Arthur Ernst Rutra: Oesterreichs abendländische Sendung
Arthur Ernst Rutra: Oesterreichs abendländische Sendung (1936)
Der Begriff vom „Abendland“ wurde unserem geläufigen Wortschatz erst durch das Werk eines Philosophen eingebürgert, der dessen Untergang in einer fast gewalttätigen Vision heraufbeschworen hat. Es war das Verhängnis dieses Mannes, ja, es wirkt wie ein Satirspiel fast, daß er, der gewiß den Untergang des Abendlandes nicht wollte, im geistigen Raum mit der Wegbereiter einer Bewegung wurde, die dann, als sie als Umwälzung hereinbrach, vielfach dieses Abendland und seine Kultur zu bedrohen sich anschickte und wohl gefährdete. Der Mann, der Philosoph, hat dies erkannt und einmal, wenn auch mit schmerzlicher Zurückhaltung, mahnend und warnend seine Stimme erhoben. Zu einer neuerlichen und – wer ihn kannte, der wußte es – zu einer dem gewonnenen Abstand gemäßeren schärferen Absage hat der Mann, soviel bisher bekannt wurde, sich nicht mehr aufgerafft. In diesem Jahr, das nunmehr zu Ende geht, schied er überraschend schnell aus dem Leben, – ein gebrochener Mann nach Zeugnissen, die man aus seinem sehr spärlichen Bekanntenkreis vernahm, den der immerdar Stolze einer Ansprache würdigte. Über seinem jähen und heute, nach kaum paar Monaten, fast schon der Vergessenheit //überantworteten Ende schweben die düsteren Schatten einer verzweiflungsvollen Erkenntnis.
In dem Werk dieses Mannes, das bezeichnenderweise in seiner ersten, nicht durchgedrungenen Auflage in Wien erschienen ist, erhob sich zum ersten Male bewußt die gespenstische Vision eines in seinem Bestande bedrohten Abendland. Es ist aber zweifellos sein Verdienst, daß gerade damit die erste Mahnung an das europäische Gewissen aufstand, daß eine Verpflichtung zur Besinnung und Einkehr geweckt wurde. Im Rahmen dieser Verpflichtung , einer Verpflichtung zur Abwehr der Gefahren, einer Verpflichtung, von der sich kein Staatswesen ausschließen dürfte, das zur zur europäischen Gemeinschaft zählen will, ist Oesterreich eine besondere Aufgabe bestimmt. […]
Diese Erkenntnis hat längst sich schon durchgesetzt, und die Geschichte von Jahrhunderten und Jahrtausenden hat es immer aufs neue bestätigt, daß in dem Becken des größten europäischen Stromes, dort wo die alte Reichshaupt- und Residenzstadt Wien liegt, das Einfallstor für den Osten und das Ausfallstor in den Osten aufgerichtet ist. Wer Wien hat, hat den Schlüssel zur Macht über Europa, einer Macht, die um des Schicksals Europas willen, keinem anderen, und schon gar keinem anderen Mächtigen zufallen darf. Denn die gleiche Macht, die in den Händen desjenigen, der ihr rechtmäßiger Verwalter und Bewahrer ist, zum Segen und zum Wohle Europas sich auswirkt, verwandelt sich in den Händen eines anderen, der nur ein unrechtmäßiger Eroberer und Usurpator wäre, zum Unheil und Verhängnis für Europa und die gesamte abendländische Welt.
[…]
Österreichs abendländische Sendung ist nicht zu verstehen und wird von dem nicht begriffen werden, der nicht daran festhält, daß es ein katholisches Land ist. Der tiefe geistige, kulturelle, aber auch rein menschliche Wert dieser Sendung wurzelt in dieser Welt. Die Bedeutung dieser Sendung aber für die Gegenwart und für die Zukunft wird erst aus der Kenntnis der Geschichte geläufig, die immer wieder auf die einzigartige Stellung Österreichs im Verlauf der Weltgeschichte hinweist. Bis in die jüngste Vergangenheit noch, da Österreich, selbst in eine schwere Krise am ende des Weltkrieges gestürzt, immer noch eigene Kraft genug hat, um den Bolschewismus abzuwehren, den Ungarn und Bayern eine Zeitlang erlegen waren, der in vielen Teilen des Deutschen Reiches schwerste Kämpfe heraufbeschworen hat. Auch das war ein Teil der abendländischen Sendung, die das schwer heimgesuchte Land zu erfüllen vermocht hat.
Drei große Baumeister formten das neue Österreich und führten es aus dem Erbe eines altehrwürdigen Reiches seiner neuen Bestimmung zu. Seiner neuen Bestimmung? – ist sie wirklich neu? Sie hat sich in Wahrheit niemals gewandelt. Es galt nur die Anfechtungen und Versuchungen abzuwehren, die plötzlich aus einem national „aufgespalteten“ Europa – um ein heute beliebtes Wort zu gebrauchen – an die alten Grenzen heranbrandeten. Es war freilich nicht leicht für ein Volk, sich inmitten schlimmster materieller Bedrängnisse, in die es durch einen sinnlosen Friedensschluß geraten war, auf seine alten Bestimmungen zu besinnen. Seipel vollbrachte dies große europäische Werk, er räumte den Schutt fort, der sich über dem Grundstein angesammelt hatte und legte die Grundfesten an, die den neuen Bau tragen sollten. Als er vorzeitig abberufen wurde, stand der neue Mann schon da, der das Werk fortsetzen sollte. Er war nicht groß, der Mann, der von den Bauern herkam; 1.47 maß er nur, eine Höhe, die unter das Militärmaß fiel, und er hatte es dennoch erzwungen, daß er als Soldat für sein // Vaterland kämpfen konnte. Nun war er berufen, den schwersten Kampf seines Lebens zu fechten. Er hat ihn durchgefochten, bis zum bittersten Ende, das er als Märtyrer für sein Österreich erlitt. Mit diesem Ende aber, das den Mördern für ewige Zeiten das Kainszeichen auf die Stirn eingebrannt hatte, wuchs der kleine Körper des Mannes Dollfuß ins Riesengroße. Er wuchs so weit, daß er heute die Erde Österreichs bis an seine Grenzen deckt. Wer diese Grenzen anzutasten wagt, rührt mit frevler Hand an diesen teuren Toten und fordert eine furchtbare Vergeltung heraus. Auf diesem mit Märtyrerblut geweihten Boden setzt der dritte Baumeister Schuschnigg das Werk des Aufbaues, aber auch der Befriedung fort. Es ist nicht leicht und wird nicht leichter dadurch, daß jenes Europa, um dessetwillen Österreich besteht und bestehen muß, nicht immer die Unerläßlichkeit dieses Bestandes gebührend wertet. So mögen Anlage und Pläne dieses dennoch unbeirrbar schaffenden Baumeisters nicht immer gleich verständlich und übersichtlich sein. Doch fordert er Vertrauen und hat ein Recht es zu fordern.
Denn über allen, vielleicht zeitlich, vielleicht politisch bedingten Schattierungen, steht unverrückbar, untilgbar die abendländische Sendung Österreichs. Gewiß ist Österreich ein deutscher Staat, aber dieser Staat hat eine eigene deutsche Staatsnation, die die österreichische ist. Nationen sind nicht nur etwas Gewachsenes, sie entstehen auch, wenn ein Wille da ist, der sie schaffen will, mag der Träger dieses Willens ein einzelner, mag er ein ganzes Volk sein. Wilhelm von Oranien schuf die holländische Nation, Washington die amerikanische, in der Schweiz war es das ganze Volk. Wenn heute, sie einst, wieder von einer deutschen Mission Österreichs im Südostraum die Rede ist, so ist diese Mission eine abendländische, so kann sie keine andere sein. Sie ist das Bekenntnis zu einem europäischen, universalistischen und christlichen Deutschtum; zu einem Deutschtum, das niemals um seiner selbst willen antinational gegen andere Nationen war, sondern bestenfalls eben national in gleicher Gemeinschaft mit allen, und übernational zugleich. Gerade diese unschätzbare Bedeutung Österreichs für die gesamte Kulturwelt schöpft ihre sich ewig erneuernde Kraft aus dem katholischen Charakter des Landes. Aus diesem Quell wird das Versöhnende und Befreiende gespeist, das im Wesen der österreichischen Missionsarbeit liegt, aus diesem Quell aber auch die Beharrlichkeit und die in jahrhundertealten Kämpfen bewährte, unbesiegbare Widerstandskraft, wenn es dieses für eine Welt überantwortete Amt zu verteidigen gilt.
Es wäre ein Unrecht, nicht des Hauses zu gedenken, das in tiefer Gläubigkeit und in weiser Erkenntnis dem Lande den Vorzug dieser Gaben erhalten will. Es ist das Herrschergeschlecht, das sich selbst mit Stolz das Haus Oesterreich nennt. Sein Deutschtum ist von einer Weltweite, die der abendländischen Sendung des Landes Österreich entspricht, ja die sie grundgelegt und bewahrt hat; Herrscher, die durch Jahrhunderte auch deutsche Kaiser gewesen sind. Es mag der Vorsehung vorbehalten sein zu bestimmen, wann dieses Haus Österreich wieder mit seinem Lande Österreich vereint sein wird. Doch ist dies Eine gewiß: daß von diesem Tage an die abendländische Sendung Österreichs […] ihren tieferen Sinn und ihren durch nichts beirrbaren Bürgen erhalten wird.
In: Der Christliche Ständestaat, 13.12.1936, S. 1190-1192.