An die Juden im deutschösterreichischen Staate!
Manifest: An die Juden im deutschösterreichischen Staate! (1918)
Der Jüdische Nationalrat für den deutschösterreichischen Staat hat sich konstituiert und übernimmt die Wahrung der Interessen der Juden im deutschösterreichischen Staate.
Bis zum heutigen Tage haben wir Juden bei allen großen Umwälzungen der Geschichte nicht als Juden gehandelt. Wir warteten, was mit uns geschehen werde, wir sind Abhängige geblieben, die, auf das Wohlwollen der anderen angewiesen, ihrem Übelwollen schutzlos preisgegeben waren. Wir waren nicht Herren unseres eigenen Schicksals.
Die neue Umwälzung, welche die endgültige Befreiung der Welt von aller Fremdherrschaft und allem nationalen Zwange bringen soll, muß auch uns Juden aus dieser schmachvollen Lage erlösen. Auch wir Juden wollen unser Schicksal selber bestimmen. Das jüdische Volk, dessen nationale Existenz seit zweitausend Jahren bedroht ist und das sein Volkstum allen Schwierigkeiten zum Trotz unter großen Opfern bis auf den heutigen Tag erhalten hat, muß bei der Neuordnung der Welt, die große und kleine Nationen in gleicher Weise schützen wird, Gerechtigkeit finden. Schon haben die großen Demokratien des Westens die jüdische Nation als gleichberechtigtes Glied der Völkerfamilie anerkannt und die Zusicherung gegeben, daß ihre Forderung nach einer nationalen Heimstätte in Palästina Erfüllung finden wird. Durch unsere Aufnahme in den Völkerbund wird unsere Stellung überall in der Welt geschützt und sichergestellt werden. Unser einziger Rückhalt ist unsere eigene Kraft, die zusammengefaßte Kraft des jüdischen Volkes von vierzehnt Millionen, das eine untrennbare Einheit bildet, obwohl es über die ganze Welt verstreut ist.
Die Mißverständnisse, die sich um diesen Gedanken türmten, entwirren sich allmählich. Wir wollen die Juden nicht in ein Ghetto schließen, wir wollen die Juden vielmehr aus der Unfreiheit und Abhängigkeit, in der sie bisher lebten, herausführen; wir wollen, daß die Juden die Bestimmung ihres Schicksals als Juden in die Hand nehmen.
Wir fordern innerhalb des deutschösterreichischen Staates, daß gemäß den Grundsätzen der Demokratie vollkommene politische und bürgerliche Gleichberechtigung für alle Bürger tatsächlich durchgeführt werde. In allen Angelegenheiten, die an das Territorium gebunden und daher allen Bürgern gemeinsam sind, wollen wir im besten Einvernehmen mit dem deutschen Volke am Aufblühen des Staates mitarbeiten. Wir wollen, wie es die Juden stets getan haben, unsere geistigen und materiellen Kräfte in den Dienst des Gemeinwesens stellen. Aber wir tun dies nicht als rechtlose und geduldete Einzelpersonen, sondern als Angehörige des jüdischen Volkes.
Wir fordern im deutschösterreichischen Staate unsere Anerkennung als Nation. Wir wollen nicht zu einer Lüge gezwungen sein, wir wollen das Recht haben, als Söhne des jüdischen Volkes uns zu unserem Volke zu bekennen. Aber nicht nur die Anerkennung ist unser Ziel; wir fordern auch die Gewährung und Sicherung nationaler Rechte. Die Rechte, die wir als Minderheitsnation geltend machen, müssen der Eigenart unserer Lage entsprechen. Alle Angelegenheiten, welche ausschließlich das jüdische Volk angehen, wollen wir in autonome Verwaltung übernehmen. Wir wollen an Stelle der Kultusgemeinde die jüdische Volksgemeinde setzen, welche auf Grund des demokratischen Prinzips nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht aller Männer und Frauen konstituiert wird. Dieser Volksgemeinde obliegt die Verwaltung des ganzen Gebietes des jüdischen kulturellen Lebens, vor allem auch des Schul- und Erziehungswesens. Das jüdische Volk soll selbst die Verantwortung für die Erziehung seiner Kinder tragen; wir wollen unsere Jugend zu aufrechten Menschen und ganzen Juden erziehen. Ebenso wird die Volksgemeinde die vom jüdischen Volke stets hochgehaltene Wohlfahrtspflege und soziale Fürsorge nach modernen Grundsätzen als ein wichtige Aufgabe zu betrachten haben.
So schaffen wir für uns die Möglichkeit einer freien Entfaltung unserer nationalen Eigenart, wir beseitigen die Ursachen vieler Konflikte und schaffen gleichzeitig die Voraussetzungen für ein würdevolles und reibungsloses Zusammenleben mit den anderen Bürgern dieses Staates, das auf gegenseitiger Achtung gegründet sein muß. Wir sind überzeugt, daß dies nicht nur uns Juden zum Heile gereichen wird, sondern daß wir dadurch auch in die Lage versetzt werden, für das Aufblühen des politischen und wirtschaftlichen Lebens im Staate zu wirken und den Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Güter zu fördern.
Juden Deutschösterreichs! Eine neue Zeit ist angebrochen, sie soll auch für uns eine stolze und glückliche Zeit werden. Das System der alten Politik, die auf unrichtigen Voraussetzungen aufgebaut und zu ängstlich war, um jüdische Interessen mannhaft zu vertreten, ist zusammengebrochen und muß einer gesunden Volkspolitik Platz machen. Es darf auch bei uns keine Geheimdiplomatie und keine Notabelnwirtschaft mehr geben. Wir müssen eine ehrliche, aufrechte, selbstbewußte Politik machen, nur dann werden wir uns schützen und auch den anderen Achtung einzuflößen vermögen. //
Juden Deutschösterreichs! In diesem entscheidenden Augenblick hat die nationale Gruppe im Judentum die Führung übernommen und wir mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft ausschließlich den Interessen des Volkes dienen. Wir fordern euch alle auf, den Nationalrat bei seinen Arbeiten zu unterstützen und euch der nationalen Bewegung anzuschließen. Eine Gruppe von Menschen, die sich nicht organisiert, die nicht Selbstbestimmung und Selbstschutz übt, ist tatsächlich schutzlos.
Juden Deutschösterreichs! Brüder und Schwestern! In dieser großen Stunde müssen wir einig sein. Wir wollen der Welt nicht mehr das Bild der Zerfahrenheit und der Schwäche geben. Wir wollen zeigen, daß das jüdische Volk mündig geworden ist und daß sein heißer Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit sich vereinigt mit dem Wunsche der Gutgesinnten aller Völker. Scharet euch alle einmütig um die einzige Vertretung, die ihr habt, um den Jüdischen Nationalrat!
Der Jüdische Nationalrat für Deutschösterreich
Das Präsidium:
Böhm Margulies Pollack Sokal Stricker