Hugo Glaser: Väter und Söhne (1920)
Hugo Glaser: Väter und Söhne
Die Psychoanalyse wurde, wie Freud, ihr Schöpfer, sagt, aus der ärztlichen Not geboren; sie entsprang dem Bedürfnis, nervös Kranken zu helfen, denen Ruhe, Wasserheilmethoden und Elektrizität keine Linderung bringen konnten. Aber diese Aufgabe, eine ärztliche Technik zu sein, suchte sie von vornherein dadurch zu erfüllen, daß sie sich auf die Aufdehnung verborgener Zusammenhänge, auf das Bewußtmachen des Unbewußten einstellte. Der ganze seelische Zuhalt des menschlichen Lebens, des Lebens der einzelnen und das der Gesamtheit, wurde so ihr Forschungsgebiet. Denn die Triebkräfte, die das Seelenleben des einzelnen beherrschen, spielen auch in der Allgemeinheit eine wichtige Rolle, in Masse und Gesellschaft, deren Wesen und Geschehen aus dem Verhalten der einzelnen sich zusammensetzt. Und indem sie immer wieder durch Probleme der Massen- und Gesellschaftspsychologie gelobt wurde, mußte sie, eigentlich naturgemäß, auch in die Seelengeheimnisse der jüngsten sozialen Bewegung einzudringen versuchen, die als Anarchismus und Kommunismus mit allzu roten Fahnen einherzieht. Aurel Kolnai unternimmt dies in einem jetzt erscheinenden Buche: „Psychoanalyse und Soziologie“ (Internationaler psychoanalytischer Verlag, Leipzig-Wien-Zürich, 1920). Die Psychoanalyse mußte im Anarchokommunismus viele jener Momente wiederfinden, für die ein Interesse zu haben sie bereits durch andere Probleme veranlaßt wurde. Dieser will ja das irdische Paradies als Endwert und die Zertrümmerung der heutigen Gesellschaft, und er führt, wo er zur Herrschaft gelangte, zu hochgradiger Desorganisation und zur Rückkehr zu primitiveren Formen – Zwecken und Schlagworten, denen, wie erwähnt, die Psychoanalyse auch anderswo begegnet.
Nach der Auffassung Freuds und seiner Schüler ist die Auflehnung gegen den Vater das Urbild der Revolte. Vater und Gesellschaft sind identisch. Demzufolge wäre der Anarchismus eine extreme Form des Aufstandes gegen den Vater. Der KampfGegründet im Okt. 1907, Wien bis H. 12/1933; ab H. 1/1934 vereinigt mit der Zs. Tribüne bis Mai 1938, Brünn/Brno; dan... zwischen Vater und Söhnen, der im Unterbewußtsein der Menschen seit den vorbildlichen Zeiten her schlummert, kommt hier wieder einmal zum Ausdruck und führt zur Tötung des Vaters. Der Anarchismus will den vom Vater ausgeübten Zwang aufheben und schreitet zur Tötung des Vaters. Er trennt seinen Mittelweg und seine Entwicklung, sondern nur die Wiederholung der titanischen Tat. Die leidenschaftliche Auflehnung gegen den Zwang bedeutet aber nicht Freiheitsliebe des Mannes, sie ist eher wie die Ungebundenheit des Kindes, das in einem Aufstand lebt, dem die Notwendigkeit der Anpassung und die Konflikte fehlen. Der kommunistische Ausgangspunkt heißt: „Jeder arbeite nach seinen Fähigkeiten, genieße nach seinen Bedürfnissen.“ Uneingeschränktes Sich-Ausleben ist die Folge dieses Grundsatzes, freilich nur soweit, daß dadurch das gesellschaftliche Leben nicht geradezu verhindert werde. Darin erblickt die Psychoanalyse die Unmöglichkeit des Anarchismus. Dieser erklärt sich ferner für die universale Brüderlichkeit und hält dabei an Metzeleien und Bombenattentaten fest. Bakunins Ausdruck für „Gewalt für die Brüderlichkeit“ beleuchtet diesen Zwiespalt. Dem Vater gilt der Hass, der Mutter die Liebe. Auf der einen Seite ist die Gesellschaftsfeindlichkeit, auf der anderen die Brüderlichkeit der Anarchisten. Der im Unterbewusstsein der Menschen verborgene Vatermord hat aber nach den Hypothesen der Psychoanalyse die Brüder nicht zu ihrem Ziele, zur höchsten Liebe zur Mutter, führen können; die Söhne vermochten sich ohne den Vater nicht aufrechtzuerhalten. Wie die Tötung des Vaters nur die Isolierung der Mutter zur Folge hatte – Penelope konnte nach der Entfernung ihres Gemahls Odysseus seinem Freier die Hand gewähren – so würde die Aufhebung der stabilen Organisation den Zerfall der Gesellschaft nach sich ziehen. Der Anarchismus ist keine Kritik, keine Reform, sondern Zynismus, Tabula rasa. Die Mehrheit der Anarchisten besteht nicht aus typischen Proletariern, sondern aus Kleinbürgern und besonders aus Leuten, die allein arbeiten und die Härte der Lebensverhältnisse verstärkt empfinden. Methodischer und weniger impulsiv ist der Kommunismus; sein gesellschaftlicher Träger ist das Proletariat, dem auch eine Beziehung zu der Realität, der Technik, der Wirtschaft anhaftet. Das Proletariat, vom Aderboden abgeschlossen, verliert das Heimatgefühl. Die Revolution, die zur Erde, zur Natur zurückführt, soll es ihm wiedergeben. Der Proletarier hat seinen Sinn für den moralischen Wert des Kleingrundbesitzes. Die kommunistische Idee der Familiengemeinschaft und das Prinzip: Arbeiten nach den Fähigkeiten, Verzehrern den Bedürfnissen entsprechend, ist ein dem Kern nach kindliches Prinzip. Nicht die Entfaltung der Fähigkeiten – sie hoffen mit sehr geringer Arbeit auszukommen -, sondern der Gehorsam des guten Kindes ist betont, daß von seinen Eltern, vom Staate, alles bekommt, was es braucht. Was dem ganzen System abgeht, ist der Zwang des Lebens, der von dem Menschen tüchtige Arbeit erfordert, ihm aber mit der Berufswahl die Berufsfreude läßt. Der Kommunismus ist weniger unheimlich, weniger scharf als der Anarchismus, aber ebenso absurd. Er will eine Gesellschaft mit unentwickelter Organisation, aber mit hochentwickelter Technik. Hier kommt der Glaube an die Allmacht der Gedanken zum Vorschein, wie ihn das Kindesalter aufweist. Aber die Technik wird immer mit der Arbeitsteilung und damit mit einer sozialen Differenzierung Schritt halten. Sie steht nicht zur Verfügung einer Gemeinschaft, die sie nicht ausbauen und nicht verwalten kann. Der Krieg hat ja die Despotie der Mittel zur Genüge bewiesen. Die Zusammenfassung bestimmter Wahnideen zu einer Art Ernstem nennt die Psychoanalyse Paranoia. Die Psychoanalyse findet im Anarchokommunismus Zeichen einer paranoischen Konstruktion: die ausschließliche Betonung des Ichs, Größenwahn und Verfolgungswahn, Erlöseridee. Die schwere Wendung zur Psychose, zur richtigen Geisteskrankheit der Welt, brachte jene Abart des Systems, die Lenins Bolschewismus darstellt.
Auch Paul Federn rollt in einem Beitrag zur Psychologie der Revolution „Die vaterlose Gesellschaft“ (Anzengruber-Verlag, Wien-Leipzig) das Problem der Väter und Söhne auf, wie es von den Psychoanalytikern gesehen wird. Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die einer Horde, die unter der übermächtigen Alleinherrschaft des Vaters stand. Wenn aber seine Kräfte nachließen aber der Satz der rechtlosen Söhne zu groß wurde, dann töteten sie den Vater. Aber die Uneinigkeit kam unter sie, sie bekämpften einander, und wieder wurde einer Führer, Vater. Spätere Generationen haben sich freilich zusammengeschlossen mit einem gewählten Haupt. Aber in der Verehrung des Vaters durch die Söhne blieb und bleibt tief verborgen in einer Falte der Seele ein Rest der uralten Feindschaft und der uralten Schuld…. Als die Söhne des Krieges sahen, daß ihr Vater, der Kaiser, die Heimaterde, die Mutter, nicht schützen könne, schwand die Vorstellung von der riesenhaften Größe des Vaters, von seiner Macht und Stärke. Die Ehrfurcht vor dem Staate stürzte zusammen, eine vaterlose Gesellschaft blieb zurück. Aber im Menschen schlummert auch die Brüdergemeinschaft als zweites soziales Prinzip. Dem im Menschen vorhandenen Gefühle, als Bruder den Mitmenschen zu lieben, hätte der Revolution zum Durchbruch verhelfen sollen. Federn hat von der Brüdergemeinschaft der Menschen eine bessere Meinung als andre, welche mehr die Tatsachen sprechen lassen. Das Vater-Sohn-Motiv hat, psychoanalytisch gesprochen, sicher eine schwere Niederlage erlitten. Aber es ist, wie Federn sagt, durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos vaterlose Gesellschaft sich durchsetze.
In ihrem Bestreben, die Urgeschichte der Menschheit zu erforschen, mußte die Freud-Schule auch an Probleme der Religion herantreten, und auch dort findet sich das Motiv der Väter und Söhne. In einem seiner glänzendsten Werke „Totem und Tabu“ hat Freud diesen Problemen nachgespürt. Von den dort entwickelten Annahmen ausgehend, hat nun Dr. Theodor reif in sehr interessanten Studien über „Probleme der Religionspsychologie“ (Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig und Wien) bisher unverstandene Einzelheiten des religiösen Lebens auseinandergesetzt, in deren erster sich das Väter- und Söhneprinzip wiederfindet. Von historischen Zeiten bis zur Gegenwart zieht sich bei verschiedenen Völkern der Brauch des Männerkindbettes. Die Wissenschaft nennt ihn Couvade. Der Vater eines neugeborenen Kindes legt sich für kürzere oder längere Zeit zu Bette, hält eine bestimmte Diät ein, er darf nichts arbeiten, nicht jagen, während die Frau, die eben ein Kind zur Welt gebracht hat, arbeitet, als hätte sie sich nichts ereignet. Diodorus Ciculus erwähnt das von den Korsen. Strabo schreibt das von den Iberern, zeitgenössische Schriftsteller berichten das von indischen- und brasilianischen Stämmen, kurz der Brauch war und ist noch verbreitet. Bei den Karaiben müssen sich die Väter nicht nur ins Bett legen, als ob sie Schmerzen hätten, sondern sie haben auch wirklich welche: die Freunde kommen und machen ihm unzählige Stiche und Schnitte in die Haut und reiben die Wunden mit Pfeffer ein. Manche Südseeinsulaner dürfen von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Bananen, keine herabfallenden Kokosnüsse essen, weil sonst das zu erwartende Kind geschädigt würde. Man hat viele Theorien über diesen Brauch aufgestellt. Am humorvollsten ist vielleicht die eines Gelehrten, der die Couvade als eine Erfindung der Weiber auffasst: damit sie in ihren schweren tagen vor den Männern Ruhe hätten…, aber die Psychoanalyse legt diesen Brauch anders aus. Sie faßt ihn als Vergeltungsfurcht auf. Es ist klar, daß dieser Brauch einmal einen Sinn gehabt haben muß, wenn er auch heute nur mehr Zeremonie ist. In der einfachen Form kann er ja ein Schutz der Frau gegenüber einem feindseligen Benehmen des Mannes sein. Aber die diätetische Form, die Enthaltung von Arbeit und Jagd, die Verletzungen, die der Mann erdulden muß, sind Sühn- und Bußzeremonien. Man kann hier manches Analoge bei Neurotiker unserer Zeiten und unserer Gegenden finden. Deren Überzärtlichkeiten einem Kinde oder einem Verwandten gegenüber entspringen büßenden Vorstellungen im Unterbewußtsein, zustande gekommen durch feindselige Absichten oder Wünsche, die im Verborgenen wuchern. Der Kampf der Väter gegen ihre Söhne äußert sich ja überall zuweilen in einer übergroßen Abneigung des Mannes gegen Kindersegen. Der Vater sieht sich durch den Sohn verdrängt. Der Sohn ist ja, nun das geworden, was früher der Vater war. In Polynesien geht der Rang des Königs sogleich auf den Neugeborenen über, der Vater ist von nun an ebensowenig wie jeder andere, kein König mehr. Die früher erwähnten Gefühle der Söhne gegen den Vater, der sie alle unterdrückt, lassen die Vorstellungen herankeimen, daß der Sohn einmal die gleichen Gefühle haben und äußern könnte. Eine gedoppelte Vergeltungsfurcht kommt nur so zustande: Furcht vor der Strafe, die vom Vater ausgeht, Furcht vor der Wiedervergeltung durch das eigene Kind. In der Kulturgeschichte der Menschheit wird die Couvade als eine Art Grenze bezeichnet: hier hört der Kampf auf, den Vater und Söhne seit Jahrtausenden führten, und die Liebe zu seinem Kinde erfüllt nunmehr auch den Vater.
In: Neues Wiener Tagblatt, 9.12.1920, S. 2-3.