Anitta Müller-Cohen: Das große Schweigen

Anitta Müller-Cohen: Das große Schweigen (1923)

                Wart Ihr schon allein in pfadloser Waldestiefe, als der letzte feiste Regentropfen fiel und plötzlich still ward? Launig schaukeln sich die Gräser und in allen Farben des Spektrums schimmert der Wald. Der Wald schweigt, wie das getränkte Kind, das im Schlaf lächelt. Es ist das Schweigen des kommenden Lachens.

            Nicht von diesem Schweigen will ich sprechen, in dessen Heimlichkeit ein neuer Lebenssprudel sich gebärt, nicht vom Schweigen der Natur, sondern vom Schweigen der Menschen. Und wenn die Menschen schweigen, dann wird nicht in Liebe und Lachen Leben geboren, dann entsteht in Haß und Jammer der Tod. Der Mensch, verstummt nur, wenn er tot ist. Und seine Gesellschaft hat auch nur solange Bestand, bis sie ihr Wort unablässig gegen Unrecht und Sünde erhebt: schweigt sie, so ist sie nicht mehr.

            Nicht als ob das Geschrei um uns zu wenig wäre. Mordlust, Entrechtung und Unterdrückung feiern seit dem Weltkrieg lärmender ihre Orgien, denn je. Diesmal aber scheint das Gezeter ohne Widerspruch zu bleiben. Die Quecksilbersäule des Antisemitismus, das Fieberthermometer Europas steigt hoch und immer höher. Aber kein Eugen Richter, Virchow, kein Nothnagel und keine Baronin Suttner ersteht, um das Wort im Namen des Gewissens der Gesellschaft zu erheben. Heute sehen wir keine Nichtjuden, die sich des hasserfüllten Wahnsinns schämen, wie bei dem Dreyfus-Prozess und bei der Ritualmordhetze von Tisza-Eszlar. Wenn man über das wogende Meer hinwegblickt, wird einem bange. Ist eine Gesellschaftsordnung überhaupt noch da, wo das Todesröcheln, der Hundertausende Ermordeten der Ukraine, der Klagelaut Hundertausender Pogromwaisen kein Echo erweckt? Man kann füglich daran zweifeln.

            Aber nicht in Kriegen und Massakern wird das Schicksal der Menschheit bestimmt, jeder einzelne trägt dazu bei, der Geschichte ihre Richtung zu geben. In den kleinsten Dingen wird die Sünde begangen, die sich dann zur Katastrophe auswachsen kann. Die unterschiedlichen Vereine „zur Abwehr des Antisemitismus“ hatten ihre Erfolge niemals in großen politischen Aktionen, die sie zu unternehmen niemals stark genug waren, sondern in der Begegnung der kleinlichen Ausbrüche des Judenhasses zu verzeichnen, und hatten so eine Detailarbeit geleistet, die von „Politikern“ wohl oft verspottet, aber deren Notwendigkeit doch anerkannt worden ist.

            Heute aber ist der Eifer, der zu dieser Kleinarbeit notwendig ist, erlahmt. Die jüdische Frau, auf die ja dabei am meisten zu rechnen ist, schweigt, und ihr Schweigen, wo Ehre und Recht des Judentums sozusagen „ungefährlich“ angegriffen wird, ist teilweise auch Ursache des großen Schweigens , das auf politischem Gebiet sich über den wütenden Orkan des Antisemitismus breit macht. Solange wir selbst uns verteidigten, fanden wir Beschützer unter den Nichtjuden. Die Assimilation, die Selbstaufgabe, das apathische Gehenlassen der Juden, bringt nicht den Antisemitismus, sondern den Philosemitismus zum Schweigen.

            Es ist wichtig, daß der einzelne im Judentum es begreift, wieviel auf sein Wort ankommt, welche Bedeutung der stolzen und charaktervollen Stellungnahme der namenlosen, kleinen Leute, der einzelnen zukommt, wenn es sich um eine Entgegnung auf die in der Luft wie Bazillen verbreiteten böswilligen Anstreuungen, Nadelstichen und Verspottungen handelt. Tag für Tag hört man im täglichen Leben von den Fehlern der Juden erzählen. Hat man mit einem Juden zufällig ein schlechtes Geschäft gemacht oder ist man einem auf der Straße gerade in schlechter Laune begegnet, so unterläßt man es nicht, zu erklären, daß einem bei den Juden das oder jenes nicht passe. Und da bekanntlich, was Nichtjuden meinen oder sagen, sehr bald auch von den Juden, die sich gerne an die Ansichten ihrer Umwelt anschmiegen, wiederholt wird, hört man auch von Juden selbst das Märchen über die Fehler der Juden. Naturgemäß wäre es die dankbarste und leichteste Aufgabe, zu zeigen, wie aus diesen kleinlichen und scheinbar harmlosen Verallgemeinerungen der große, weltumfassende Judenhaß seine Nahrung zieht. Und nicht weniger leicht und dankbar wäre es zu zeigen, mit welchem geringen Aufwand von Mut und Stolz diese im geheimen verheerenden Bazillen vernichtet werden können. Es nützt nichts, wenn einzelne mehr oder weniger hervorragende Persönlichkeiten sich darauf spezialisieren, auf die Anfeindungen stets die stereotype Antwort zu erteilen: Es ist  eine Lüge, es ist eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung. Man sah es an dem Beispiel des vor kurzem verstorbenen Dr. Josef Bloch, der mit dem Riesenapparat seines Wissens und seiner Klugheit nicht zu nachhaltigen Resultaten kommen konnte. Als Reichsratsabgeordneter hatte er sogar den politischen Einfluß gewonnen und konnte der antisemitischen Internationale öffentliche Niederlagen bereiten, die einfach vernichtend waren. Vernichtend im Auge der jüdischen und judenfreundlichen Zuhörer im Gerichtssaal, aber keineswegs vernichtend für die Antisemiten. Denen konnte man Lug und Trug und Fälschung hundert mal beweisen, man konnte die allergrößten Mächte zum Zeugen anrufen, ohne verhindern zu können, daß, nachdem das allerletzte liberale Provinzblättchen von dem „großen Prozeß“ zu schreiben aufgehört hatte, dieselben Lügen durch und für dieselben Menschen wieder in Umlauf gebracht werden.

            Keinerlei große gesellschaftliche oder politische Aktion wird je imstande sein, gegen den Antisemitismus mit nachhaltender Wirkung aufzutreten. Man kann nicht mit ungleichen Waffen kämpfen. Die Bekämpfung des Antisemitismus durch große Organisationen geschah stets mit den Mitteln des logischen Beweises, der ehrlichen Überzeugung und des Rechtes. Und diese Mittel versagten stets gegenüber den antisemitischen Waffen, die aus einem ganz anderen Eisen geschmiedet waren. Wenn man gegen Mörder mit Verleumdungsklagen, gegen gewerbsmäßig Rohlinge mit dem Wahrheitsbeweis kämpft, so kämpft man gegen einen Tiger mit der Kinderpistole. Es gibt nur zwei Arten der Bekämpfung der antisemitischen Umwelt für die Juden: entweder mit politischer Aktion gegen politische Aktion, mit wirtschaftlichen Maßnahmen gegen wirtschaftliche Maßnahmen und mit Gummiknüttel gegen Gummiknüttel – oder durch die Erziehung der Juden zur Selbstweht im täglichen Leben.

            Die erste Art eine bewußt jüdischen Politik würde von uns Juden die Aggressivität und Brutalität im Kampf verlangen, die ein vergeistigtes Volk, wie das unsrige, nicht mehr besitzt. Wir sind zu gut für unsere Gegner. Wenn auch von Zeit zu Zeit in überhitztem Eifer die Möglichkeit dieser Kampfmethode ins Auge gefaßt wird, so muß man im ganzen und großen zugeben, daß die realen Kräfteverhältnisse zwischen Juden und Antisemiten einen aggressiven Nationalismus unsererseits auch dann nicht in Frage kommen lassen würden, wenn in unseren Kreisen die Geneigtheit dazu vorhanden wäre. Wobei betont sein muß, daß auch von nationalistischen Politikern und Ideologen des Judentums der aggressive Nationalismus stets abgelehnt worden sei. So bleibt uns nur der zweite Weg.

            Die Selbstwehr im täglichen Leben ist dieser Weg. Ich verstehe darunter die Erziehung jedes einzelnen Mannes und jeder einzelnen Frau zum Kämpfer für das Judentum. Der Kampf des einzelnen ist kein aggressiver, denn er beschränkt sich auf ein den jüdischen // Interessen entsprechendes Verhalten im täglichen Leben. Der einzelne muß bei jeder noch so kleinen Gelegenheit seiner Umwelt zeigen, daß er ein Jude ist und daß er das ebenso sehr für eine Ehre hält, wie der Deutsche sein Deutschtum und der Franzose sein Franzosentum. Der Jude muß in seinem täglichen Leben auch nach außenhin sich die Selbstachtung gewöhnen. Innerlich wissen wir ja sehr wohl, daß jeder Jude zu dieser Selbstachtung disponiert ist, und es bedeutet das Verschwinden des letzten Restes des jüdischen Gefühls, wenn diese Selbstachtung schwindet. Aber nach außenhin stolz und aufrichtig sein Judentum zu bekennen und auch in den kleinsten Ereignissen des Alltags zu bekennen, das tut not, um den Kampf gegen den Antisemitismus aufnehmen zu können. Nicht durch Proteste und große Aktionen auf gesellschaftlichem und politischem Gebiete, sondern in dem Leben des einzelnen wird die Abwehr organisiert, und ihre Organisierung ist eine Frage der Erziehung der Juden zu selbstbewußten, charaktervollen und mit ihrem Volke innerlich verwachsenen Menschen.

            Solange der Einzeljude und die einzelne jüdische Frau ihr Wort auf der Straße, in der Markthalle, in der Schule und überall dort, wo Juden und Nichtjuden miteinander in Berührung kommen, nicht erhebt, solange die Rückgratlosigkeit als jüdische Eigenschaft gilt, muß das grausame Schweigen inmitten des antisemitischen Sturmes anhalten und wird eine Abwehr des Antisemitismus nicht möglich sein.

In: Menorah H.5 (1923), S. 17-18.