A. F. Seligmann: Kunst und Erotik

A. F. Seligmann: Kunst und Erotik (1922)

Vor einiger Zeit übergab mir ein bekannter Arzt, Leiter eines bedeutenden hiesigen orthopädischen Instituts, ein Mann von vielseitigen Interessen, der einer alten Wiener Künstlerfamilie entstammt, einen Aufsatz, um meine Ansicht darüber zu hören. (Er ist inzwischen als Feuilleton in der Kunstbeilage der Neuen Freien Presse vom 10. März erschienen.) Darin wurde auseinandergesetzt, der eigentliche „Zweck“ der Kunst, über den so viel philosophiert und geschrieben worden, sei „Psychotherapie“. Wenn auch Freud erst diesen Terminus technicus in Mode brachte, so haben, sagt der Verfasser, die Künstler auf Grund ihrer Intuition praktisch Psychotherapie getrieben, solange die Welt steht. „Zweck der Kunst ist nämlich die Entladung“, und ein begeisternder Künstler ist der, „dem es gelungen ist, solcherlei aus dem Dämmer klar an die Sonne zu bringen, das im Unterbewußtsein seiner nichtkünstlerischen Nebenmenschen wogt, ohne je von selber aus dem Chaos Schöpfung werden zu können“.— „Die untätig Reichen und die in ihrem Beruf Unbefriedigten, in deren Leben Bilder, Romane, Theaterstücke erst Lebensinhalt bringen, alle diese Unzähligen, die das große Kunstpublikum ausmachen, haben einen Anflug von Hysterie; was sie im Alltag erleben, genügt ihnen nicht, und sie hören daher umso lauter die Stimmen ihres eigenen Inneren; sie gleichen dem Menschen, der sich beide Ohren fest zuhält und nun das Rauschen des eigenen Blutes hört.“

Ein Dichter wird bei seinen Zeitgenossen um so mehr Erfolg haben, je besser es ihm gelingt, diese chaotischen Empfindungen, die der Weltanschauung und Lebensauffassung seiner Epoche entspringen, aber von den meisten nur im Unterbewußtsein, daher als Verstimmung, als Mißbehagen empfunden werden, gleichsam „als psychi­scher Athlet aus der Tiefe ans Tageslicht zu heben, so daß es sich zu Worten gestaltet, allgemein verständlich wird und bei seinen Lesern eine psychische Entladung ermöglicht“. Er spricht aus, was seinen Zeitgenossen — oder doch den meisten von ihnen — auf der Zunge liegt, er „schreibt ihnen aus der Seele“, wie man zu sagen pflegt, und verschafft ihnen dadurch ein Gefühl der Befreiung.

In diesen Auseinandersetzungen liegt ohne Zweifel viel Wahres. Indessen wird man gut tun, solche Befreiung oder Entladung nur insofern für den „Zweck“ der Kunst anzusehen, als es sich um die psychologische Wirkung der künstlerischen Darstellung han­delt, um den Effekt, den der Stoff, das Gegenständliche dieser Darstellung be­wirkt. Man kann sich sehr wohl den­ken, daß ein höchst bedeutendes Kunst­werk einen Gegenstand behandelt, der an sich gar keine Assoziationen der obigen Art hervorruft — z. B. der be­rühmte ausgeweidete Ochse, den Rembrandt gemalt hat, bloß weil ihn das Motiv als Komplex von Form und Farbe, Licht und Schatten interessierte. Umgekehrt kann auch irgendein künst­lerisch wertloses — ich meine als Form­gebilde wertloses, also dilettantisches oder kitschiges — Gemälde, Drama oder Musikstück den bewußten empfindlichen Punkt in der Seele des Beschauers oder Hörers treffen und die erwähnten Wirkungen im höchsten Maße hervor­bringen. Das ist ja das Geheimnis des Erfolges gewisser Modewerke, die den enthusiastischen Beifall des Publi­kums erwecken, aber sobald die aktuellen, in der Zeitgelegenen psychologischen Voraussetzungen nicht mehr vorhanden sind, abfallen und gar keinen Eindruck mehr hinterlassen.

Die heutigen „Verdrängungserscheinungen“ (d. h. Er­scheinungen, die darauf beruhen, daß gewisse Vorstellun­gen oder Vorstellungsreihen als störend empfunden und daher ins Unterbewußtsein „abgedrängt“ werden, wo sie mehr oder minder starkes Mißbehagen, ja gelegentlich schwere Erkrankungen des Seelenlebens hervorrufen können) sind, wie der Autor des zitierten Aufsatzes weiterhin bemerkt, zum großen Teil erotischer Natur, „denn dieses Gebiet ist dasjenige, auf welchem die Wolke des Unausgesprochenen, des Unfreien noch am meisten lastet“. Wir stehen tatsächlich diesen Erscheinungen nicht so unbefangen gegenüber, wie das in früheren Epochen der Fall war, in denen man dergleichen entweder als etwas ganz Natürliches betrachtete oder als derbkomisches Motiv behandelte, z. B. in der antiken Komödie, aber auch noch im christlichen Mittelalter (wie wir an den Canterbury tales, den Erzählungen der Königin von Navarra oder dem Decamerone sehen). Als tragisches Motiv wurden damals meist die rein seelischen Konflikte der Liebe, nicht selten sogar der unerwiderten, der platoni­schen, verwendet (Dantes Verhältnis zu Beatrice, die Fiametta des Boccaccio und zahllose andere Werke aus diesen, aber auch noch, aus späteren Jahrhunderten). Erst nach und nach machte die Zote der Pikanterie Platz, die Derbheit dem feineren Humor oder einer raffinierten Mischung von Sentimentalität und Lüsternheit. In der galanten Kunst des 18. Jahrhunderts ist in dieser Richtung wohl das Äußerste geleistet — aber immer noch mit dem Rest einer gewissen Naivität, die solche Dinge dem Leser und Beschauer vorführt, um ihm eingestandener­maßen Vergnügen zu bereiten. Die Stürmer und Dränger, die Shakespearomanen vom Ende des 18. wie die Romantiker vom Beginne des 19. Jahrhunderts haben dann solche Motive auch im tragischen Sinne verwendet (man denke an die berühmte Entkleidungsszene in Kleists Familie Schrof­fenstein). Inzwischen hatten sich die Ansichten von gesellschaftlichem An­stand immer strenger entwickelt, ja bis zur Prüderie gesteigert, der Begriff des Verbotenen, Unsittlichen heftete sich in der allgemeinen Meinung immer merk­licher an diese Dinge, und selbst heute, wo die Ansichten über das, was einem Publikum im Theater, in Kunstausstellungen u. dgl. in dieser Hinsicht ge­boten werden darf, weiß Gott, sehr liberale geworden sind, ist ein Rest dieses Gefühls geblieben, so daß man sich bewogen fühlt, solchen Schilde­rungen oder Darstellungen, wofern sie als echte Kunst gelten sollen, ein Mäntelchen umzuhängen, sie als geniale Kühnheit, als wissenschaftlich wertvollen Beitrag zur Seelenkunde oder gar als „moralisches“ Abschreckungsmittel zu drapieren, wodurch natürlich ihre „psy­chotherapeutische“ Wirkung nur gesteigert wird. Was früher mit breitem

zynischem Lachen oder mit verständnis-//vollem Augenzwinkern vorgebracht oder entgegengenommen wurde, genießt man heute mit ernster Miene, hochgezogenen Augenbrauen und gesenkten Mundwinkeln als „psychologisches Dokument“ und als „reine Kunstform“, ohne sich das Vergnügen an dem Sinnenkitzel eingestehen zu wollen. — Dies zeigt schon das erst seit neuerer Zeit so gebräuchlich gewordene Wort „Erotik“, ein höchst „wissenschaftlich“ klingender Ausdruck, der der Mythologie entnommen ist, während man früher dafür einen solchen zu verwenden pflegte, der aus der Zoologie geholt war. Es ist ein Eingeständnis der Hemmungen, die nach – oder trotz – den heutigen Anschauungen von Sittlichkeit und öffentlicher Moral mit der Behandlung solcher Themen noch immer verbunden sind, und aus diesen Hemmungen erklären sich auch die „Verdrängungserscheinungen“, von denen der Autor des erwähnten Aufsatzes spricht, und ihre starken seelischen Wirkungen.

Durch den Wegfall der Zensur und durch die Lockerung der gesellschaftlichen Anstandsbegriffe ist eine Situation geschaffen worden, die begreiflicherweise entsprechend ausgenutzt wird. Echte Künstlertemperamente, Reine, denen alles rein ist, die nur ihrem inneren Antrieb folgen, können nun manches frei von der Leber weg sagen, was ihre Seele belastet, können, ohne damit Anstoß zu erregen, manches vor die große Öffentlichkeit bringen, was sie bisher in ihrem Pult verschlossen oder in einem Winkel ihrer Werkstatt aufgestellt hatten. Daß anderseits auch findige Köpfe von dieser Konjunktur Gebrauch machen, indem sie auf die niedrigen Instinkte des Publikums spekulieren, ist selbstverständlich. Die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien ist gar nicht leicht zu ziehen und, – so sonderbar es klingt – es wäre damit auch kein Kriterium des Kunstwertes gegeben. Es kommt schließlich nicht so sehr auf die Absicht an, die der Künstler seinem Publikum gegenüber hat, sondern darauf, ob das, was er bietet, ein wirkliches Kunstwerk ist oder nicht. Boucher und Fragonard haben, allerdings in vielen Fällen den Wünschen ihrer privaten Auftraggeber entsprechend, die alleranstößigsten Dinge gemalt, und zwar in einer Art, die das Sinnlichreizende der Darstellung absichtlich hervorhebt. Trotzdem gehören ihre

Werke, auch die geradezu pornographischen, zu den bedeutendsten Kunstleistungen ihrer Zeit und ihres Landes. Daß sie sich so ganz als graziöse Cochonnerien geben, daß sie die Tendenz, durch das Sujet im Beschauer psychologische, wo nicht gar physiologische Wirkungen zu erzielen, ganz unverhüllt zur Schau tragen, macht sie eher sympathisch! Viel weniger ist dies der Fall etwa bei den seinerzeit vielgelesenen und berühmten Romanen J. J. W. Heinses, in denen die nämlichen Absichten, nur schlecht maskiert, zutage treten: es wird darin die Philisterei bekämpft, die Rückkehr zur göttlichen Nacktheit der Antike gepredigt, und laszive Schilderungen erscheinen von mehr oder minder gelehrten Diatriben über Malerei, Musik u. dgl. unterbrochen, wie z. B. im Ardinghello […]

Daß diese Romane weniger wegen ihrer oft scharfsinnigen Kunstbetrachtungen gelesen wurden, als wegen der darin geschilderten pikanten Situationen, läßt sich denken.  […]

Im allgemeinen fasste die galante Kunst des Rokokos die Liebe als eine vergnügliche Sache auf. Das änderte sich im 19. Jahrhundert gründlich. Schon die Stürmer und Dränger hatten angefangen, erotische Darstellungen mit allerlei grausigen, ja perversen Elementen zu vermengen; die Romantiker setzten das fort; auch mit der Lupe der Wissenschaft wurden solche Dinge nun betrachtet; späte Repräsentanten dieser beiden Richtungen sind etwa Felicien Rops und Emile Zola. In der neueren Kunst hat sich das noch gesteigert, wie man etwa an Klimt und Schiele sieht, und in der Literatur sind die Beispiele so zahlreich und bekannt, daß wir gar keine Namen anzuführen brauchen. Indessen findet sich gelegentlich auch einmal einer, der sich der früheren Auffassung nähert; so bewegt sich z. B. Franz v. Bayros, von dem wir in dieser Nummer mehrere Blätter bringen, auf einer mittleren Linie zwischen den erwähnten Extremen.

Das Charakteristische erotischer Kunst liegt nun aber gar nicht so sehr im Sujet; die Beziehungen der Geschlechter waren immer ein ergiebiges Motiv für die Kunst, ohne daß man darum solche Darstellungen ohne weiteres erotische nennen dürfte. Vielmehr liegt es in der Art, wie diese Dinge gebracht werden. Man hat von den Frauengestalten Makarts gesagt, daß sie nicht nackt, sondern ausgezogen seien, und das ist ganz richtig. Auch Schwind oder Cornelius haben nackte Frauen gemalt, die aber durchaus unerotisch wirken, und es gibt anderseits Bilder von Klimt, die vollkommen gleichgültige Gegenstände behandeln und aus denen uns ein schwüler Hauch von lasterhafter Sinnlichkeit entgegenweht. In diesem Sinne ist ein Künstler, der vielfach als Erotiker gilt, Arthur Schnitzler, gar kein solcher. Die zahlreichen, dem Liebesleben entnommenen Motive, die er behandelt, sind ihm eigentlich nur Anregungen// für seine künstlerische Gestaltungskraft. In einigen seiner meisterlichsten Werke spielt die Liebe gar keine oder nur eine ganz nebensächliche Rolle, z. B. in Leutnant Gustl, in Professor Bernhardi, im Freiwild, in Literatur, in den Letzten Masken. Ja selbst der Reigen hat bei aller Gewagtheit des Themas seinen Schwerpunkt gar nicht im Erotischen — oder doch nur für diejenigen, die nichts von Kunst verstehen und die allerdings die kompakte Majorität ausmachen; vielmehr in der witzigen und kunstvollen Verflechtung und Führung der Motive, in der außerordentlichen Feinheit der psychologischen Beobachtung, in der sparsamen und dabei unglaublich frappanten Art, in der uns da Typen und Milieus vorgeführt werden. Es ist ja bezeichnend, daß der Autor das vor einem Vierteljahrhundert entstandene Werk damals als unverkäufliches Manuskript drucken ließ und an seine Freunde verschickte mit einer kurzen Vorrede, in der er sagte, er glaube, der Wert dieser Szenen liege „anderswo, als darin, daß ihr Inhalt den geltenden Begriffen nach die Veröffentlichung zu verbieten scheine“. Und er hat damit tausendmal recht! Die Kunst ist ihrem Wesen nach — wie die Natur— weder moralisch noch unmoralisch; sie ist amo­ralisch. Wenn die Wirkungen, die von dem Gegenstand einer Darstellung ausgehen, stärker sind als diejenigen, die lediglich vom Formalen dieser Dar­stellung ausgehen, so ist dies ein Be­weis dafür, daß entweder der Künstler nicht stark genug war, den Stoff zu be­wältigen, oder daß derjenige, der dieser Darstellung gegenübersteht, nicht im­stande ist, die künstlerischen Werte zu erfassen. Beide Fälle sind nichts Seltenes.

Trotzdem wäre es unrichtig, die psy­chologischen Wirkungen, die vom Stoff­lichen einer Darstellung ausgehen, als unkünstlerisch überhaupt abzulehnen (wie es seinerzeit die Impressionisten getan haben). Vielmehr wird sich der Künstler ihrer sehr wohl als Hilfe zu seinen künstlerischen Zwecken bedienen können. Und es ist sicher, daß die „psychotherapeutischen“ Wirkun­gen, von denen wir anfangs gesprochen haben, auch von den meisten großen und berühmt gewordenen Kunstwerken ausgehen, weil es eben für jeden großen Künstler, der zu­ gleich ein bedeutender Mensch ist, als charakteristisch gelten darf, daß er Gegenstände wählt, die von allgemei­nem menschlichem Interesse sind und bleiben.

In: Moderne Welt, H. 12/1922, S. 16-18.