Eugen Hoeflich: Bolschewismus, Judentum und die Zukunft
Eugen Hoeflich : Bolschewismus, Judentum und die Zukunft. (1919)
In der berliner Zeitschrift „Die Arbeit“ wurde letzthin von Ludwig Strauß eine Diskussion über Bolschewismus und Judentum eingeleitet. Wenn wir nun auch als Zeitgenossen heute noch kaum den ruhigen Blick zu einem richtigen Urteil haben können, darf dennoch versucht werden, noch ein paar Worte – vielleicht von einem andern Standpunkte aus – darüber zu sprechen.
Bolschewismus: lassen wir für einen Augenblick die Erinnerung an alle tendenziösen Zeitungsmeldungen, an die Taten sadistischer Marodeure des sozialen Kampfes und fragen wir uns ruhig: was ist die Ursache des verhältnismäßig großen Anteiles von Juden an dieser neuen Form ökonomischen Kampfes? Sind es unedle Motive, Anlässe persönlicher Gewinnsucht, die sie in die ersten Reihen treiben?
Nein, trotz haßerfüllten Lügen: Nein. Dieser bolschewikische Jude will Europa nicht anzünden, um sich die Taschen zu füllen, ihn treibt die reinste Idee, die aber in ihrer Ausführung tragischer Irrtum ist, Folge einer durch den Krieg geborenen Massenpsychose, der die Psyche vieler Juden leichter zugänglich ist als die anderen Völker, die zweitausend Jahre Galuth nicht hinter sich haben.
Das Judentum kann – ich glaube Buber tat es – in zwei Gruppen geschieden werden: in die mit dem weiten Herzen: die idealistischen Träger der hinreissendsten Gefühle, und in die mit dem vertrockneten kleinen traurigen Golusherzen: die Krämernaturen, die Geldmenschen. Die Idealisten unter uns, Vollblutjuden durchaus, auch in ihren Irrtümern, spontan, urkräftig, unbedingt, aber auch konsequent und zähe im Verfolgen einmal gefaßter Ideen, selbst bis zur Unsinnigkeit, und stets ihrer Zeit um ein Stück voraus, von diesen Idealisten kamen Etwelche zum Bolschewismus, wie sie zur Sozialdemokratie kamen, wie sie stets zur Freiheitsbegeisterung für das Ideal irgend eines Volkes sich fanden. Immer in den ersten Reihen, glühend, fanatisch, ekstatisch. Hier in dieser Ekstase liegt das spezifisch Jüdische, Orientalische. Chassidim der Befreiung, ekstatische Fanatiker für die Menschheit, sprengen sie, die tausend Jahre bedrückt waren, endlich die Fessel und lodern auf in dem Brand, den sie kommen sahen, ehe er noch aufbrach. Darum ist dieser Jude, der idealistische Jude der Galuth Revolutionär, weil er aus dem Leiden seines eigenen Blutes ungeheures Mitgefühl hat zur unterdrückten Menschheit. Und weil der rein menschliche Wunsch, frei zu werden, endlich, allzuplötzlich nach tausendjähriger Gefangenschaft zur Erfüllung kommend, kein System für den Einzelnen vorbereitet hat, reißt er nieder, was ihn bis nun hielt, wirkt grenzenlos – bis mit einem dieser jüdische Mensch erkennt, daß alle äußerliche Freiheit, alle ökonomische Freiheit lange noch nicht Freiheit ist. Nun erst erkennt er sich, besinnt sich und zieht sich zurück: will wieder zu der Innerlichkeit kommen, die er von sich warf, als die Fahnen Sturm riefen in den Gassen der unterdrückten Menschheit. Nun erkennt er, daß sein Kampf gegen das Böse nutzlos war, da dieser europäischen Menschheit nicht die Bereitschaft zum Bösen schwinden kann – eben weil sie nicht innerlich ist. Die aber, deren Erkennen im Taumel der neuen Gefühle nicht zur Klarheit wird, werden weiterkämpfen, bis sie die Realisation ihrer Ideen erfühlen. In dem Augenblicke aber, da ihre Idee konkrete Formen anzunehmen beginnt, werden sie sie verlassen, denn die Kleinzügigkeit der Ausführung ist nicht ihre Sache. Groß und ihnen eigen ist nur der Weg, aus dem die Ströme stürzen, welche die Angelpunkte der Menschheit umbranden und immer neue Ideen gebären, und daraus entwindet sich die große Tragik des Juden mit dem weiten Herzen, daß er seiner Zeit immer um ein Stück voraus ist, um jenes Stück, das ihn, wenn er Glück hat zum Märtyrer, wenn er Unglück hat, aber zum Narren macht, oder aber zum Unentwegten, über den die Geschichte lächelt. […]
Wie immer aber die Juden beschaffen sind, die dem Bolschewismus anhangen, ihre jüdische Abstammung ist nicht die direkte Ursache dieser ihrer politisch-sozialen Tätigkeit. Die direkte Ursache vielmehr ist jene europäische Masse, deren Bestialität gegen Schwache und Geschwächte stets Äusserung ihrer Existenz war, der Judentum gleich war, mit etwas, das unterdrückt werden muß. Nichts aber ist ewig zu unterdrücken, ohne daß es mit Gegendruck antworten würde. Wenn nun aber jene Juden, die ihr Volkstum verloren, in bolschewistischen Formen reagierten, kann der Bolschewismus natürlich nicht als eine jüdische Angelegenheit bezeichnet werden, denn die gesunden Elemente des jüdischen Volkes reagierten in eine andere Richtung, in die des Zionismus, der in seinen Anfängen nichts anderes ist, als der elementare Freiheitsschrei der Unterdrückten, (und nur reiner Gedanke bleiben kann, solange er Schrei bleibt) die dem Geknechteten immanente Tendenz zur Revolutionierung seiner ihm gleichen Umgebung. Beide sind revolutionär, der gesunde und der kranke Jude; der Eine aber bleib revolutionierend beim Volk, um es und die Menschheit zu erlösen, der Andere verließ das Volk, weil er in dem tragischen Irrtum befangen war, daß Volk ein überholter Begriff sei und die Menschheit aus einer mehrweniger homogenen Masse bestehe, die man durch Anwendung gewisser Theorien innerlich und äußerlich zu einem Block zusammenschmelzen könne.
In dieser falschen Ansicht scheint mir auch die schließliche Lebensunfähigkeit des Bolschewismus begründet zu sein, jenes von Bucharin festgelegten Programmes, das Individualität im Einzelnen wie in den Völkern nur als etwas zu Überwindendes kennt. Hier liegt der Irrtum des phantasiearmen Theoretikers, der am Schreibtisch die Menschheit ummodelnd, plötzlich faktische Macht in die Hände bekommt und nun seine Theorie in Tat umzusetzen versucht. Fleischgewordene Rechenmaschine, die den Eintritt des glücklichen Zeitalters genau errechnet hat, hat ein System aufgebaut, das zwar folgerichtig entwickelt, aber an das der menschlichen Phantasie sich entringende Bedürfnis nach steter, auch äußerer Veränderung und an den unbrechbaren Willen des Individuums zur Individualität vergißt. Der Jude aber ist letzten Endes Romantiker und Individualist, mehr als ein Anderer. Ihn wird der Bolschewismus schließlich abstoßen; […]
Er wird voraussehen, daß der Geist auch des bolschewistischen Europas schließlich verflachen wird, wenn die Jugendlichkeit der Idee in den Alltag der Organisation hineingeglitten ist (wie es mit dem Geiste aller europäischen Bewegungen geschah, denn sie alle waren irgendwie ökonomisch gerichtet) er wird erkennen, daß neue Klassen aus der Tiefe heraufwachsen werden, die die ökonomische Diktatur in gleichem Maße handhaben werden, wie die früheren Herrenklassen, daß eine europäische Revolution stets in ihren Folgen nur eine Eintagsrevolution ist, selbst wenn ein monatelanges Blutband ihren Weg bezeichnet, daß sie ausschließlich Magenfrage ist, wohl eine Station in der Tragödie der europäischen Menschheit, dennoch aber nur blutige Groteske einer wirklichen Revolution, denn ihr Urgrund ist nicht Revolutionierung der Herzen, sondern Revolte der Magennerven, und ihr Ziel nicht die Menschheit, sondern die Bequemlichkeit. […]
Ich glaube anders: vom Bolschewismus trennt uns ebensoviel wie von jenem Judentum, das sich europäisch fühlt und europäische Maße sich zu eigen machte. Der Jude, der die Diskrepanz zwischen Bolschewismus und Judentum erkennt, wird auch den Zwiespalt zwischen Judentum und Kapitalismus, Europäismus, Merkantilismus erkennen und wird die reinsten Formen des Lebens auf der Bahn des Volkes suchen.
Er wird entweder als Mystiker sich den göttlichen Kern zusprechen und die Möglichkeit der Vereinigung mit Gott, um so die Menschheit zu erlösen. Er wird Religion und Dogma übersteigend, in die klarsten Höhen der Religiosität gelangen und so wirken auf die fernste endliche Zukunft seines um die Zukunft der Menschheit besorgten Volkes. Oder aber er wird Formen für diese Tage suchen, die den Möglichkeiten des Judentums, völkerverbindend sein zu können, freie Bahn schaffen und er wird in der gegebenen Realität verbleibend, zu retten suchen, was an der Menschlichkeit in dieser Menschheit für diese Tage noch zu retten ist.
Man müßte hier über die ungeheuer fruchtbaren ethischen Werte des Judentums sprechen, wollte man die Bahn wieder aufzeigen, in der die Notwendigkeit liegt, sich zu bewegen. Es ist sicher, daß am Ende dieser Bahn jener Sozialismus steht, der den Klassenbegriff nicht kennt, zu dem nicht leibliche Not ausschließlich führt, sondern der Wille zur sozialistischen Gesinnung der Menschheit, die aus sozialistisch gesinnten Völkern besteht. Auf dieser Bahn aber liegt kein Bolschewismus, keine Sozialdemokratie, keine ökonomische oder politische Partei und keine Gewalt, denn diese Bahn mündet in Asien, in jenem Asien, das Religionen stiftet und Gemeinschaften, wo Europa höchstens Staaten bauen kann und Klassenzwänge, in jenem Asien, das sozialistisch ist vom Anfang seiner Idee bis zu ihrer Diktatur der Liebe über die Menschheit.
Judentum und Bolschewismus haben nichts gemein. Wenn beider Ziel auch das höchste der Menschheit ist, können sie nicht zueinander kommen, denn der Absolutheit des Einen entspricht nur Zweckmäßigkeit, Bedingtheit des Andern, der Sehnsucht nach der wirklichen Menschheit nur der Wunsch die Produktion auf das Höchste zu steigern und die Konsumtion so angenehm als möglich zu machen. […]
Diese Frage wird einmal aufgeworfen werden, die Frage nach der reinsten Form des Nebeneinanderlebens, nach der an-archischen Form. Sie wird beantwortet werden, wenn entweder Europa vollends zertrümmert sein wird, oder aber, wenn es sozialistisch, also menschlich denken, fühlen und handeln wird, wenn Kapitalismus, Bolschewismus und alle andern Ismen verschwunden sein werden.
Hier die Ersten zu sein, sind die ungeheuren Möglichkeiten unserer palästinensischen Zukunft um die Zukunft der Menschheit.
In: Esra, H. 1/1919, S. 41-47