N.N.: Junge Kunst

N.N. [ -s]: Junge Kunst (1920)

             Unter dem vielen Neuen und Ungewohnten, das der gründliche Umsturz nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch auf allen Gebieten des Geistes- und Kulturlebens mit sich gebracht hat, stoßen auch die neuen Erscheinungs- und Ausdrucksformen des modernen Kunstwillens vielfach auf starken Widerspruch, der wenigstens im Kreise der Gebildeten durchaus nicht immer einer philiströsen grundsätzlichen Ablehnung alles Neuen entspringt, sondern dem mehr oder weniger deutlichen Gefühle, daß sich unter den neuen Kunstpropheten noch zu viele falsche und solche, die selbst noch nicht wissen, was sie wollen, befinden. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß die Gesetze der fortschreitenden Entwicklung alles Seienden auch die Kunst Geltung haben und daß also auch hier ein Wandel möglich, ja notwendig und der neue Geist über den alten zu siegen berufen ist. In diesem Sinn begegnet der Wille zu einer neuen Kunst sicherlich auch im gebildeten Publikum sogar einem latenten Bedürfnis oder mindestens einem mehr oder minder bereitwilligen Verständnis, das viel weiter verbreitet ist, als man gemeiniglich zu glauben scheint. Was trotzdem zu Widerspruch und Ablehnung reizt ist also nicht der in der neuen Kunstrichtung sich offenbarende revolutionäre Geist an sich, sondern vielmehr die oft recht willkürlich scheinende Gewaltsamkeit seiner Ausdrucksmittel, deren Berechtigung oder Richtigkeit von den Künstlern ebenso wenig begründet wie vom Publikum erkannt werden kann. Vorläufig wenigstens. Beide Teile fühlen sich im Rechte und sind es jeder von seinem Standpunkte aus, vielleicht auch. Vom Künstler wie vom Laien verlangt diese neue Richtung ein so radikales Umlernen, daß man sich nicht wundern darf, wenn jener im Ausdruck dessen, was er fühlt und was er uns mitteilen will, selbst noch unsicher und unklar ist, und dieser gar oft das, was ihm als die neue Kunst vorgesetzt wird, noch nicht ohneweiters bejaht, weil er „lange zur stärkster Kultur kondensierte Entwicklungen mit einem Male negiert“ sieht, als wäre sie nie dagewesen.

             Es geschähe aber den ehrlichen Vorkämpfern dieser neuen expressionistischen Kunst ein großes Unrecht, wollte man verkennen, „daß diese Kunst, die so vieles nicht sagt, nicht zu sagen vermag und nicht sagen will, was eben noch hochgehaltenes Gemeingut der künstlerischen Sprache war, daß sie ihrerseits viel Neues, Bedeutsames, in die Tiefe Greifendes zu sagen weiß, das eben diese alte Sprache gar nicht sagen konnte, das gar nicht im Bereich dieser alten Sprache lag.“

             Wir zitieren hier aus einer kleinen Monographie Lothar Briegers über einen der extremsten Expressionisten: Ludwig Meidner, der sich als Maler wie als Schriftsteller in bewußten krassen Gegensatz zur Tradition und Konvention stellt. Das genannte Buch gehört einer Serie von ähnlichen Monographien an, die im Verlag von Klinkhardt & Biermann unter dem Sammeltitel „Junge Kunst“ erschienen ist und noch fortgesetzt werden soll. Diese Bücher stellen einen ebenso interessanten wie dankenswerten Versucht dar, in das Wesen der neuen Kunst, das im Willen zur reinen Geistigkeit und zum freien Schöpfertum beruht, einzuführen, es zu erklären und an der Hand verschiedener Beispiele, die von den verschiedenen Trägern der neuen Ideen gegeben sind, alle seine Ausdrucks- und Deutungsmöglichkeiten darzutun und objektiv zu werten, kurz: sie wollen, wie der Verlag selbst sagt, „dem ungeheuren Bildungsbedürfnisse auch der breiten Massen entgegenkommen und die Werke einer expressionistischen Kunstrichtung, die ihrerseits Niederschlag und Ausdruck einer neuen Weltanschauung sind, dem Bewußtsein der Gegenwart nahebringen.“ Bisher sind außer dem schon genannten noch folgende Bände erschienen: Max Pechstein (von Georg Biermann), Paula Becker-Modersohn (von C. E. Uphoff), Bernhard Hoetger (vom vorgenannten), Cesar Klein (von Theodor Däubler), Franz Heckendorf (von Joachim Kirchner), Rudolf Großmann (von W. Hausenstein), Hugo Krayn (von Karl Schwarz).

[…]

             Als sehr wertvollen einführenden Beitrag hat der Verlag in gleicher Ausstattung eine sehr klug und verständig geschriebene Abhandlung von Prof. Dr. Franz Landsberger über „Impressionismus und Expressionismus“ erscheinen lassen, die sich mit den modernen künstlerischen Fragen, mit den Stärken und Schwächen der jungen Kunst mit vorurteilsloser Sachlichkeit und kritischem Scharfblick auseinandersetzt. Wie viele andere ehrliche Freunde jeder fortschreitenden künstlerischen Entwicklung warnt auch Prof. Landsberger bei aller Anerkennung größter Freiheit vor allzu einseitiger Betonung des Ausdrucks auf Kosten der rein formalen Gestaltung. Er weist darauf hin, daß (wofür die die hier erwähnten Bücher Beispiele geben) die rein formalen Prinzipien, deren sich kein Kunstwerk entheben darf und die näher zu bestimmen Sache der Aesthetik ist, in bedeutenden Werken des Expressionismus ebenso befolgt werden wie in den Kunstwerken aller Zeiten. Aber es besteht, sagt Prof. Landsberger, die Gefahr, „daß ein gar zu ungestümes Ausdrucksverlangen sich nicht mehr die Ruhe zu klarer Gestaltung nimmt, und solcher chaotischer Gesinnung gegenüber ist daran festzuhalten, daß, wenn im Kunstwerk schon der Schrei des Ursprünglichen gehört werden soll, er in unseren Ohren doch wie Musik ertönen muß.“

             Wie überall, so macht sich auch in der neuen Kunst ein unberufenes Mitläuferstum breit, das von einem ernsten Wollen, der Kunst zu dienen, weit entfernt, nur die Modekonjunktur auszunützen und seine Unfähigkeit hinter extremem Bluff zu verbergen sucht. Es mag eine weitere dankbare Aufgabe der genannten Publikationen des Verlages Klinkhardt  & Biermann sein, dem verwirrten Publikum eine Unterscheidung zwischen den wahren und falschen Propheten des Expressionismus, zwischen seinen berechtigten Entwicklungsformen und seinen Auswüchsen zu erleichtern.

In: Innsbrucker Nachrichten, 30.4. 1920, S. 7.