letzten Wochen, für den Blick des Außenstehenden zumindest, geändert. Die nationalsozialistische Bewegung, die sich lange Zeit zu der Zwinker- und Flüstersprache rettete, wie sie die Bürger in Egmont unter der Fuchtel des Herzogs Alba sprechen, flammte neu auf. Der entschwundenen Zeit der Handgranaten folgte nach dieser Unterbrechung die Ära der Papierböller. Sie erreichte ihren kritischen Höhepunkt mit der Verhaftung des Landesführers der Heimwehren, Graf Alberti, deren Hintergründe und Zusammenhänge noch nicht hinreichend geklärt sind. Hat Graf Alberti, wie die Regierung behauptet, hinter dem Rücken des obersten Heimwehrchefs Starhemberg sein gefährliches Spiel mit dem deutschen Nationalsozialismus getrieben? […]

Der Besuch des italienischen Staatssekretärs Suvich in Wien hat die Ereignisse augenscheinlich auf den Höhepunkt getrieben. Von der deutschen Parteizentrale der Nationalsozialisten ging an die österreichischen Gesinnungsgenossen die Parole, dem Vertreter Mussolinis mit allen Mitteln das Bild zu bieten, als ob Österreich in seiner überwiegenden Mehrheit zu Hitler und nicht zu Dollfuß stände. Nun dürfte grade diese Anweisung und die Hitzigkeit, mit der sie befolgt wurde, für die Sache des österreichischen Kanzlers optimistisch stimmen. Denn es geht daraus klar hervor, daß die Mission Suvichs in Wien nicht, wie es die nationalsozialistischen Blätter noch vor einer Woche darzustellen versuchten, darin besteht, einer Annäherung zwischen Deutschland und Österreich den Boden zu bereiten sondern Österreich stärker in ein Staatengefüge einzugliedern, das dem unmittelbaren Einfluß Mussolinis untertan sein soll. Nur aus der Hoffnung, den italienischen Mittler von der Aussichtslosigkeit dieses Bemühens zu überzeugen, sind die Wiener Zwischenfälle des gestrigen Tags, die Böllerwürfe, das Abschalten des elektrischen Lichts auf dem Ring, die Zusammenrottung der tausend Demonstranten bei der Oper zu erklären. Andererseits fragt man sich mit Unruhe, wieso solche Attacken gegen die öffentliche Ordnung, die noch vor einem Vierteljahr unmöglich gewesen wären, sich ereignen können. Der Kanzler Doktor Dollfuß hielt am gleichen Tag in der Christlichsozialen Vereinigung eine Rede, worin der die früheren Töne der Energie und Zuversicht anschlug. Am Schluß sagte er: „Wenn die Erkenntnisse dieser Notzeiten in die weitesten Kreise dringen, dann hoffe ich, daß schon die allernächste Zeit auch die bisher abseits stehenden Kreise in die große Front der Verteidiger der österreichischen Unabhängigkeit und des Aufbaus eines neuen Österreichs bringen wird.“ Wer mit diesen ‚bisher abseits stehenden Kreisen‘ gemeint war, das geht aus dem nächsten Satz hervor: „Wir wollen keinen sozialen Rückschritt“. Optimistische Deuter des widerspruchsvollen Geschehens in Österreich erblicken in diesem schüchternen Gruß an die Sozialdemokraten eine mögliche Neugruppierung der österreichischen Dinge – eine Wendung nach der Seite der Vernunft und Logik hin. Aber wird Starhemberg, der Regierungstreue, der dem Kanzler eine Truppe von Verhaftern und Verhafteten zur Verfügung stellt, diese Wendung zulassen?… Vielleicht ist das die Frage, die Österreichs Schicksal entscheidet.

Aus: Prager Tagblatt, 20.1.1934, S. 1.