A. F. Seligmann: Die Kunststadt Wien

A. F. S.[eligmann]: Die Kunststadt Wien (1919)

Hinunter muß der Erde Pracht
Zum düstern Grabeshügel!
Das Echte rettet aus der Nacht
Die Kunst auf ew‘gem Flügel.

Gustav Schwab

Wahrheiten können nicht oft genug gesagt werden; und so wollen wir uns denn auch nicht abhalten lassen, immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Stellung, welche die ehemalige Kaiserstadt in Zukunft einnehmen kann und wird, zum großen Teil, vielleicht sogar ausschließlich davon abhängen dürfte, in welcher Weise sie ihren alten Kunstbesitz erhält, verwaltet und ausbaut. Es ist ja beispielsweise möglich, daß Wien als Grenzstadt an der Donau sich zu einem Umschlagplatz, zu einem Knotenpunkt des Handels zwischen West- und Südosteuropa entwickelt; aber diese und auch andere Entwicklungsmöglichkeiten sind an Vorbedingungen geknüpft, die vorläufig noch nicht erfüllt sind und von denen es auch gar nicht sicher ist, daß sie jemals erfüllt werden. Was aber Wien nicht erst zu werden braucht, was es schon ist und durchdrei Jahrhunderte war: Sitz und Denkmal einer alten, feinen und ganz und gar eigenartigen Kultur, in einer wundervollen Landschaft gelegen, und dadurch ein Anziehungspunkt für Reisende und für solche, die in einer vom Duft vornehmer Vergangenheit durchwehten Umgebung angenehm und behaglich leben wollen — das kann es auch bleiben, wenn es die Quellen dieser bescheidenen, aber darum keineswegs minder wertvollen Existenz nicht selber verschüttet.

Als Residenz und Mittelpunkt eines großen Kaiserreiches hat sich Wien in den letzten 50 Jahren mit erstaunlicher Schnelligkeit sozusagen zur Großstadt entwickelt. Sozusagen; denn eine wirkliche ist es doch nicht geworden und hat dabei viel Wertvolles aus seiner früheren Zeit eingebüßt; prächtige Denkmäler alter Baukunst sind gefallen, die landschaftliche Umgebung ist vielfach entstellt worden. Hand in Hand damit ist aber auch ein Verfall der gesellschaftlichen Kultur gegangen. Durch das Anwachsens eines unsauberen Nachtlebens. durch protzige Geselligkeit und widerwärtigen Snobismus ist um die Reste des alten Wien eine Art von 27-Kreuzer-Newyork entstanden, das den Anschein einer Großstadt erweckt, aber den Sinn für edlere geistige Genüsse abgestumpft hat. Ein ungeheures Publikum ist jetzt vorhanden, das die Operettentheater, die Varietés und Kinos füllt; aber auch in die Schaustätten der klassischen Kunst, in- die vornehmen Konzertsäle und dergleichen eindringt, sich in modernen Kunstausstellungen breitmacht und die feiner organisierten Zuschauer, Hörer oder Betrachter zu einer kaum bemerkbaren Minderzahl herabdrückt. Wer sich erinnert, wie vor 40, 30, ja noch vor 20 Jahren das // Publikum des Burgtheaters, der Oper; der Philharmonischen Konzerte auf seine künstlerische Nuancen reagiert hat und damit dass Publikum von heute vergleicht, wird wissen, was wir meinen. Im übrigen will ich durchaus kein Lobredner des Vergangenen sein. Auch damals war nicht alles, was geboten wurde, gut; manches sogar herzlich schlecht. Auch damals standen Schauende und Hörende wertvollen neuen, aber fremdartigen Erscheinungen (wie etwa Feuerbach, Ibsen, Brahms, Bruckner, Wolf) oft genug verständnislos und feindselig gegenüber – wie das überall und zu allen Zeiten der Fall ist – allein für das Technische der Ausführung im Schauspielerischen wie im Musikalischen fand sich, ähnlich wie etwa beim italienischen Publikum für die Kunst des Gesangvortrags, immer der feinste Sinn. Eine diskrete Bewegung, ein mit halblauter Stimme gesprochener Satz, eine mit vollendetem Geschmack vorgetragene musikalische Phrase konnte jenes leises Murmeln des Beifalls erregen, das, wie der Wind über ein Kornfeld streicht, sich wellenartig durch Parterre und Ränge fortpflanzt und dem wahren Künstler mehr gilt als das laute Klatschen der Menge, die auch den bloßen Kulissenreißer, den brutalen Effekthascher leicht mit derartigen Ausbrüchen lohnt. Von diesem Verständnis für das wesentlich Künstlerische, von dieser, ich möchte sagen, instinktiven Kennerschaft sind heute im Wiener Publikum, namentlich im Publikum der ehemaligen Hoftheater, kaum mehr Spuren zu finden; Teilnahmslosigkeit wie Beifall sind zumeist gleich kompromittierend für das Auffassungsvermögen und den Standpunkt einer „kompakten Majorität“, neben der eine Minderzahl von wirklich kunstempfindenden Zuschauern und Hörern sich nicht zur Geltung bringen kann.

Man spricht schon seit langem von dem Rückgang unseres Theater- und Musikwesens. Das würde nicht viel beweisen; denn auch zu den Zeiten, wo dieses auf der Höhe stand, hat man gewöhnlich über die Gegenwart geklagt und die Vergangenheit herausgestrichen. Eins ist nun freilich richtig: die Zahl der großen Individualitäten hat sich erheblich vermindert; dafür hat sich das Durchschnittsniveau gehoben. Immerhin gibt es auch unter den jetzt wirkenden Wiener Musikern und Dirigenten, unter Schauspielern und Schauspielerinnen, Sängern und Sängerinnen genug starke Talente. Aber sie können sich unmöglich richtig entwickeln, wenn ein verständnisloses Publikum ihre Unarten großzieht,

ihren echt künstlerischen Qualitäten aber kühl gegenübersteht. Es hat wohl immer und überall ein solches Publikum gegeben, aber, daneben fand sich gerade in Wien stets ein angestammter Kreis feiner Genießer aus allen sozialen Schichten zusammen. Und dieser Kreis gab im großen und ganzen den Ton an; für ihn mühte sich der wahre Künstler, das Beste zu geben, und sein Beifall, für das geschulte Ohr sehr wohl von der Claque oder der der rauhen Menge zu unterscheiden, war ihm der schönste Lohn, Anfeuerung und Richtschnur für sein ferneres Streben und Schaffen. Dieser Kreis ist im Begriffe, zu verschwinden.

            Gleichwohl hat sich im Wiener Kunstleben noch eine gewisse Tradition erhalten; eine Tradition, die auf manchen Gebieten nicht nur als lokale Besonderheit wertvoll, sondern geradezu mustergültig ist. Noch ist in einzelnen Erscheinungen der Geist und Stil des alten Burgtheaters lebendig, der einst allen deutschen Bühnen Vorbild war, noch gibt es eine Überlieferung in der Musik – in der ausführenden meine ich – die von großen Lehrern in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts übernommen und gepflegt, bis auf die Klassiker, bis auf Beethoven, Schubert, ja Mozart und Haydn zurückgeht und darin einzigartig dasteht. Selbst in den bildenden Künsten, die hier immer nur auf einen recht kleinen Kreis von verständnisvollen Genießern zählen konnten, hat sich trotz der starken modernen Gegenströmungen manches von der Liebenswürdigkeit, Eleganz und Anmut der früheren Epochen erhalten, die jetzt, nachdem sie geraume Zeit unterschätzt worden sind, wieder zu hohen Ehren gelangten.

Diese Überlieferungen nicht erlöschen zu lassen, ist vor allem unsere Pflicht. Die Kunst ist heute doch schon so sehr mit der Lebensführung breiterer Schichten verbunden und bedeutet rein wirtschaftlich so viel, daß nicht nur einzelne bevorzugte Kreise, sondern ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem der Staat selber, ein ebenso starkes Interesse an ihrem Bestande und ihrem Gedeihen hat, als an der Existenz von Betrieben, die den Bedürfnissen des alltäglichen Lebens dienen. Und gerade in den Wirkungskreis staatlicher Fürsorge fällt jene Art von Kunstförderung, durch welche die Überlieferung lebendig erhalten und auf die Nachwelt übergeleitet werden kann: die Verwaltung der zwei ehemaligen Hoftheater und der staatlichen Kunstschulen, ferner die Erhaltung und zweckmäßige Aufteilung des überkommenen Kunstbesitzes der Vergangenheit, der alten Paläste und Kirchen, der öffentlichen Sammlungen usw.

Wir sind arme Leute geworden und werden mit Wasser kochen müssen. Aber kochen werden wir doch! Und wer weiß, ob uns nicht die Wassersuppen gesünder sein werden als der – man verzeihe den wienerischen Ausdruck – Pantsch, den man aus schwindelhaften Surrogaten gebraut und unter französischen und englischen Namen aufgetischt hat.

[…]

Wie immer sich die Verhältnisse entwickeln mögen – so viel läßt sich nach menschlicher Voraussicht heute schon sagen, daß das deutschösterreichische Staatsamt für Kunstpflege in Zukunft gänzlich unpolitisch wird geführt werden können – und müssen, wenn es etwas leisten soll. Es wird so ziemlich das einzige Amt sein dem dies möglich ist; denn selbst die staatliche Pflege der Wissenschaft, die doch auch kein Politikum ist oder doch keines sein sollte, kann sich – man denke an das Mittelschul- und Universitätswesen – von politischen Einflüssen und Erwägungen kaum ganz freihallen. Das Amt für Kunstpflege könnte es; denn erstens ist die Anzahl der Künstler und Kunstschüler im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung eine so kleine, daß sie politisch keine Rolle spielt; dann aber ist der Wert dessen, was in der Kunst geleistet wird, vollkommen unabhängig von dem begrifflichen Inhalt des Werkes. Sollte es sich aber um eine dick aufgetragene, in irgendeiner Hinsicht für schädlich erachtete Tendenz handeln, so kann darüber nie das Kunstamt, sondern nur die — Polizei entscheiden, die ja auch im neuen Staat hie und da nötig sein wird. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich in der Theorie gegen jede Zensur bin, ob sie sich gegen den Fortschritt oder gegen den Rückschritt wendet (die schärfste Unterdrückung des Geistes dürfte gegenwärtig wohl im bolschewistischen Rußland zu finden sein!); aber wenn eine solche aus irgendwelchen Gründen geübt werden müßte; so fällt das eben nicht in den Machtbereich des Kunstamtes.

 In: Neue Freie Presse, 16.1.1919, S. 1-3.