Stefan Zweig: Der Weg Hermann Hesses (1923)

Jede erreichte Höhe wird immer Wiederkehr eines Anfangs: so ist gerade der berühmte, der allbeliebte Künstler ähnlich und vielleicht noch mehr als der unbekannte in eine Art von Anonymität eingeschlossen; er lebt umkrustet, petrifiziert innerhalb des glatt-handlichen Begriffes, den sich die Welt von seiner Eigenheit geschaffen hat, und seine tiefsten Wandlungen und Verwandlungen gehen unter dieser Fläche gleichsam geheimnisvoll und für die anderen un­bemerkt vor sich. Die Öffentlichkeit starrt immer nur auf den Schatten, den der Frühschein ersten Erfolges von einem Dichter in die Welt geworfen hat, lange merkt sie es nicht, daß inzwischen der lebendige Mensch — bergan oder bergab — seiner einstigen Form entwandert ist. Eines der zeitgemäßesten Beispiele solchen ungenauen Sehens scheint mir die Wertung Hermann Hesses, über dessen allgemeiner, breiter, wohlgefälliger, ja bis ins Familienpublikum hineingewärmter Beliebtheit die merkwürdige, erstaunliche und bedeutende. Wandlung und Vertiefung seines dichterischen Wesens beinahe unbemerkt geblieben ist. Und doch weiß ich in der neueren deutschen Literatur kaum einen gleich sonder­baren, mit allen Windungen im letzten doch geraden Weg der inneren Entfaltung als den seinen.

Hermann Hesse hat vor etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren begonnen, ganz wie ein württembergischer Pastors­sohn zu dichten beginnt: mit Versen, mit sehr weichen, ver­sehnten Versen. Er saß damals als Buchhandlungsgehilfe in Basel, war bitter arm und allein: aber wie immer bei solchen sehnsüchtigen Dichtern, je bitterer das Leben, um so süßer die Musik und die Träume. […] //

Dann kam der Krieg, der — es brennt einem der Mund, ihm ein Verdienst nachsagen zu müssen — durch den Überdruck der Atmosphäre aus so viel Menschen das Entscheidende herauspreßte: er hat auch in Hesse den inneren Durchbruch gefördert. Sein ganzes Leben geriet damals aus­ einander: das eigene, helle Haus war längst verloren, die Ehe geendet, die Kinder in der Ferne; allein inmitten einer stürzenden Welt, zurückgestoßen in seiner zerschmetterten, romantischen Gläubigkeit an Deutschland und Europa, mußte er sich wieder wie ein Unbekannter, ein neuer Anfänger an das Werk stellen. Und aus einem prachtvollen Gefühl für diese tiefe Umackerung seines Wesens, für die vollkommene Erneuerung seines Schicksals, für den nochmaligen Lebensbeginn hat damals Hermann Hesse etwas getan, was seit absehbarer Zeit in Deutschland kein Dichter von Rang gewagt hatte (und jeder einmal in seinem Leben versuchen sollte): er hat das erste Werk seiner neuen Epoche nicht unter der gesicherten Flagge seines Namens, sondern in strengster Anonymität eines gleichgültigen Pseudonyms in die Welt geschickt. Plötzlich machte in literarischen Kreisen der Roman eines unbekannten Emil Sinclair Aufsehen: Demian hieß das sonderbar dunkle, tiefgründige Buch, das von einer Jugend in einer merkwürdig verästelten, bis in das Dunkel der Seele hinabgreifenden Art erzählte. Als ich es las, dachte ich an Hesse dabei, Mex ohne Vermutung, er könnte der //Autor sein: ein Schößling seiner Art schien mir dieser Sin­clair, ein junger Mensch, der Hesse viel gelesen, aber ihn doch an seelischem Wissen, an seltener Aufrichtigkeit weit überwachsen hatte. Denn hier fehlte gänzlich dies Aus­weichende, dies Zaghafte in der Psychologie, im Gegenteil, hier bohrte sich mit einer ahnungsvollen Überwachheit ein gesteigerter Sinn an das Geheimnisvolle des Lebens heran, die Wasserfarben der seelischen Erlebnisse, die früher mit zarten Pinselstrichen über die dunklen Schicksale hinzitterten, waren hier sinnlichen, warmen Tönen gewichen. Und mein Erstaunen war Respekt, als ich zwei Jahre später erfuhr, daß Emil Sinclair Hermann Hesse sei, aber ein neuer Hermann Hesse, der an sich selbst herangelangte, der wirkliche, der Mann Hermann Hesse, nicht der Träumer mehr.

Diese Grenze ist heute ganz deutlich und sie reicht tief hinab bis in das innerste Wurzelwerk seines Wesens. Nicht nur daß die Problematik des einst so sanften Betrachters eine tief hinabdrängende, dem Dunkel sich ansaugende ge­worben ist, daß von einem inneren Sturm seinen Menschen jeder sentimentale Hauch vom sprechenden Munde weggeweht ist – ganz im Unfaßbaren, im Schauen, in der Pupille waltet nun ein anderer, ein wissenderer Blick. Ge­heimnis umwaltet ja von je das unsichtbare Fortschreiten eines Künstlers in sich selbst hinein, dem Worte nicht beikommen: bei Malern ist es offenbarer, da sieht man geradezu sinnlich, wie ihnen mit einem Male – etwa, wenn sie nach Italien kommen oder zum erstenmal einen neuen Meister schauend erleben – nach langen Versuchen urplötzlich das Geheimnis des Lichtes oder der Luft oder der Farbe aufgeht, wie eine Epoche in ihrer Kunst beginnt. Bei dem Dichter ist solche Verwandlung minder tastbar, nur der Nerv kann sie erfühlen. Wenn Hesse heute einen Baum beschreibt oder einen Menschen oder eine Landschaft, so vermag ich’s eigentlich nicht zu erläutern, warum dieser sein Blick, sein Ton nun anders ist, voller, sonorer, klarer, vermag es nicht zu sagen, warum da alle Dinge um einen Grad wahrer und näher bei sich selber sind. Aber man lese doch selbst gerade jene ganz zufälligen Bücher nach Sinclair s Notizbuch (bei Rascher & Co., Zürich), und die Wanderung (S. Fischer), die beide mit seinen eigenen Aquarellen geschmückt sind und vergleiche sie mit seinen jugendlich-lyrischen Schilderungen. Hier ist alles Saft und Kraft in der Sprache und jene große Sparsamkeit, die sich nur die Fülle gestatten darf: noch wogt die alte Unruhe darin, nur jedoch gleichsam mit tieferem Wellengang. Aber das Reifste, das Reichste, das Eigen­artigste, was dieser neue Hesse bisher gegeben, ist sein Novellenbuch Klingsors letzter Sommer (S. Fischer), ein Werk, das ich mit bewußter Wertung zu dem bedeutendsten der neuen Prosa zähle. Hier ist eine seltene Verwandlung erreicht: das Sehen ist magisch geworden, es schafft gerade im Dunkel einen zitternden phosphoreszierenden Schein aus eigener Seelenkraft, der das Geheimnis der wirkenden Kräfte erhellt. Nichts umfängt es mehr flächenhaft und lau, dieses geballte funkelnde Licht, ihm wird das Leben schicksalshaft und dämonisch, eine elektrische Atmosphäre, die aus ihren eigenen Kräften sich ein abgründiges Leuchten schafft. In dem Lebensbilde des Malers Klingsor sind bewußt Van Goghsche Farben in Prosa umkomponiert, und nichts zeigt deutlicher den Weg, den Hermann Hesse gegangen – von Hans Thoma, dem schwarzwäldischen, idealistischen, flachlinigen Malerpoeten zu jener besessenen Magie der Farben, zu dem ewig leidenschaft­lichen Disput von Dunkel und Licht. Und je unfaßbarer, vielfältiger, geheimnisvoller, je magischer, verworrener und auflösender er nun die Welt empfindet, um so sicherer, um so klarer steht der Wissende nun in sich selbst; die merkwürdige Reinheit der Prosa, die Meisterschaft des Aussagens gerade dieser unsagbarsten Zustände gibt Hermann Hesse heute einen ganz besonderen Rang in der deutschen Dichtung, die sonst nur in chaotischen Formen oder Unformen, im Schrei und der Ekstase das Übermächtige zu schildern und zu reflektieren sucht.

Von dieser Sicherheit, dieser Sparsamkeit ist auch Hesses letztes Werk erfüllt, seine indische Dichtung Siddhartha (S. Fischers Verlag). Bisher hat in seinen Büchern Hesse immer über sich sehnsüchtig hinausgefragt in die Welt: hier versucht er zum erstenmal zu antworten. Seine Parabel ist nicht hochmütig oder weise-lehrhaft, sie ruht in einer gelassen atmenden Betrachtung: niemals war sein Stil klarer, durch­sichtiger, unbeschwerter als in dieser beinahe sachlichen Dar­stellung der geistigen Pfade eines Menschen, der ungläubig-gläubig immer näher an sich selbst gelangt. Nach den düsteren Melancholien, den purpurnen Zerrissenheiten des Klingsor-Buches schwingt sich hier die Unruhe zu einer Art Rast: eine Stufe scheint hier erreicht, von der Ausschau weit in die Welt verstattet ist. Aber man spürt: es ist noch nicht die letzte. Denn das Wesentliche des Lebens ist nicht seine Ruhe, sondern seine Bewegtheit. Wer ihm nahe bleiben will, muß in ewiger Wanderschaft des Geistes, in ewiger Unruhe des Herzens ver­harren, jeder Schritt dieser Wanderschaft ist gleichzeitig ein Nahekommen zu sich selbst. Selten habe ich das im Umkreis unserer deutschen Literatur stärker bei einem gegenwärtigen Dichter empfunden als bei Hermann Hesse. Ursprünglich gewiß minder begabt im Sinn von Begnadung als andere und weniger durch eingeborne Leidenschaft an das Dämonische des Daseins hingedrängt, ist er allmählich durch diese tiefe Ruhelosigkeit näher an sich selbst, tiefer an die wahre Welt gelangt als alle Gefährten seiner Jugend, und weiter über seinen eigenen Ruhm, die allgemeine Beliebtheit hinaus: seine Sphäre ist heute noch nicht ganz zu umgrenzen und ebenso­wenig seine letzten Möglichkeiten. Aber dies ist gewiß, daß alles dichterische Werk, das heute nach solcher innerer, gleich­zeitig entsagender und beharrender Verwandlung von Her­mann Hesse ausgeht, Anspruch auf äußerste moralische Geltung und unsere Liebe hat, daß man hier einem mehr als Vierzig­jährigen, bei aller Bewunderung für das meisterlich Getane, noch die gleiche Erwartung wie einem Beginnenden entgegenbringen darf und soll.

In: Neue Freie Presse, 6.2.1923, S. 1-3.

Paul Zifferer: Der Untertan (1919)

Wer einmal später in die furchtbare Zerrissen Zeit wird Einblick gewinnen wollen an der Deutschland nach seinem verhängnisvollen Niederbruche im Weltkriege litt, kann nichts Besseres tun, als die Darstellungen der beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann miteinander zu vergleichen, denen so hoher Rang unter den deutschen Erzählern zukommt und die von verschiedener Seite her das Schreckliche, dessen Zeugen sie waren, jeder in seiner Art zu erklären und künstlerisch zu fassen suchen. Die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann sind vor kurzem an dieser Stelle besprochen worden. Von Nietzsche und Wagner schreiben sie sich her, doch von der Leidensspur des Weltkrieges sind sie gezeichnet. Thomas Mann selbst nennt sie die Darstellung eines innerpersönlichen Zwiespalts und Widerspruchs: „daß sie es sind, das macht dies Buch, welches kein Buch und kein Kunstwerk ist, beinahe zu etwas anderem: beinahe zu einer Dichtung.“ Das Wesentliche an dem Werke Heinrich Manns aber — merkwürdigerweise des älteren unter den beiden Brüdern — scheint gerade, daß es keine Dichtung ist, trotzdem es sich in Romanform kleidet, sondern eine wilde, zornige Anklage, die mit allem Hergebrachten und Vergangenen auf das gründlich bricht und mit dem eigenen früheren Wirken nichts mehr zu schaffen haben will. Zwecklose Kunst, freies Spiel des Einfalls und der Gestaltung sind ihm etwas Verhaßtes; nicht mehr Flaubert, sondern Emile Zola steht ihm zuhöchst. Wehmütiges Entsagen liegt dem Autor fern, sein ganzes Buch ist ein einziges leidenschaftliches J’accuse.

Der Untertan – schon der Titel scheint als Schimpfwort aufzufassen, das dem traurigen Helden der Erzählung mit auf den Weg gegeben wird – der „Untertan“ also ist der junge Diederich Heßling, Sohn eines kleinen Papierfabrikanten in dem preußischen Städtchen Netzig, der selbst einmal Büttenschöpfer gewesen ist, zur Zeit, da jeder Bogen noch mit der Hand geformt werden mußte, und der dazwischen alle Kriege mitgemacht hat, bis er nach dein letzten — 1870— als jeder Geld fand, eine Papiermaschine kaufen konnte. Er persönlich zählt die Bogen nach. Die von den Lumpen abgetrennten Knöpfe dürfen ihm nicht entgehen; der kleine Diederich läßt sich von den Arbeiterinnen solche Knöpfe zustecken, damit er sie nicht angibt, wenn sie selbst einige mitnehmen. Der Vater, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, führt methodisch den Stock. Die Mutter nährt den Sohn mit Märchen; er achtet die verträumte und geduckte Frau nicht. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst scheint es dem Knaben zu verbieten. In der Schule bleibt Diederich den scharfen Lehrern ergeben und willfährig, den gutmütigen spielt er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmt. Mit viel größerer Genugtuung spricht er von einer Verheerung in den Zeugnissen, vor einem riesigen Strafgericht. Denn Diederich ist so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen Organismus, der das Gymnasium ist, ihn beglückt, — wie später die bloße Zugehörigkeit zum Staate ihn beglücken wird — daß die Macht, die uralte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhat, sein Stolz ist. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzt man Katheder und Tafel. Diederich umwindet sogar den Rohrstock.

Es ist wichtig, den jungen Diederich Heßlich so in seiner Kindheit schon zu beobachten. Denn hier sind alle Elemente seines Wesens, die sich später verwischen und hinter Masken verbergen, klar und heftig bloßgelegt. Wir erkennen voll den Haß, mit dem hier der Dichter seinen Helden ins Leben hinausstößt. Flaubert, dem vormals Heinrich Mann tiefste, künstlerische Ehrfurcht bezeigte, stellt es als oberstes Gebot aus, der Dichter müsse alle seine Geschöpfe mit der gleichen Liebe umfassen, die Guten wie die Bösen, er müsse in allen Erscheinungen gleichmäßig wohnen, im grausamen Wüten eines Cäsaren, wie in der aufflackernden Empörung der Massen, im wilden Branden des Meeres wie im Duft einer Blume und im leisem säuselnden Atmen des Windes. Heinrich Mann aber nimmt von Anbeginn sichtbar Partei gegen seinen Helden. Er ist ihm in der Seele zuwider, er verachtet ihn, wie der alte Heßling einen Sohn verachtet und er spart auch im künstlerischen Sinne nicht mit Stockstreichen.  Man kann sich in der Tat nicht leicht ein erbärmlicheres Geschöpf vorstellen als diesen Diederich Heßling: wie er als Student in Berlin sich einer Burschenschaft verschreibt, um sich Abend für Abend zu betrinken, wie er ein junges Mädchen, das ihn liebt, verführt und dem Vater dann von oben herab die Tür weist, wie er dabei von einem häßlichen und gemeinen Strebertum erfüllt ist, sich voll innerlicher Angst zu ungefährlichen Mensuren stellt, aber schon beim Einjährigenjahr drückt, und wie er am Ende doch böse und widerwillig seine Prüfungen besteht, weil diese nun einmal von der unsichtbaren „Macht“, die er scheu verehrt, als Hindernisse auf seinen Weg gestreut sind, wie die Prügel des Vaters.

Dann aber tritt in sein Leben die große entscheidende Begebenheit, die ihn um und um wandelt und zur Höhe führt: Diederich Heßling sieht zum erstenmal den Kaiser. Mitten in Demonstrationszügen erregter Massen ereignet sich dies. Unter den Linden vereinigen sich die Haufen finsterer Menschen, rinnen, so oft sie getrennt werden, wieder zusammen, erreichen das Schloß, weichen zurück und erreichen es wieder, stumm und unaufhaltsam, gleich übergetretenem Wasser. Da auf einmal bemerkt Diederich, wie sich der Knäuel, in den er selbst eingekeilt ist, allmählich auflöst und nach einer bestimmten Richtung fortgerissen wird: ,,Dunkles Geschiebe ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser… Nichts hatte sich geändert, als daß er da war – und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld.“  „Hurra!“ schreit Diederich, denn alle schreien es, und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schreit, gelangt er jäh bis unter  das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm reitet der Kaiser hindurch. Diederich kann ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blicken seiner Augen; aber ihm verschwimmt alles, ein Rausch erfaßt ihn, läßt ihn den Hut hoch über allen Köpfen schwenken.  Auf dem Pferd dort unter dem Tore der siegreichen Einmärsche und mit Zügen, steinern und blitzend, ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen, gegen die wir nichts vermögen, weil wir sie alle lieben, die wir im Blute haben, weil wir die Unterwerfung darin haben.

Die Absicht des Autors ist unverkennbar. Er will zeigen, wie die Gestalt des Kaisers auf armselige Tröpfe gleich diesem jungen Diederich Heßling wirkte und – der Autor läßt es durchscheinen – wirken mußte. Er führt den „gebornen Untertan“, den geduckten, zur Unterwerfung wie um Unterwerfen gleichbereiten Menschen, mit der höchsten Spitze der Macht zusammen, die ihn magisch anzieht, mit der Erscheinung des jungen Kaisers, die ihn berauscht und niederwirft in einem – und dies buchstäblich: er stolpert nämlich in eine Pfütze. Seit diesem Augenblick spiegelt sich der Untertan nur noch im Bilde der höchsten Macht, die seinen Sinn ausschließlich erfüllt und sich so auch wieder in ihm spiegelt. Der junge Doktor Heßling kehrt nach Netzig zurück, wo sein Vater indessen gestorben ist, und fühlt sich verpflichtet, in seinem ererbten  Reiche, nämlich der kleinen Papiermühle, gleich ein straffes Regiment einzuführen; er entläßt den verdienten Geschäftsleiter, den alten Sötbier, genau so wie der Kaiser den eisernen Kanzler entlassen hat, er bürstet seinen Schnurbart in die Höhe, versucht es, seine Augen blitzen zu lassen, und hält Ansprachen, wie die folgende: „Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen. Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich.“

Der Feind aber, den es zu zerschmettern gilt, ist der alte Herr Buck, die einzige sympathische Persönlichkeit des ganzen Romans wie der keinen Stadt Netzig. Diederich ist in dem Dunstkreis scheuer Verehrung aufgewachsen die alle ringsum für den hochverdienten Mann empfanden. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen wie die anderen, sondern eine weißseidene Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart. Wie langsam und majestätisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöße hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gefängnis von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: „Das gehört dem Herrn Buck.“ Er mußte ungeheuer reich und mächtig sein. Alle, auch der Vater Diederichs, entblößten vor ihm lange den Kopf. Die Stufen vor dem Hause des alten Herrn Buck waren abgewetzt von den von den Füßen der ganzen Stadt und von den Vorgängern dieser Füße: Das war ein Mann, hieß es, einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte. Der alte Buck war schon achtundvierzig dabei gewesen, er war sogar um Tode verurteilt worden. „Ja, daß wir hier als freie Männer sitzen können,“ sagen die Bürger von Netzig „das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck.“

Diese Achtung, die dem freisinnigen Manne von der Dankbarkeit einer ganzen Stadt gezollt wird, ist dem jungen //Heßling ebenso zuwider wie die eigene geduckte Verehrung, die noch heimlich in seiner Erinnerung sitzt, und die eigene Dankbarkeit, die er dem alten Herrn Buck schuldet. Denn dieser nimmt sich seiner in der hilfreichsten Weise an, leistet mit seinem alten, gütigen Lächeln die Dienste, die von ihm auf allerlei Umwegen gefordert werden, und es gilt darum, menschlichen wie bürgerlichen Verrat, wenn Diederich seinen Wohltäter wie den Wohltäter der Stadt zu besiegen und zu „zerschmettern“ beschließt. Unbeirrt geht aber der junge Heßling ans Werk; er, der sich vom Militärdienst heimlich gedrückt hat, gründet nun Kriegervereine, beruft Versammlungen ein, in denen er gegen den Freisinn wettert. Um seiner Rede Glanz u verleihen, improvisiert er Kaiserworte, die erstaunlich echt klingen, ja für echt gehalten werden, auch den Weg nach Berlin finden und kein Dementi erfahren. Mit wilden Ellenbogenstößen schafft er sich Raum, repräsentiert, schreitet einher, drückt auf die Kleinen, verhält sich mit den Großen, weiß um sich den Schein zu verbreiten, als führe von ihm, dem Untertan, wirklich ein geheimes, unsichtbares Band zu den höchsten Gewalten, zu denen er ehrfürchtig emporblickt und wird – zum eigenen, entsetzten Erstaunen – vom Schicksal selbst unterstützt, das den gütigen alten Herrn Buck mit den schändlichsten Tücken verfolgt, bis er zur Seite geschoben, in die Ecke gedrückt ist, um dem Aufstieg des jungen Heßling Raum zu geben. Von der Enthüllung eines Siegesdenkmals weg, die ihm selbst zur Feier ward, betritt Heßling das Sterbezimmer des alten Herrn. „Respekt vor einem tapferen Feind, wenn er das Feld der Ehre deckt. Gott hat gerichtet.“ … das ungefähr sind seine verlogenen Gedanken. „Diederich machte sich noch strammer, wölbte die schwarzweißrote Schärpe, steckte  die Orden vor, und für alle Fälle blitzte er. Der Alte ließ. auf einmal den Kopf fallen, tief vornüber fiel er, ganz wie gebrochen. Die Seinen schrien auf: „Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!“

Dies also ist der Roman vom Untertanen, den uns Heinrich Mann als den Erzfeind des Menschentums vorstellt, // als das Böse schlechthin in der Welt. Dem Buch ist eine Notiz vorausgeschickt, die besagt, das Werk sei noch vor dem Kriege, nämlich Anfang Juli 1914, abgeschlossen worden. Es fällt uns aber schwer, dies so wörtlich zu nehmen. In der Idee mag das Buch schon zu jener Zeit vollendet gewesen sein; die Ausführung aber zeigt eine solche Leidenschaft, einen so heftig geballten Grimm, daß der Krieg als treibende Kraft unbedingt Voraussetzung scheint. Dies aber ist der stärkste Einwand, der sich dem Leser aufdrängt: vor dem Kriege wäre der Roman in dieser Schärfe nicht möglich gewesen, während des Krieges hätte er eben wegen seiner Schärfe nicht erscheinen können, und jetzt kommt er eigentlich schon zu spät. Was gestern noch als eine kühne, unerhört verwegene Tat erschienen wäre, nimmt sich heute wie ein mit elementarer Wucht unternommener Stoß in die Luft aus. Kaiser Wilhelm hat abgedankt und die Ereignisse sind blitzschnell vorgestürmt. Die Aktualität, von der das Buch Heinrich Manns seine beste Kraft herholte, kehrt sich nun gegen das Werk, zeichnet allzufrühe Runzeln in seine Züge. Gewiß hat sich der Autor Höheres vorgesetzt! Er wollte den verhängnisvollen Einfluß zeigen, den die Figur des Kaisers mit ihren stets klirrenden, dem Theatralischen zugeneigten Gesten auf eine ganze Zeit übte; — wie sie insbesondere auf Leute vom Schlage dieses Diederich Heßling wirkte, die als „Untertanen“ zur Welt kamen und ihr äußeres Gehaben ganz nach dem Ebenbilde des höchsten klirrenden Gipfels der Macht einrichteten. Für solch umfassendes Zeitgemälde aber sind die Gestalten, die Heinrich Mann an uns vorüberführt, allzu verzerrt; die Wut führt ihm den Griffel, sie zeichnet nicht, sondern karikiert.

Rings um diesen Doktor Heßling wird eine ganze Welt von Niedertracht lebendig: Staatsanwälte, die das Recht beugen, um ihren Vorteil zu wahren, verbuhlte Priester, Bürgermädchen, die sich wie Dirnen gebärden, hohe Verwalter der Ordnung, die sich zu geheimen Raubzügen verbinden und nichts anderes im Sinn führen, als ihren Profit. Auch vor dem Hause des verehrungswürdigen Herrn Buck macht diese Flut von Schlechtigkeit nicht Halt. Sein Sohn ist ein Lump, seine Tochter reist mit ihrem Freunde nach Italien, während ihr Gatte – wenn auch nur durch die Umtriebe Heßlings – ins Gefängnis wandert. Welch ein trauriges Familienleben! Und selbst die sozialdemokratische Partei, die als Rächerin all dieses Furchtbaren im Hintergrunde der Erzählung sichtbar wird, mag wohl mit dem Repräsentanten, den ihr Heinrich Mann in seinem Buche auswählt, nichts zu schaffen haben. Dieser Werkmeister Napoleon Fischer wird uns keineswegs als ein aufrechter und rechtschaffener Mann geschildert. Pfiffigkeit und Tücke bringen ihn zur Macht; er kämpft nicht gegen Heßling sondern er paktiert mit ihm. Er ist sein Werkzeug und sein Helfer. Der Teufel wird durch Beelzebub ausgetrieben. Man gewinnt den Eindruck, daß hier dem Autor nirgends die gerade Linie gelingen will. Alles steht schief, die Hä user wanken, eine Welt ist zum Zusammenbruche reif. Nicht die kleine Stadt Netzig wird gemalt – denn in ihr kann so viel Bosheit nicht Raum finden und wäre sie der verworfenste Flecken der Erde – sondern ein düsteres Inferno, in künstlerischer Leidenschaft erschaut, aber doch nur eben Vision oder bessert noch Angsttraum.

Die Tragödie des wilhelminischen Deutschland, die Heinrich Mann schreiben wollte, ist er uns am Ende doch schuldig geblieben. Was er schuf, ist ein Satyrspiel voller Bitterkeit Die Tragödie selbst entschleiert sich einem erst, wenn man dem verneinenden Werke Heinrich Manns das wehmütig bejahende seines Bruders Thomas gegenüberstellt. Die Durchdringung beider erst gäbe das große, befreiende Kunstwerk, das wir erwarten. Aber vielleicht ist dazu all das schreckliche Geschehen, aus dem es aufsteigen soll, noch zu nahe. Die Dichter selbst sind noch Partei, klagen an und hassen, wo es doch ihre Sache wäre, sich über die Zeit zu erheben und endlich – endlich zur Liebe heimzufinden.

In: Neue Freie Presse, 19.3.1919, S. 1-3.

Alfred Winterstein: Ein Goetheroman [zu A. Trentini](1923)

Der historische Roman weist gegenüber anderen Erzeug­nissen dieser Kunstgattung ganz bestimmte Vor- und Nachteile auf. Seine Helden brauchen nicht erst vom Dichter geschaffen zu werden, sondern leben — häufig als unsere Ideale — bereits in uns. Wer die Erinnerung an diese Gestalten kräftig und mit leidlicher poetischer Fertigkeit zu beschwören weiß, darf unseres Beifalls gewiß sein. Ähnlich geht eine unfehlbare Wirkung, die allerdings nicht rein künstlerischer Art ist, sondern durch die begleitenden Vorstellungen bedingt wird, von Szenen aus dem Theater aus, in denen eine große historische Persönlichkeit auftritt oder mindestens — dies ist bisweilen noch wirksamer — erwartet wird (zum Beispiel Napoleon in Schnitzlers jungem Medardus“). Was in solchen Fällen auch der Künstler uns schuldig bleiben mag, dichten wir, die Leser, hinzu. Je vertrauter uns nun die Persönlich­keit des Helden ist, desto leichter fällt uns diese Ausgabe. Den Vorteilen, die dem Schöpfer eines historischen Romans so von vornherein erwachsen, steht die um so größere Schwierigkeit gegenüber, durch die Fabel, das Gewebe der Handlung an sich den Leser zu fesseln, da diese, soweit sie nicht allzu weit den Rahmen der Biographie verläßt, dem gebildeten Publikum wohlbekannt ist, und zwar in der Regel um so mehr, je näher uns der Held zeitlich steht. Gehört die historische Persönlichkeit gar der jüngeren und jüngsten Geschichte an, so sind der Erfindungsgabe des Autors ziemlich enge Grenzen gesteckt. Der große Künstler allein vermag dann durch die Art seiner Behandlung des Stoffes allen diesen Hemmnissen entgegenzuwirken. Weniger Menschen Leben ist dem gebildeten Deutschen so vertraut, von philologischen Spürnasen auf Grund der hier ergiebiger als sonst fließenden Quellen so genau, so bis in jede kleinste, ja nichtige Einzelheit durchforscht worden wie das Leben Goethes. Wo bleibt da Raum für einen nachschaffenden Dichter, sofern er Anspruch erhebt, mehr als ein Biograph zu sein? So erklärt es sich wohl, daß wir bis vor kurzem, wenn ich recht unterrichtet bin, keinen Goethe-Roman in deutscher Sprache besessen haben. (Des Engländers Lewes „Life of Goethe“ ist wohl eine Art romanhafter Biographie.) Die Lorbeern Walter v. Molos, der mit seinem Schiller-Roman (Hermann Kurz schrieb schon in den vierziger Jahren einen Roman „Schillers Heimatsjahre“) einen großen, in der Zeit begründeten Publikumserfolg er­rang, ließen offenbar einen anderen österreichischen Dichter nicht schlafen: Albert v. Trentini veröffentlicht nun einen „Goethe“, den „Roman von seiner Er­weckung“. Er behandelt nur einen Abschnitt aus dem Leben des Dichters, die Zeit von Juni 1786, als in Goethe den Entschluß, aus Weimar nach Italien zu fliehen, bereits übermächtig wurde, bis zur Rückkehr aus Italien im Juni 1788. In dieser Periode seines Lebens erfolgte nach elf unsterblichen Jahren Goethes Ablösung von Frau v. Stein, seinem stärksten Gefühlserlebnis, seine Wiedergeburt zu sich selbst aus dem fremden Banne, sein Heranreisen zur Klassizität, der Uebergang vom Titanen zum Weisen. Psycho­logisch ließe sich diese Wandlung auch so kennzeichnen, daß Goethe der Fixierung an die ältere Frau, die eine Art Mutterersatz für ihn darstellte („Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau“), entfloh, um sich durch die Reise nach Italien mit seinem Vater zu identi­fizieren, dessen schönste Erinnerung eine Reise in dieses Land blieb. In das Ich-Jdeal des Künstlers, das Goethe nunmehr ausschließlich Leitstern war und dessen weiteres, mehr sinn­liches als seelisches Verhältnis zu den Frauen (Christiane Vulpius) entscheidend bestimmte, sind also ganz deutlich Züge des Vaters eingegangen.

Diese interessante, wenn man will, typische psychologische Konstellation im Leben Goethes hat nun Trentini zum Vor­würfe seines Romans gewählt und mit dichterischer In­tuition durch die mannigfaltigen Episoden, die sich in Weimar, Karlsbad, Schneeberg, Venedig, Rom, Neapel, Palermo, Girgenti und Taormina abspielen, überall durchblicken lassen. Ich gestehe, daß ich mich nicht ganz leicht in die Lektüre des Buches hineingefunden und geschickt habe. Hegte ich am Anfang ein wenig die Befürchtung, daß ich es mit einem, jener historischen Strickstrumpfromane zu tun hatte, wie sie es zu Zeiten der seligen Luise Mühlbach und des Gregor Samarow das Entzücken des lesenden Publikums bildeten, so überraschte mich im weiteren Fort­gange eine gewisse nervös-unruhige, betont moderne Technik, ein flimmernder Impressionismus, etwas Wirr-Bilderwütiges, das mir zu dem Goethe, wie ich ihn sah und wie er mir aus der „Italienischen Reise“ und den Briefen aus Italien entgegentrat, nicht recht zu stimmen schien. Auch in sprachlicher Beziehung gab es genug Krasses, Triviales, Eigenmächtiges, Parodistisches, das in einem schmerzlich empfundenen Gegensätze zu Goethes klarer Schachmeister­schaft stand. Aber daneben bannten knappe Szenen, Gesichts von wirklichem Atemrhythmus getragene bildkräftige Sätze, wie sie nur einem wirklichen Dichter gelingen, so daß ich das Buch, das ich soeben kopfschüttelnd fortzulegen beschlossen hatte, immer wieder erwärmt und innerlich angerührt fort­ las, bis das heftig hin und her gezogene Gefühl sich zuletzt beruhigte und entschieden sagte: Hier hat einer entschlossen wie Jakob mit dem Engel gerungen, damit ihn sein steiles Werk segne.

Eine Schwierigkeit bestand für Trentini zunächst ein­mal darin, den im Roman durchlaufenen Zeitraum von zwei Jahren mit Geschehnissen, die den Leser interessieren, aus­zufüllen. Was in den Quellen zu Goethes Leben auch nur im Keime oder andeutungsweise vorlag, mußte dichterisch entwickelt und ausgestaltet werden. Diese Aufgabe hat der Dichter mit bewundernswerter Gründlichkeit und Erfindungs­kraft gelöst. Ein Beispiel. So viel ich weiß, hat Goethe die Anregung zu seiner leider nur als Fragment vorhandenen „Nausikaa“-Tragödie nicht aus einem bestimmten Erlebnis in Sizilien geschöpft. Es ist aber immerhin psychologisch möglich Trentini hat nun Goethe-Odysseus in starker Anlehnung an die Nausikaa-Episode in der Odyssee ein Liebesabenteuer mit einem Mädchen aus Girgenti erleben lassen. Die beteiligten Figuren wandeln wirklich vor unserem inneren Auge; es bleibt nur auffallend, daß der Selbstmord der Jungfrau von Goethe gar so bald überwunden wird, was den Zug des kalten Egoismus in seinem Charakter unnötig unterstreicht.

Trentini unterbricht die Darstellung der Szenen, der Außenwelt von Zeit zu Zeit durch die Schilderung von Visionen, die Goethe gehabt haben soll. Diese phantastische Gesichte sind aber zumeist recht unverständlich und ohne zwingende Kraft, ja stellenweise geradezu geschmacklos. Einem mythischen alten Weibe, dem Goethe beim Poseidon-Tempel in Paestum begegnet, werden beispielsweise Aus­drücke in den Mund gelegt wie: „Ich könnte euch Ge­schichten erzählen! Geschichten!“ und „Ausgerechnet!“ Um die handelnden Personen zu charakterisieren und über tote Strecken hinwegzuhelfen, läßt der Autor ferner Goethe und die anderen wahre Wortkaskaden über Kunst, Politik, Urpflanze und ähnliches reden. Bei einem Menschen wie Goethe, dessen Gespräche uns zum Teil überliefert sind, ist es nun nicht zu vermeiden, daß man einen strengeren Maß­stab an die psychologische Wahrscheinlichkeit der erfundenen Gespräche legt als bei einer anderen Persönlichkeit.

Lebendiger als die meisten Bilder von Goethes italienischer Reise, als die Bilder der Landschaft und der Menschen haben aus mich die Szenen gewirkt, deren Schau­platz Weimar ist. Wir glauben in der Tat, Frau v. Stein, Goethe, Karl August, Herder, Knebel und wie die übrigen Gestalten aus dem kleinen höfischen Kreise heißen, vor uns zu erblicken: im Zimmer, im Garten, in den winkeligen Gäßlein oder auf dem Lande draußen um die Residenz. Die „Steinin“, diese unsinnliche, herrschsüchtige, schöngeistige Frau, die Goethe in die Tiefen der Menschlichkeit nie zu folgen und deshalb den währen und ganzen Goethe nie zu erkennen vermochte, scheint mir überhaupt eine der best­gezeichneten Figuren des Romans zu sein. In der Schilderung ihres gequälten, zwischen Ablehnung und Liebe schwankenden Seelenzustandes nach Empfang der Nachricht, daß Goethe aus Italien augekommen, ist sogar etwas, was ergreift, und mit innerer Bewegung folgt man am Schlüsse der Darstellung des endgültigen Bruches zwischen den beiden entfremdeten Menschen. „Eine Liebe halt‘ ich, sie war mir lieber als alles! Aber ich hab‘ sie nicht mehr!— Schweig und ertrag den Verlust.“ Das herzinnige Verhältnis Goethes zu Fritz v. Stein, seinem Schützling, das auch Trentini mit schöner Empfindung behandelt, hat diese Liebe überdauert und rührend erscheint es und bedeutsam, daß nach Jahren die tiefgekränkte Frau erst über Goethes und Christianens kleinen Sohn August, den sie liebgewonnen, wieder den Weg der Freundschaft und der Wertschätzung zu dem ehemals Geliebten findet.

In Trentinis Roman ist noch nichts von jener müden Herbstklarheit zu verspüren, in der zwei alternde Menschen einander artig die Hände reichen: hier atmen glühende Menschen, Klopfen in Ekstasen und Delirien maßlose Herzen. Die Leidenschaft des Buches, die uns über manche Bedenken hinweg mitreißt, scheint mir seinen eigentlichen Wert aus­ zumachen, jene Leidenschaft Trentinis für Goethe, die uns von seiner eigenen Spiegelung immer wieder gebieterisch auf Goethes Lebenswerk zurückweist.

In: Neue Freie Presse, 1.7.1923, S. 23.

Julian Sternberg: Die Judenfrage im Roman (1922)

Rudolf Hans Bartsch: Seine Jüdin oder Jakob Böhmes Schusterkugel.

Das neue Buch Rudolf Hans Bartsch zeigt auf dem Titelblatt das Kreuz und den Stern Davids in inniger Verschlingung. Das Kreuz, wohlgemerkt, nicht das Hackenkreuz. Dieser Roman ist keine Tendenzschrift. Philosemiten und Antisemiten dürften ihn mit gleicher Entschiedenheit ablehnen, und sein Dichter, den bisher die linden, schmeichelnden Wellen der Publikumsgunst auch dort sanft und wohlig umspülten, wo er, sicher gemacht durch seine Erfolge, selbst davor nicht zurückschreckte, Unfertiges und Unreifes zu bieten, wird in Zukunft von Partei wegen gleichermaßen in den Proskriptionslisten der Judenknechte und der Judenfresser geführt werden. Derart hat Bartsch eine gewiß nicht gering zu schätzende Probe von Mut und Bekennertreue erbracht. „Seine Jüdin“ ist kein Pamphlet und weder von den einen noch von den anderen als Propagandaschrift zu gebrauchen. Leider ist der Roman deswegen kein Kunstwerk geworden. Wer „Seine Jüdin“ geschrieben hat, mag meinetwegen Anspruch erheben dürfen auf Tapferkeitsmedaillen aller Grade, aber nicht auf ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft. Der Dichter hat das richtige Empfinden gehabt, daß sich eine uralte Frage dringlicher und gebieterischer aufrichte als je zuvor; aber er hat keine Antwort auf sie gefunden. Und hier ist mit dem Gemeinplatz wenig gedient, daß keine Antwort unter Umständen auch eine Antwort sei. Weil der Generalstabsoffizier Christoph Hebedich, der aus Schlesien stammt, aus Jakob Böhmes, des sinnierenden und weltverbessernden Schusters, versonnener Heimat, sich mit seiner Jüdin nicht auf die Dauer finden konnte, ist keineswegs bewiesen, daß zwischen Arier‘ und Semitentum für alle Zeiten unüberbrückbare Abgründe gähnen. Bartsch läßt es selbst zweifelhaft, ob diese tiefen Schlüchte, über die auch der beschwingte Fuß erlesener und auserwählter Einzelwesen nicht hinüberzukommen vermag, den Juden von allem Nichtjüdischen abtrennen, oder ob nur der Deutsche, der Germane, dessen Seelenkurve sich wie eine Parabel mit ihren Enden im Grenzenlosen verliert, dem Juden unweigerlich wesensfremd gegenübersteht, dem Bartsch den gierigen Hiersein willen als schimpflichen Vorwurf ins Gesicht schleudert. Gretel, die Ausnahmejüdin, verläßt Christoph. Sie nimmt ihm die Kinder, die sie ihm geboren hat, und findet sich zu einem neuen Bund mit einem italienischen Offizier, der heiter ist wie ein italienischer Abend, der zu lachen versteht und anzbeten, dem der Rassenbegriff fremd ist, der keinen Unterschied macht zwischen Jud und Christ. Der Romane hat nichts als Menschentum, wo sich der Germane mystisch eingesponnen hat in wunderlicher Gotik.

Derart scheint mitten im Roman die Fragestellung nicht unwesentlich verschoben. Nicht mehr die Mischehen stehen zur Diskussion, sondern die Dichterhände suchen den Knäuel deutschen Wesens zu entwirren, von dem der kranken und siechen Welt so lange und mit so viel Selbstgefälligkeit die Genesung versprochen wurde. Was freilich Bartsch als des deutschen Wesens innersten Kern angesehen wissen will, scheint kaum als das geeignetste Heilmittel. Er erblickt den Fluch der Menschheit darin, daß sie an sich, und zwar an sich allein, glaubt. Dem Judentum kreidet er als Blutschuld an, daß es die große Lüge in die Welt gesetzt habe, der Mensch sei das Wichtigste, ja er sei alles. Diese Judenlüge habe an Jesus Christus ihren fortdauernden Anwalt gefunden, der als Unvollendeter, als Dreißiger ans Kreuz geschlagen wurde, bevor ihm die indische Weisheit aufgegangen war, daß Tier und Pflanze, Wolke und Stern unsere innigsten Brüder sind, uns völlig gleich und eines mit uns. Diese Auffassung verficht aber bei Bartsch jener Generalstabsoffizier, der sich nach Österreichs Zusammenbruch auf den Schusterdreifuß setzt, nach Jakob Böhmes Schusterkugel langt, ein Schuhmacher und Weltverbesserer dazu. Die Frau aber scheidet von dem Nachdenklichen und Schwerblütigen. Ihr genügt nicht die Versicherung, daß er nicht Feind ihres Blutes sei, nur Feind aller leidenschaft­lichen und gehässigen Menschen aller Rassen. Man kann dies der Frau nicht übelnehmen, wenn er ihr den Peitschenhieb ins Gesicht schnellt: „Zwischen Mensch und Mensch könnt ihr euch Geschäfte machend schieben, zwischen ihn und die Erde nicht!“ Denn das verargen Bartsch und sein Held dem Juden am meisten, daß sie nicht eins zu werden vermögen, mit der Mutter Erde, daß sie die Natur nicht anders betrachten können, denn aus der Ischler Esplanadenperspektive.

Auch Gretel, die Ausnahmejüdin, ist Jüdin geblieben oder sie wird es vielmehr wieder im Laufe des Romans. Zu Beginn wird ihr zugestanden, sie sei keine Jüdin mehr, sei aufgesogen und arisiert. „Hunger nach arischem We­sen“ bilde den Grund zu ihrer Natur. Mädchenhaft wird sie genannt und oft beinahe traurig bescheiden. In der Ehe freilich ist sie eine andere. Nachdem sie sich den Mann und nebenher den christlichen Glauben erobert hat, hilft sie dem Gatten Emporsteigen auf der Leiter der Karriere. Bis der Krieg kommt und auch sie der Sensation, der Begeisterung, dem Soldatenzauber jener Tage völlig unterliegt. Da aber die Zeiten des Druckes und der dumpfen Trostlosigkeit nahen, klaffen die seelischen Gegensätze der beiden Ehegatten drohend auseinander. Die Frau schwört dem Erfolg zu, ihr ist es nicht gegeben, die Pfade des mystischen Schusters Jakob Böhme zu wandeln, die Pfade, die zu sich selbst führen und die ihr Gatte eingeschlagen hat.

Rudolf Hans Bartsch ist sichtlich der Überzeugung, daß er beiden Rassen gerecht geworden ist, daß vollgültige, unanzweifelbare Vertreter des Semiten und des Ariertums auf der Romanbühne stehen, die jetzt Strindbergsche Ehekonflikte, nur ins Konfessionelle übersetzt, durchleben müssen. Die Rechnung kann aber nicht aufgehen, weil sich der Rechenmeister bei der Aufstellung der einzelnen Posten geirrt hat. Christoph, der Eigenbrötler, ist durchaus nicht in jenem Grad die Verkörperung deutschen Wesens, wie es sein Dichter wahr wissen will, und gar erst Grete Lobes, diese Mischung von höchstem Raffinement und einem ins Salonmäßige übertragenen Süßenmädeltum, ist nicht allein unjüdisch, sondern unwirklich überhaupt. Darum ist es höchst gleichgültig, ob dieser Hans seine Grete findet, gleichgültig vor allem für die entscheidende Frage, ob jene Assimilierung möglich ist, die mit öder Gleichmacherei und Entwurzelung des einen oder des andern Teiles nicht verwechselt werden darf. Eines steht jedenfalls fest: Es wäre schlecht bestellt um die Zukunft des Deutschtums, wenn es, nicht nur bildlich gesprochen, in dumpfer Schusterwerkstätte auf die Entthronung des Menschen als Weltbeherrscher warten würde.

In: Moderne Welt, H. 10/1922, S. 16.

Richard Specht: Romansymphonie der ewigen Liebe (1929)

Werfels Barbara oder die Frömmigkeit.

Über diese Zeilen hätte ich auch den Titel setzen können: „Roman des Vierteljahrhunderts.“ Oder: „Roman des Krieges.“ Oder: „Roman des Umsturzes.“

Oder ganz einfach: „Roman Oesterreichs.“ All dies ist in Werfels bedeutendem Buch enthalten. Aber so un­erhört unmittelbar das Geschehen an uns herantritt, so mächtig die Fülle großen, gemeinsamen und ergreifenden Einzelschicksals, das all die fast unheimlich gegenwärtigen, heiß durchbluteten Gestalten einer Weltwende über­wölkt, in ihrer leidenschaftlichen Einprägsamkeit über­wältigt, so schauerlich gewaltig die Kriegszeit in all ihren entsetzlichen, unbegreiflichen und oft auch rührenden und heiteren Erscheinungen bis zu atem­losem Miterleben hingestellt, die Ratlosigkeit der jungen Generation, die Übergriffe und der frivole Machtwahn der Führenden und mehr noch der subalternen Frechheit gezeigt wird — es ist ein Mehr da, und dieses Mehr entscheidet. Manche werden es vielleicht in  einem Protest gegen mörderisch vereisenden Intellektualismus dieses Jahrhundertbeginnes sehen wollen, und sicherlich ist dieses mächtig packende, monumental gestaltende Buch auch so zu ver­stehen. Trotzdem: mir will scheinen, daß der Dichter auch hier der gleiche ist, wie in all den Werken, in denen ein Gottsuchender und Sinnsuchender dem Verhältnis des Menschen zu den höheren Mächten nachspürt…, und zumal des von Ahnung und Sehnsucht angerührten Menschen mitten in einer immer mehr entgötterten Welt. Die innere Schau, die Franz Werfel von je eigen war und der sich diesmal der bildnerische Blick eines für die Sichtbarkeiten des äußeren Daseins geschärften Auges gesellt, der das  Gleichgewicht der Darstellung bedingt, ist hier eindrucksvoll gesteigert. Wie nie zuvor ist er für alles Geheimnis des Letzenden hellsichtig und hellhörig. Er gräbt das Ver­borgenste der Menschen und des Geschehens aus, und alles wird ihm zum Abbild des großen Schöpfungsplanes. In diesem Sinne ist dieser Roman ein religiöses Buch. Aber unendlich fern von allem Traktatmäßigen, von aller abstrakten Dogmatik und formulierenden Auseinandersetzung. Leben wird gezeigt und nichts als Leben. Aber an diesem Leben, in seinem ganzen Überreichtum an Gestalten und Ereignis, offenbart sich das Mysterium und das Ringen nach seiner Er­kenntnis. Und als dieser Erkenntnis letzter Schluß wird das sichere Gefühl gewonnen, um wieviel wert­voller als der zersetzende Verstand, die hochmütige Geistigkeit der Überlegenen, der machtlüsterne Egoismus der Menschheitsbeglücker, ja wie einzig gültig vor dem Weltgesetz die demütig dienende Einfalt ist. Denn eine alte Kindsfrau, eine jener stillergebenen, liebreich pflichtvollen Erscheinungen, wie sie Werfel, inniger Kindheitseindrücke gedenkend, schon in seinen wundervollen Gedichten im Weltfreund und in Wir sind gezeichnet hat, gibt dem Roman den Namen, obwohl sie nur in wenigen Momenten des Buches sichtbar wird; freilich in den entscheidenden, wenn sie auch von der Art sind, die sich erst später in ihrer Bedeutsamkeit erschließen. Aber: diese Barbara ist gleichsam die Dominante des Ganzen, und der geflissentlich altväterische zweite Titel „oder: die Frömmigkeit“ verstärkt die Empfindung dieser beherrschenden Anonymität. Im dieser schlichten ungläubig reinen Kinderfrau Barbara und ihrem Pflege­kind, der Offizierswaise Ferdinand, ist — sehr zum Unterschied von den superklug berechnenden, feig die fremde Schwäche mißbrauchenden, überkompensierenden und innerlich brüchigen Typen der Zeit – noch ein Stück blauen Himmels lebendig. Und daß sie schließlich gegen die Meute der Raffenden, der Politischen, der seelisch Ge­scheitertern, der falschen Apostel und der wahrhaften Märtyrer der unabhängigen Gesinnung rechtbehalten, hat Gewicht und Bedeutung. Es weist einen Weg.

Die Geschichte des Lebens, das in die Mitte eines derart großgeschauten Reigens gestellt wird, ist nicht die eines Menschen, der unter Anführungszeichen – „interessant“ ist oder dem Gaben besonderer Art ins Dasein mitgegeben worden sind. Er ist mehr: ein richtiger Mensch. Ein unverbogener, der sich sein inneres Gesetz abhorcht und ihm gehorsam sein will; der sein Leid nicht als persönliche Beleidigung, sein Entbehren nicht als unverdiente Bosheit eines ungerechten Geschicks, die ihm angetane Unbill weniger als die Feindseligkeit kleiner Menschen und eher, wie all seine andern Erfahrungen, als einen Schritt nach vorwärts empfindet, um endlich sich und den Sinn seines Lebens zu finden: durchaus unbewußt und ganz ohne Spin­tisieren nimmt er jede Phase als ein Stück des geheimen Planes hin, dessen Erfüllung nun einmal über ihn ver­hängt ist. Ein früh verwaistes Offizierskind. Der Vater verschlossen und gütig, die Mutter schillernd, weltlustig; sie betrügt ihren Mann, er weist sie aus dem Hause, das Kind behält er. Aber der Kleine hat wenig wahre Beziehung zu beiden; mehr als Vater und Mutter liebt er Babi, die Magd, deren gutes Gesicht sich beim Einschlafen und Erwachen über ihn beugt. Sie betreut ihn; die Mutter kümmert sich um den Buben nur in dekorativen Szenen. Babi sorgt für ihn, sie dient um halben Lohn bei der geizigen Tante, um bei ihm bleiben zu können, wacht über den Schlaf des typhuskranken Jungen, wie sie es nach Jahren am Bett des Kriegsverwundeten; in der gleichen, schweigsamen, unnahbaren Würde ihres erdnahen Wesens tun wird… es hilft nichts, sie müssen sich trennen und sehen einander nur mehr bei Sonntagsbesuchen – und späterhin in ihrem Leben nur zweimal wieder; Briefe und Karten müssen zunächst über das Fernsein hinweghelfen, und auch sie werden schließlich immer seltener. Barbara erweist ihre Pflichttreue, in der aber nur mehr mechanisch treibende Kräfte sind, auf mancherlei Dienstplätzen; erst im Alter übersiedelt sie in ihre Heimat, auch bei den Ihren un-// ermüdlich alle Arbeit aus sich nehmend. Der kleine Ferdinand muß zunächst ins militärische Erziehungsinstitut; dort schon erwartet ihn der ewige Widersacher, sein typischer Gegenspieler, der aufgeblasene, frech, ohne innere Berechtigung überlegene, ohne eigenen Vorteil niederträchtige, sadistisch dünkelhafte Vertreter der „selbstlosen Gemeinheit“ (Schnitzler nennt diese Sorte so): er wird Ferdinand im Kriege in Todesnot jagen, so wie er jetzt schon durch perfide Bosheit den Knaben aus der Militärschule forttreibt und es dadurch verschuldet, daß der Wehrlose als Alumne im Priesterseminar unter­gebracht wird. Von dort wird er durch einen bis zur Paradoxie scharfsinnigen, ruhelos vom Geist gepeitschten Freund, einen vom Christusgedanken angerührten Juden, der doch unfähig ist, seiner Idee auch zu leben und der (nach Jahren) auch pünktlich im Irrenhaus endet, befreit: der ermöglicht ihm das ersehnte Studium der Medizin, wird aber nach einem Jahre von den ihm aufsässigen, seinem anspruchsvoll geistigen Wesen ver­ständnislos gegenüberstehenden Brüdern auf Pflichtteil gesetzt…, und nun droht für Ferdinand das Hunger­leben des nur durch Lektionengeben vor dem Schlimmsten bewahrten Studenten. Der Krieg erlöst ihn aus dieser Armseligkeit. Schwer verwundet – er ist durch die heimtückische Rache jenes Urfeindes auf einen Punkt transferiert worden, der von den Russen und von der eigenen Artillerie beschossen wird – kommt er ins Spital von Lemberg; dort schläft er sich unter den milden, treuen Augen seiner „Babi“ gesund, der liebreichen Schlafhüterin, die heimlich ihren Dienst aufgegeben hat und drei Tage und drei Nächte gereist ist, um ihrem „jungen Herrn“, der ihr immer noch „Du“ und dem sie immer noch „Er“ sagt, dem Tode abzuringen.

Ein neues Lebensfragment (mit diesem Wort überschreibt Werfel die vier Teile seines Meisterromans): die Tage des Umsturzes, die Ferdinand, in dessen Daseinsentwurf Frauen und Erotik kaum vorzukommen scheinen, in unmittelbarer Nähe im Kreise der eigentlichen Regisseure dieses Sturmdramas erlebt und in denen eine verwirrende Fülle von echten und verlogenen, geistig hohen und schwindelhaften, duldenden und prahlerischen, aufgereizt intensiven Menschen in sein Leben einbricht. All dies und ebenso die Überwirklichkeit der Kriegszeit hat brennende Wahrheits­farbe; kein Wunder, denn der Dichter ist selbst durch die Hölle und das Fegefeuer jener Zeiten geschleift worden. Nach der Sturzflut nimmt Ferdinand sein medizinisches Studium wieder auf; ein paar Jahre nachher wird er­ zum Doktor promoviert, und nun hält ihn nichts länger: er muß zu Barbara, von der er so lange nichts gehört hat, daß er nicht einmal weiß, ob sie noch lebt. Aber sie lebt; die Gealterte lehnt ihre zusammen­geschrumpfte, liebe Gestalt an ihren jungen Herrn, in wortloser Freude und ein wenig bestürzt, weil sie doch so gar nichts vorbereitet hat; aber bevor sie sich zum Bereiten seiner Lieblingsspeise anschickt, übergibt sie ihm ein Beutelchen mit Goldmünzen, die sie sich einzig für ihn mühselig von ihrem kargen Lohn abgespart und aufgehoben hat. Erschüttert nimmt er den neuen, den wunderbar rein gegebenen und empfangenen Beweis dieser fast mystischen Liebe entgegen. Aber nun treibt es ihn wortlos fort; nur in einem innigen Brief nimmt er von seiner zweiten, seiner wahren Mutter Abschied. Und in einer Nacht, er ist längst als Schiffs­arzt auf einem Luxusdampfer unterwegs, weiß er plötz­lich mit der Bestimmtheit einer Botschaft, daß Barbara eben gestorben ist. Da holt er den Beutel mit Gold hervor, den er nur um weniges, nur in der äußersten Not anzutasten gewagt hat und streut die blitzenden Münzen ins Meer: es „ruht von Stund‘ an in der Tiefe der Welt. Der Honig der heiligen Arbeitsbiene ist für ewig geschützt und dem entweihenden Kreislauf entzogen“.

In dieses weitmaschige Lebensnetz ist ein Inhalt von höchstem Reichtum, ist diese ganze Zeit mit ihren Menschen und ihren geistigen Triebkräften eingegangen. Szenen sind da, die nicht vergessen werden können: Ferdinands letzter Besuch bei Barbara und in dem Wallfahrtsdorf, in dem er als Kind war und in dem jetzt das Erleben von damals in geheimnisvollem Sinn aufsteht; die der schlafhütenden Kinderfrau; die scharf geschaute, bis zum Riechen eindringliche auf dem Provinzbahnhof; von der grauenvoll packenden und befreienden nicht zu reden, in der Ferdinand, durch den dreisten und bösartigen Machtdünkel seines „ewigen Gegners“ zum Exekutionskommandanten bei der Er­schießung dreier unschuldiger, wegen „erwiesener Ab­sicht des Überlaufens zum Feinde“ ohne Gericht ver­urteilter junger Menschen nach vergeblichem Protest (auch dies eine ergreifende Szene!) mit ihnen zur Hin­richtungsstätte marschiert und plötzlich, wie von einer Gewalt höherer Art getrieben, statt „Feuer“ kom­mandiert: „Schultert!“und die Drei anschreit: „Lauf­schritt! Abfahren! Rettet euch!“— und für diese Tat auf einen Todesposten verschickt wird. Und ganz einfach ist das geschrieben; nichts Auf­gedunsenes, kein hypertrophisches Wort, kein falscher oder zu hoch gegriffener Ton. Werfel hat eine Reife des Stils erreicht, die ihn den ersten Prosaisten der deutschen Dichtung gesellt. Daß allerdings auch in diesem Buch Eigentümlichkeiten auffallen, braucht nicht verschwiegen zu werden: die seltsame Anonymität des Helden zum Beispiel, der auch, wiederum etwas altväterisch, nur Ferdinand R. genannt wird, während alle andern ihre vollen Namen tragen, und der auch in seiner äußeren Gestalt gewissermaßen anonym bleibt: man „sieht“ ihn nicht, hat keine Vorstellung von seiner Körperlichkeit, im Gegensatz zu der Meisterporträtierung aller übrigen. Oder die Bemerkungen des Autors selbst, der direkt das Wort zu manchem Problem ergreift und dadurch manchmal didaktisch wirkt, statt all das in Gestaltung aufzulösen. Aber: es sind eben die Eigen­heiten eines Dichters, die man hinzunehmen hat; sie gehören zu seiner Handschrift. Wer sich so verschwendet und in solcher Fülle und Reife steht, hat jedes Recht der Eigenwilligkeit.

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Es ist eines der seltenen Bücher, die reicher machen, zur Selbstschau zwingen und zur Rechenschaft auffordern. Durch dieses Werk, in dem der Inhalt eines Vierteljahrhunderts laut wird, in dem zwanzig, dreißig, vierzig Gestalten zu Repräsentanten der Gegenwart werden und all ihre geistigen Komponenten aufzeigen, ist nicht bloß die österreichische Literatur beschenkt worden. Es gehört in die Weltliteratur.

In: Neues Wiener Tagblatt, 30.10.1929, S. 2-3.

Felix Salten: Fräulein Else (1924)

Atemlos fieberhaft saust das Tempo der neuen Novelle von Schnitzler. Während man sie liest, wird man gleich zu Anfang in fieberhafte Spannung entzündet, wird bis ans Ende in atemloser Teilnahme mitgerissen.

Die Geschichte, das Schicksal eines jungen Wiener Mädchens aus „guter Familie“. Der Vater, Advokat, hat Mündelgelder unterschlagen. Die Tochter soll ihn vor der Schande retten, in dem Alpenhotel, in dem sie ein paar Sommertage genießen darf, einen alten Freund der Familie um Hilfe bitten. Der reiche Mann stellt jedoch eine Bedingung. Er will Else nackt. sehen. Nur sehen. Sonst nichts. Dann gibt er die Summe her, die den Vater vor dem Kriminal bewahrt. Else erfüllt diese Bedingung und täuscht den reichen Mann dennoch. Sie wirft im Klaviersalon ihren Mantel ab, steht, nackt vor dem Retter ihres Vaters, aber auch vor allen anderen, die dabei sind.

Dann bringt sie sich um. Trinkt Veronal. Stirbt.

Die ganze Begebenheit, die sich binnen wenigen Stunden abspielt, wird nicht erzählt. Kein Vortrag, keine Ausschmückung des Dichters; keine Malerei seiner farbigen, plastischen Sprache. Was hier geschieht, wird erlebt. Else denkt, fühlt und spricht; genau so, wie einst der Leutnant Gustl selbst gedacht, gefühlt und gesprochen hat. Immer ist nur Elses Stimme zu hören, nur ihre unhörbare, lautlose Gedankenstimme. Hie und da ein paar Reden oder Redensarten der anderen; ein paar Worte, die Else zu den anderen sagt. Trotzdem…, nein: gerade deshalb wird alles so unmittelbar lebendig in dem Buch. Die ganze Existenz des jungen Mädchens nimmt man viel intensiver in sich auf, weil, scheinbar, niemand zwischen ihr und uns steht. Was für ein glänzendes, was für ein jammervolles Dasein führt Else. Die Tochter eines Vaters, der mit den glänzendsten Gaben sich und den Seinen nur ein jammervolles Leben bereitet hat. Man kennt ja eine ganze Menge solcher Menschen, auch Advokaten, die zwischen Erfolg und Absturz gefährlich balancieren. Da sind dann die Krisen, die Tage, in denen es, um Haaresbreite am Strafgericht vorbei, halbwegs wieder weiter geht. Diese Tage aber, mit ihrer Angst, mit ihren Erniedrigungen, korrumpieren. Von ihnen, von der ganzen beständig schwankenden Situation, von dem schlechten Gewissen, das nach und nach alle Mitglieder der Familie bekommen, wird die aufrechte Freiheit gebeugt, die Unbefangenheit vergiftet und zerstört.

In solcher Atmosphäre lebt Else. Jetzt ist sie, als Gast ihrer Tante, in dem vornehmen Tiroler Alpenhotel. Der Vater kann nicht von Wien fort; man würde seine Abreise vielleicht als Flucht deuten und ihn unterwegs verhaften. Es ist auch nicht genug Geld im Haus für eine Sommerreise. Deshalb muß die Mutter beim Vater in Wien bleiben. Der Bruder hat in Amsterdam eine Anstellung. Ach, man zittert, wenn eine Nachricht von ihm eintrifft, denn der väterliche Leichtsinn ist sein Erbteil. In dem Alpenhotel dahier weilt auch der Cousin von Else, der Sohn ihrer Tante, Paul, der ein //junger Arzt ist. Er hat, wie Else vermutet, Beziehungen zu der jungen Frau Cissy, die gleichfalls hier im Hotel wohnt. Trotzdem könnte er sich jeden Moment in Else verlieben. Sie fühlt das. Aber sie weiß, er würde nie daran denken, sie zu heiraten Sie ist keine Partie, Else, sie weiß dass nur zu gut. Ein Verhältnis mit ihr, oh ja, das hätte Paul gerne; Wer hätte nicht gerne ein Verhältnis mit ihr? Da sind andere junge Menschen, hier im Hotel, in Wien, überall in der Welt. Aber sie zur Frau nehmen, sie, ein Mädel, das verwöhnt, anspruchsvoll und arm ist, das zudem noch aus einer Familie stammt, deren Ansehen ohnehin schon gelitten hat und die eines Tages in Schande versinken kann… es müßte ein Wunder geschehen. An Wunder jedoch glaubt Else nicht, wenn sie es auch liebt, davon zu träumen. 

            Mit Else und ihrem Schicksal ist zugleich die Situation wie das Schicksal unzähliger anderen Mädchen getroffen. Die weibliche Jugend einer breiten Schicht des Bürgertums steht auf dieser sehr schmalen Kante zwischen Wohlleben und Armut, zwischen Ehrbarkeit und Schande, zwischen Glück und nutzlosem Hinwelken. Erzogen zu Luxus, nur bewundert in jenem leichten, wertlosen Wissen, das man in einem sorglosen Dasein braucht, ohne Mitgift, sind sie jedem Elend preisgegeben, wenn sie sich selbst erhalten müssen, wenn nicht ein Mann kommt, der sie um ihrer selbst willen liebt und sie heiratet. Wie oft ist das gesagt, wie oft erkannt, begriffen worden. Freilich manches hat sich auch im Bürgertum gebessert Langsam hört die Arbeit, der Broterwerb auch für die Mädchen aus ,,feinen“ Familien auf, das Schreckgespenst des Unterganges zu sein, langsam erlöschen die ganz albernen Meinungen nach denen ein Mädchen deklassiert war, das eine dienende  Stellung was immer für eine annimmt. Aber dies Erwachen zur Vernunft, zu gesunder Lebensanschauung geht nur langsam vor sich, nur sehr langsam. Nur vereinzelt lehrt die Praxis, wie innig verknüpft mit der selbständigen Erwerbsfähigkeit des Mädchens auch das Problem ihrer Verheiratung ist, So hat denn Fräulein Else immer noch zahllose Schwestern, wenngleich nicht jede von ihnen einen reichen Herrn um Geld ansprechen muß, damit ihr Vater vor dem Eingesperrtwerden gerettet wird.

Trotz der besonderen Umstände, die ihre Katastrophe herbeiführen, ist ja Else nur ein Beispiel, nur ein Typus, und an ihrem Fall, an ihrer Wehrlosigkeit wird der wehrlose, preisgegebene, der unglückliche Zustand aller ihrer Schicksalsgefährtinnen erschreckend klar. Es ist genau so wie am Leutnant Gastl, an den besonderen Umständen seines Einzelfalles; die Gebundenheit aller Offiziere klar wurde, ihr Befangensein in das ebenso verlogene wie überhebliche Gebot ihrer Standesehrte. Artur Schnitzler hat damals für dieses Meisterwerk, das Leutnant Gustl« hieß, seinen Rang als Reserveoffizier verloren und man hat ihn anderseits als einen politischen Vorkämpfer des Antimilitarismus gefeiert. So gänzlich kann ein Kunstwerk mißverstanden werden, von den Hütern wie von den Gegnern der jeweilig bestehenden Ordnung, von rechts und von links. Nicht um den Militarismus war es damals Schnitzler zu tun. Daß ein Dichter in seiner Seele und in seinem Geist keineswegs auf der Seite der Gewalt sein kann, versteht sich zu sehr von selbst, um gefeiert zu werden. Es sei denn, er mache sein Schafer absichtlich zum Angriffswerkzeug seiner aktiven, wagemutigen Politik. Aber Schnitzler ist nie ein Politiker und er ist niemals aggressiv gewesen. Nur einen Menschen wollte er im Leutnant Gustl hinstellen, der, in der Schlinge alberner Konvention gefangen, sein Leben verwirkt sieht, sich zum Selbstmord bereitet, den er für Standespflicht hält, und der nun, da ihm der Zufall den Gegner aus dem Weg räumt, befreit aufatmet. Er ahnt gar nicht, der gute Leutnant Gastl, daß sich durch den plötzlichen Tod dieses Gegners im Grund ja nichts geändert hat, daß alles trotz dieses Todesfalles immer noch aufrecht bleibt: er ist beleidigt worden, hat keine Genugtuung genommen und seine Offiziersehre hat einen Fleck. Das stört ihn nicht weiter,denn niemand wird je etwas davon erfahren. Er ist jung, voll Daseinsfreude, naiv, wenig nachdenklich und er freut sich unbändig, daß er weiterleben darf.

An diese Novelle, die leuchtend ist in ihrer Wahrheit, sprühend in ihrer Lebendigkeit, wird man unwillkürlich erinnert, wenn man Fräulein Else liest. Sie hat dieselbe Form, diese Art der unmittelbaren Äußerung ihrer Titelfigur. Dieses Denken, Fühlen und Sprechen genau in der Sekunde des Erlebens. Diese Form ist aus dem Drama geschöpft, wo ja die handelnden Menschen genau in der Stunde ihres Schicksals vor uns erscheinen, wir sie reden hören und fühlen können, was sie denken. Der Dramatiker, der Schnitzler ist, hat diese Form für die Novelle frühzeitig gefunden, erfunden könnte man sagen, und er gebraucht sie jetzt, ein paar Dezennien nach dem Leutnant Gustl, zum zweitenmal. Farbiger, fülliger, mit noch höherer Meisterschaft als vorher. Diese Form hat vom Drama den Saus des Tempos, der so stark ist, daß man nur in manchen Erzählungen von Kleist die gleichen Sturmschritte findet. Sie hat die volle Anschaulichkeit der Bühne, so eindringlich, daß man die Gesichter aller Menschen sieht, die Landschaft, ja, daß man den Geruch der herben Luft des Hochgebirges zu atmen glaubt. Und so gegenwärtig ist das Geschehen, daß man in jedem Augenblick meint, man könne dazwischentreten, man könne unterbrechen, könne diesem Fräulein Else ins Wort fallen, sie hindern, ihr helfen, sie retten. So zwingend geht alles vor sich, so unaufhaltsam rasch im Sturz, daß man zugleich begreift, wie rettungslos verloren die arme Else ist, daß man sie, erschüttert, ihren jungen Leib entblößen und dann sterben sieht, indessen man von Ergriffenheit, ja von Verzweiflung überwältigt wird. Ihre höchste Feinheit und ihren höchsten Rang erhält diese Form aber durch die Eigenschaft, bei aller dramatischen Wirkung durchaus novellistisch zu sein. Das Denken der Else, dieses in ihrem Hirn und Herzen geflüsterte Denken, darin sich alle anderen Figuren// abmalen, alles Vergangene und Gegenwärtige sich aufrollt, hat nur in der Novelle keine Längen, sondern eine Fülle von Schönheit.

Ganz einfach, ganz wie selbstverständlich hebt diese Novelle an. Else geht vom Tennisplatz ins Hotel zurück. Auf dein Tennisplatz spielen Frau Cissy Mohr und Cousin Paul ein Single, da Else sie allein läßt. Ein wenig tändelnd beschäftigt sich Else mit den beiden, mit dem Verdacht der galanten Beziehung, den sie gegen die zwei hegt, tändelt auch ein wenig mit dem kleinen bißchen Eifersucht, das sich in ihr regt, und geht, um nach dem Brief zu sehen, den sie von zu Hause erwartet. Unterwegs Begegnung mit ein paar Hotelgästen. Mehr nicht. Aber schon sind die Hauptfiguren plastisch  sichtbar, ist der Schauplatz abgesteckt. Dann in der Halle der Brief. Else liest ihn auf ihrem Zimmer. Die Mutter schreibt: bitte Herrn Dorsday um das Geld. Und sie schreibt, es gibt keinen andern Ausweg! Dann schreibt sie noch, wie traurig es sei, und wie schwer, seiner Tochter solche Aufträge zu geben. – Das Schicksal ist da. Beginnt sich zu vollziehen. Unabwendbar.

Von den Mädchengestalten, die Artur Schnitzler geschaffen hat, von den vielen, gütig oder zärtlich oder leidenschaftlich geschauten Mädchengestalten ist keine so vollkommen erfaßt, so bis in die verborgenste Seelentiefe durchdrungen, wie diese Else. Nur die einfache Christine in der ,Liebelei ist so umschimmert von Poesie, wie die komplizierte, aber im Wesensgrund doch auch einfache und unschuldige Else. Und keine andere, außer Christine, hat die Einprägsamkeit, ist in so klarer Weise, mit so festen Konturen umrissen, ein Wahrzeichen. Artur Schnitzler hat der Frauentreue, der Frauenunschuld von jeher  nachgespürt, mit dem Herzen eines Verliebten, mit dem Scharfsinn eines bedeutenden Geistes, mit dem Verstehen eines gütigen Menschen und mit dein intuitiven Erraten eines Dichters. Alle seine Werke haben das Problem zum Gegenstand, das die Frauenseele für den Mann bleibt, und von Leuten, die nicht merken, wie sich in diesem Brennglas die ganze Fülle der Lebensstrahlen sammelt, ist ihm der „enge“ Stoffkreis oft zum Vorwurf gemacht worden. Nun scheint er auf eine Höhe des Verstehens gelangt, auf der Schuld und Unschuld, Treue und das, was der Beteiligte Treulosigkeit nennt, sich sachte lösen, ins Fließen geraten, und nur die Herzenskraft der Frau, nur ihr Menschentum gilt, gleichviel ob sie einem Liebhaber Schmerz gewesen ist oder Enttäuschung. In seiner Aurelie, dieser edlen Hauptgestalt der edlen Komödie der Verführung, werden so viele anständige Frauen und ebenso viele gefallene Frauen Züge des eigenen Wesens betroffen erkennen. Keineswegs die Möglichkeit zur Dirne soll da entlarvt werden. Nur die Möglichkeit zu mancherlei Erlebnis, die in jeder Frau verborgen schlummert, wird angerührt. Auch in Else, dieser Komplementärgestalt zur Aurelie. regt sich keine heimliche Dirne. Wie Aurelie, von der vorschauenden Entsagung des einzigen Mannes, den sie liebt, preisgegeben, in ihr Verhängnis stürzt, so gleitet Else aus der Lebensbahn, da das Weib in ihr geweckt wird durch alle diese häßlichen Notwendigkeiten, sich zu verkaufen, und durch sonst nichts. Sie spielt mit dem Gedanken, sich zu verkaufen, sie klammert sich mit der Sehnsucht ihrer Jugend an das Leben, das ihr jenseits dieses Handels noch winkt. Aber sie tötet sich. Selten ist eine Frauenseele in ihren geheimsten Regungen so durchleuchtet worden und so rein genießen wie diese: so ganz noch Kind, so sehr noch Jungfrau, so ahnungsvoll schon Weib, so erfüllt von Güte, so durchblitzt von Messerschärfe des Verstandes, so gelind an Zärtlichkeit und so sanft in der Verzweiflung. Dieses Buch, das der Paul-Zsolnay-Verlag jetzt eben herausgibt, wird binnen kurzem von vielen Tausenden, Frauen wie Männern, gelesen und geliebt sein.

In: Neue Freie Presse, 23.11.1924, S. 1-3.

Fritz Rosenfeld: Das Dritte Reich im Roman. Lion Feuchtwanger: „Die Geschwister Oppenheim“ (1933)

             Der Dichter des Jud Süß und der Häßlichen Herzogin, Lion Feuchtwanger, hat als erster die Fratze des braunen Fascismus in einem Epos nachgezeichnet: dem Roman Erfolg, der ihm den bittersten, blutigen Haß der Hakenkreuzler zuzog und ihn zwang, beim Aus­bruch der großen Barbarei Deutschland zu verlassen. Als Erfolg geschrieben wurde, terrorisierten die SA.-Banden nur Bayern: Feuchtwangers neuer Roman Die Geschwister Oppenheim (Querido-Verlag. Amsterdam) entstand, als die Kulturkatastrophe der „nationalen Revolution“ Deutschland bereits verheert, den Geist vertrieben, alle aufrechten, weltbürgerlichen, der Idee der Freiheit und des Friedens verbundenen Menschen in die Konzentrationslager gesperrt und die Herr­schaft des Henkers, der Bestialität und des brutalsten Gesinnungszwanges etabliert hatte. Noch bluten die Wunden, die von den Landsknechten in der braunen Uniform ge­schlagen wurden, noch dauern die Martern der schuldlos Gefangenen, wehrlos Ge­peinigten in den Kerkern der Kasernen, in den Konzentrationslagern an, noch ist auf den Gräbern der Opfer kein Gras gewachsen. In einem Buch, das aus unmittelbarster Gegenwart erwächst, das Ereignisse nicht von gestern, sondern von heute mit dich­terischer Kraft vor das Gewissen der Mensch­heit stellen will, kann es kaum Einzelschick­sale geben. Der neue Roman Lion Feuchtwangers heißt zwar nach einer Berliner Patrizierfamilie, deren Mitglieder in den Monaten vor dem Hitler-Umsturz sich mit den nationalen Phrasen der hakenkreuzlerischen Propaganda auseinandersetzen, in den Tagen des nationalen „Aufbruchs“ zer­malmt oder vertrieben werden: der Held des Buches aber sind nicht die Geschwister Oppenheim, der Held, der blutige, von Urwaldinstinkten beherrschte, ein Land geistiger und kultureller Hochblüte in wenigen Wochen zertrampelnde Held ist der Nationalsozialismus selbst.

Die Geschwister Oppenheim entstammen einer alten jüdischen Berliner Kaufmannsfamilie. Zwei Brüder führen eine große Möbelfabrik, der: dritte ist. Arzt. Sie haben dem Land, in dem sie leben, manchen Dienst erwiesen, an der Wand hängt eine Urkunde, in der Moltke dem Chef der Firma seine Leistungen für die deutsche Armee in den Kriegsjahren 1870/71 bestätigt. Sie wurzeln in diesem Land, ihr Herz hängt an diesem Land, an seiner Literatur, seiner Kunst, seiner Geschichte. Sie gehören der „Gesell­schaft“ der Hauptstadt an, unterhalten Be­ziehungen mit allen maßgebenden, einfluß­reichen Männern ihrer Zeit. Sie wissen, daß eine Bewegung die Massen aufwühlen will, die sie als Fremde, als Feinde ihrer Heimat brandmarkt; sie lesen in den völkischen Hetz­blättern täglich die Schmähartikel. Aber sie glauben nicht daran, daß diese Bewegung durchdringen, zur Macht gelangen, ihre irr­sinnigen Ziele erreichen könnte. Die Pessimisten unter ihnen warnen sie mit sarkastischem Humor vor ihrer Sicherheit: „Das ist ja die Stärke dieser Partei, daß sie die Vernunft ablehnt und an den Instinkt appelliert. Ihre Ware ist schlecht, aber gängig. Die Herren verstehen sich auf ihre Kundschaft wie jeder gute Geschäftsmann.“ Sie lesen das Buch Mein Kampf nicht nur wegen seines Inhaltes, auch wegen seines miserablen Stils; sie, die Landfremden, Volksfremden, können besser Deutsch als der „Führer“ der „Völkischen“. Schon dringt der „Geist“ der neuen Partei in ihre Welt ein: ein Geschäftspartner ist Nazi geworden, der Sohn hat es im Gymnasium mit einem national gesinnten, antisemitischen Professor zu tun. Er wollte einen Vertrag über den Humanismus und seine Bedeutung für unsere Zeit halten; der neue Lehrer läßt dieses Thema nicht zu, zwingt den Schüler, über Hermann den Cherusker zu sprechen, entzieht ihm das Wort, als er eine historisch richtige, aber nicht in den Kram der Völki­schen passende Bemerkung macht. Es ist die Zeit des Generals Schleicher; die Kata­strophe droht, doch man hofft noch, sie ab­wenden zu können. Die Geldgeber der Hakenkreuzler, die Großindustrie, stellt die Subventionen ein. Die Bewegung hat ihren Höhepunkt überschritten. Da holen die ostelbischen Junker, um den Osthilfeskandal aus der Welt zu schaffen, die Barbaren zu Hilfe: mit dem Satz „Am 30. Jänner ernannte der Reichspräsident den Verfasser des Buches Mein Kampf zum Reichskanzler schließt der erste Teil des Romans.

Der zweite ist nicht mehr Roman, sondern Chronik: die nationalsozialistische Propaganda überflutet das Land, der Reichstag brennt, die Judenhetze beginnt, die Großagrarier und Großindustriellen, die die „täppischen Hakenkreuzler“ gerufen, müssen ihnen freie Hand lassen, der Terror wütet im Reich. Die jüdischen Ärzte werden auf die Straße gesetzt, Wohnungen geplündert, Menschen nachts aus dem Bett geholt und in die SA-Kasernen geschleppt. Der Chef des Möbelhauses Oppenheim flieht in die Schweiz. Täglich kommen Nachrichten über neue Greuel, neue Unmenschlichkeiten. Was in Deutschland geschieht, ist in seiner Furchtbarkeit unglaubhaft. Aber: „Sie haben immer Mittel angewendet von solcher Primitivität, daß die andern sie nicht für möglich hielten. Darum sind sie ja heute an der Macht.“ Und: „Gerade ihrer primitiven Bauernschlauheit verdanken sie ihre Erfolge. Weil nämlich die andern immer wieder an­nehmen, auf solche Plumpheit fällt kein Mensch herein. Und dann, immer wieder, fallen alle herein.“ „Sie haben mit grauenvoller Zielbewußtheit da weitergelogen, wo das Große Hauptquartier bei Kriegsende hat aufhören müssen. Und die Bauern und Kleinbürger haben ihnen jede Lüge ge­glaubt.“ Eine Höllenvision wird Wirklich­keit: „Die unvermutete Überschwemmung eines zivilisierten Gebietes durch die Bar­baren.“ Der Dichterling, den Gustav Oppenheim gefördert und erhalten, läuft über. Streber kommen durch ihre Verbindungen mit den neuen Herren zur Macht, mancher arme Teufel muß das Hakenkreuz anstecken, das er innerlich verachtet, die Hand zu einem Gruß heben, den er haßt. Die Freunde werden blutig geschlagen, gemordet, fliehen freiwillig in das Reich der Schatten. Niemand wagt ein freies Wort; der Gymnasiast, den man zwingen will, seine Rede über Hermann, den Deutschesten der Deutschen, zu widerrufen, legt Hand an sich. In Deutschland regiert die Lüge: „Wider­sinn und Lüge war, was die Machthaber dieses Reiches taten und was sie ließen. Lüge, was sie sagten und was sie verschwiegen. Mit der Lüge standen sie auf, mit der Lüge legten sie sich nieder. Lüge war ihre Ordnung. Lüge ihr Gesetz, Lüge ihr Urteil, Lüge ihr Deutsch, Lüge ihre Wissenschaft, ihr Recht, ihr Glaube. Lüge war ihr Nationalismus, ihr Sozialismus, Lüge ihr Ethos und ihre Liebe. Lüge alles, und echt nur eines: ihr Haß.“

Darf man all dies geschehen lassen, beiseite, stehen und zusehen, selbst wenn man in der Lage ist, außerhalb des Dritten Reiches leben zu können? Gustav Oppenheim vermag es nicht. Er geht, mit einem fremden Paß nach Deutschland zurück, wird verhaftet, ins Konzentrationslager gesteckt, flieht neuer­dings, stirbt an Leib und Seele gebrochen, irgendwo in Böhmen. Es hat keinen Sinn, den Märtyrer zu spielen, ist die letzte Erkenntnis seines Lebens: es ist klüger, für eine Idee zu leben, als für sie zu sterben. Eine andre Gestalt  des Buches, ebenfalls Emigrant in der Schweiz, geht den Dingen tiefer auf den Grund: „Aendert die Verhältnisse, und ihr ändert die Menschen. Nicht umgekehrt.“

Lion Feuchtwanger sieht das Dritte Reich in diesem Buch aus dem Blickwinkel einer jüdischen Patrizierfamilie; aber er hat darum noch nicht die Judenfeindschaft der Hakenkreuzler als ihren Hauptfehler, den Antisemitismus als das Hauptproblem, den Rassenwahnsinn als das größte Übel der „nationalen Erneuerung“ hingestellt. Gewiß gibt es eine Fülle von Verbrechen des Nationalsozialismus, die in diesem Buch nicht geschildert werden, weil sie außerhalb des Lebenskreises der Familie Oppenheim geschahen, gewiß müßte man die Ereignisse vor und nach der Machtergreifung auch aus andern Gesichtspunkten betrachten. Feuchtwanger hat sich auch bemüht, Gestalten aus andern sozialen Schichten in die Handlung einzuführen, den kleinen, jüdischen An­gestellten, den hakenkreuzlerischen Stammtischphilister, der selber ins Konzentrationlager wandert, weil er mit den neuen Bonzen in Konflikt gerät, den; Schüler, der unter dem Eindruck der nationalen Hetze der Lehrer zum Mörder an einem liberalen Journalisten wird. Aber alle Einzelfiguren und damit auch alle sozialen Gruppen, die in diesem Buche eine Rolle spielen; treten zurück hinter das historische Geschehen, das von Feuchtwanger ist einer Art politischer Chronik mit all seinen wirtschaftlichen, psychologischen und moralischen Wurzeln entrollt wird. Man müßte ganze Seiten aus diesem Roman zitieren, um zu zeigen, mit welcher, kritischen Schärfe und mit welcher Prägnanz der Formulierung Feuchtwanger das Wesen des Nationalsozialismus, den Umfang und die Gewalt dieses Ansturmes der Barbarei gegen die Menschlichkeit und den Geist allen denen vor Augen und Ohren hält, die die Wahr­heit über das Dritte Reich hören und sehen wollen, hören und sehen dürfen. Durch dieses Buch weht der Geist Heinrich Manns, des größten Kämpfers wider die deutsche Reaktion, ihren Terror, ihre Kriegsverherrlichung, ihre Vergiftung des Volkes durch heldische Phrase und nationalistisches Pathos.  Aus den Flammen einer ungeheuerlichen Empörung über das Ungeheuerliche und Unfaßbare geboren, lodert es als das erste dichterische Dokument über das Dritte Reich in die Dunkelheit dieser Zeit hinaus; eine Fackel, entzündet an den lohenden Trümmerhaufen einer zerstörten Kultur, ist es Mahnzeichen für die Gegenwart, leuchtet es in einen neuen Morgen.

In: Arbeiter-Zeitung, 17.12.1933, S. 2 (Beilage Arbeiter-Sonntag).

Fritz Rosenfeld: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert (1933)

Die Lebensgeschichte Karl Lackners. Eines Wiener Arbeiterkindes, eines Menschen dieser Zeit, der im Krieg dem Vaterland diente, in der Inflation die verschiedensten Berufe hatte, abgebaut wurde, hungerte, einer Dirne Zuhäl­terdienste leistete und schließlich aus dem Ge­fühl der tiefsten Trostlosigkeit seinem Leben selbst ein Ende machte, beginnt nicht mit der Geburt, auch nicht mit der Schilderung des Elternhauses des Helden, sondern mit einer Darstellung der wirtschaftsumwälzenden Theo­rie Taylors und mit einer Beschreibung des Hauses Rockefeller. In Form einer romanhaf­ten Chronik wird die wirtschaftliche und politische Geschichte der Welt erzählt, solange Karl Lackner in ihr lebt. Die mit Zahlenmaterial belegte, manchmal bis zur nüchternen Statistik erhärtete Schilderung der weltpolitilchen Er­eignisse ist nicht etwa Hintergrund eines Einzelschicksals, sondern das Schicksal selbst.

Brunngraber, ein junger Wiener Dichter, ver­sucht, geschult an den Romanen Jlja Ehrenburgs, die schicksalhafte Macht wirtschaft­licher Ereignisse über den einzelnen Menschen in Romanform zu gestalten. Als Motto steht vor dem Buch das Napoleon-Wort: „Die Po­litik ist das Schicksal“ und das Rathenau-Wort: „Die Wirtschaft ist das Schicksal“. Nicht erb­liche Veranlagung, nicht eigner Trieb bestim­men das Leben Karl Lackners. sondern die Ausfuhr und Produktion von Waren in Län­dern, die er nie gesehen hat, die wirtschaftlichen Kämpfe von Staaten, die scheinbar weit­ ab liegen und mit dem Land, in dem er gebo­ren wurde, gar nichts zu schaffen haben. Das Leben wird als ein ungeheurer wirtschaftlicher Organismus aufgefaßt, in dem jeder Staat nur ein kleines Rädchen ist.

Der Gefahr, daß die romanhafte Gestaltung zur trockenen wirtschaftspolitischen Abhandlung verblaßt, ist Rudolf Brunngraber nicht entronnen. Lange Abschnitte seines Buches haben mit dem Roman nicht einmal mehr die äußere Form epischer Erzählung gemein, sie sind Essays oder gar nur Zusammenstellung von Tatsachen und Zahlen. Hier wird das Prinzip, nicht zu fabulieren, sondern typisches Schicksal auf Grund von unanfechtbaren Tatsachen zu erzählen, doch ein wenig übertrieben. Die Auf­gabe des Dichters ist es nicht, den Wirtschafts­teil einer Tageszeitung abzuschreiben oder nachzuahmen, sondern Ereignisse, ob sie nun erfunden oder der Wirklichkeit entnommen sind, plastisch, lebendig zu gestalten. Die pla­stische, lebendige Gestaltungskraft vermißt man an vielen Stellen dieses Werkes; sie macht erst in den letzten Kapiteln, in der erlebten Schilde­rung des Arbeitslosenschicksals, die „sachliche“ politische und wirtschaftliche „Reportage“ zum Roman.

Ein Einzelschicksal wird analysiert, wie die Weltwirtschaft analysiert wird. Ein Mensch geht zugrunde, weil die Rüstungsindustrie dunkle Geschäfte abschließt, weil Geld für den Krieg verpulvert, statt zum Aufbau neuer Städte verwendet wird, weil Absicht und Unfähigkeit, Habgier und Gewissenlosigkeit der regierenden Mächte, der Bankdirektoren, Stahlmagnaten und Konservenfabrikanten der ganzen Welt die Menschheit in die große Krise dieser Zeit stürzen. Das Leben Karl Lackners wird eingeteilt in die verschiedenen Epochen wirtschaftlicher Konjunktur oder Depression, mit der Technik filmischer Montage wird das große Schicksal der Welt und das kleine Schick­sal eines einzelnen Menschen in Zusammen­hang gebracht. Man muß nicht der Meinung sein, daß die Zukunft des Romans auf diesem Gebiet liegt, man kann das neue epische Prin­zip, das Brunngraber experimentell anwendet, aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen oder man kann seinen Versuch im einezlnen als mißglückt betrachten – aber man muß sich mit dem Buch befassen, weil es aus dem ehrlichen Be­mühen eines begabten jungen Dichters erwach­sen ist, der sich auf neue Art mit der Welt auseinandersetzen, der eine neue Form des gesellschaftskritischen Romans schaffen will. Vielleicht wird gerade dieses Buch die Situa­tion des Romans der Gegenwart klären, der zwischen Dichtung und Reportage, Gestaltung und Bericht, Phantastik und Sachlichkeit ratlos hin- und herschwankt.

In: Salzburger Wacht, 10.1.1933, S. 6.

Edwin Rollett: Neue Romane (Colerus u.a.) (1921)

In Zeiten sozialen Tiefstandes blüht immer die Mystik, wendet sich der Menschengeist von der Gegenwart ab und sucht Zuflucht in Fernen oder phantastischen Ländern und Zeiten. Wohl noch selten hat der Wegzeiger der Literatur so entschieden von der Gegenwart weggewiesen, wie jetzt in der Nachfolge der großen Welterschütterung des Krieges. Der Realismus der Literatur hat Schiffbruch gelitten mit dem Niederbruche der materiellen Blüte. Die Tendenz der Dichtung stiebt von dem wirklichen unerfreulichen Geschehen weg, doch es gelingt nicht immer. Meist kann sich auch der Dichter seiner Erdgebundenheit nicht entziehen und es ergibt sich ein interessantes Wechselspiel von bewußtem Wollen und unvermerktem Haftenbleiben. Hinter der phantastischen Form birgt sich das Nachzittern wohlbekannten Geschehens von gestern oder es lugt aus dem Prunkgewande des Orients das Antlitz eines Gegenwärtigen. Die Auswirkungen großen Erlebens lassen sich auch in der merkwürdigsten Verkleidung nicht wegleugnen.

Egmont Colerus schafft ein Sodom,[1] ein Reich, dem Menschen des 20. Jahrhunderts nicht realer als Shakespeares meerumschlungenes Böhmen, ein Land der Phantasie. Und er belebt diese Stadt mit Menschen,’die die Brunst, die Grausamkeit und den zum Träumen gekehrten Sinn des Orients in sich vereinigen. Wühlende Leidenschaft, brutaler Sinnenrausch und Verbrechen durchwuchern die verglühende Stadt, in deren schwüler Hitze noch einmal alles Leben zu Riesendimensionen auswächst, alle Früchte, alle Blüten, alle Menschenliebe zur sattesten Feistheit aufschwellen, ehe der Schwefelregen sie vernichtet. Namunan, der Übermensch, Marduk, das Raubtier, nacheinander auf einem Königsthron, dessen gigantischer Bau auf einer feilen Priesterkaste ruht und von ihr vernichtet wird. Ein lebender Moloch, dem das Volk opfert. Greuel über Greuel, ein Chaos von Rausch und Taumel. Ihm gegenüber der körperlose Warner Sahadheva, das Symbol eines großen Gewissens und ein Einziger, der von dem Schmutz unberührt, menschlicher Reinheit lebt, um als Einziger dem Schwefelregen zu entrinnen und dereinst wieder in die Welt zu kehren als der Erlöser Buddha.

„Sodom ist nur ein Gleichnis.“ Dieser Satz geht wie ein Leitmotiv durch den Roman. Das Gleichnis einer aus den Fugen geratenen Welt, mag man hinzufügen, in der sich hemmungslos alle Raubtiertriebe entfalten können und die nach dem Schwefelregen einen Erlöser erwartet, der die Brücke vom Alten zum Neuen schlägt.

Schwere Sehnsucht liegt über diesem Werke. Die leuchtenden Farben einer jugendlichen Phantasie dringen aus den Bildern und hemmungslos, jünglinghaft schwillt der Stoff zu immer phantastischerer Menge. Symbol, Gleichnis und oftmals allzu deutliches Philosophieren folgen einander in einer reichen, bibelhaft getragenen Sprache und legen einen eigenartigen, exotischen Reiz um diese Dichtung, deren ungelöstes Gären einem „toten Freund und reinen Menschen“ zu eigen gegeben ist.

Nicht ganz so tief in die Vergangenheit flüchtet der jüngste Roman des Lyrikers Felix Braun: Die Taten des Herakles[2]). Sehr bezeichnend ist aus dem Altertum gerade das Rom des Tiberius und Nero und das gleichzeitige Athen der Epigonenphilosophie zum Schauplätze des Romans gewählt, während gegenständlich dem Urchristentum der Hauptteil des Interesses zugewendet ist. Daß ein Lyriker diesen Roman schrieb, zeigen seine Schwächen und seine Stärken. Starte Effekte und Bewegungen, farbenreiche Bilder sind vermieden. Auch dort, wo sie vielleicht am Platze waren, ist die zarte Aquarelltechnik beibehalten, die ihr Schwergewicht auf die Geistigkeit legt. In der Psychologie ist denn auch eine nicht gewöhnliche Tiefe erreicht. Die Wandlung des jungen Römers, der, dem Herakles geweiht, in stark veräußerlichter griechischer Religiosität seine ersten Jugendjahre lebt, um in einer eindringlichen Schule des Verzichtens und Mißlingens sich zur ethischen Höhe der Entsagung und zum Märtyrertode hinanzuläutern, ist bis in die verstecktesten Winkel ihres Werdens aufgezeigt. Mit liebevollen zarten Händen ist das Material einer Entwicklung zusammengetragen und ineinandergefügt zu einem Bauwerk, dessen wohlabgewogene // Harmonie unbewußt erhebt. Ohne je eine Absicht oder Konstruktion erkennen zu lassen, stellt der Verfasser alle Geschehnisse in dieser etwas schwermütigen Geschichte einer Jugend unter den einen Gedanken, der den Kern des Werkes enthält: „Du mußt deinen Gott in dir bestatten wie einen Samen, daß er aufblühe und Frucht und Schatten gebe.“

Stoffauswahl und Problemstellung dieses Romans sprechen deutlich für einen innigen geistigen Zusammenhang mit den Fragen der Gegenwart und man wird kaum fehlgehen, wenn man das dem Buche vorangesetzte Apostelwort: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ als den Klageruf eines Modernen betrachtet, der an dem Zwiespalt von Geist und Materie krankt.

Nicht annähernd so gläubig und Gott ergeben, aber fester geht Josef Gregor in dem kurzen, inhaltsreichen Roman Erben[3]) an das Problem des jüngst Vergangenen heran. An der Küste des Adriatischen Meeres, wo die vielerlei Machtbestrebungen der im alten Österreich vereinten Stämme zusammentrafen, baut er sein Symbol: Der letzte Sprosse der alten Familie der Scaliger wird durch ein eigentümliches Erbe aus einem lässigen Dandyleben herausgerissen und verwandelt. Sein Erbteil ist ein Schrein voll Plänen und ein junges Weib. Mit dieser Erbschaft kommt der Geist seiner Vorfahren über ihn und das „aus sieben Jahrhunderten getürmte Erbe“ der Scaliger gebiert sich. Was die Vergangenheit ersonnen, eine „urbs splendida“, Genua, Florenz und Venedig niederzuschlagen, soll nun durch seine Hand verwirklicht werden. Er wächst zum Übermenschen. Orgien der Arbeit beginnen, und es entsteht das Riesenwerk der Metropolis mit Werfte, Reederei, Hafenanlage und voll der wundersamsten südlichen Pracht. Nur auf die Person des Gründers gestellt, bleibt das Riesenwerk aber dem Volke fremd und findet nur zur Staatsgewalt Verbindung, die eben-

so vereinsamt und fremd auf den Völkern lastet. Als Repräsentanten dieser Macht führt der Autor eine Person ein, die an Klarheit der Problemstellung und scharfer Plastik das Bedeutendste an dem Roman ist. Fürst Ferdinand, sichtlich nach dem Modell des ermordeten österreichischen Thronfolgers geformt, selbst ein Erbe, in dem sich ein Jahrhunderte getürmtes Gut gebären will, eine eiserne Herrschernatur voll eigenwilliger, vergewaltigender Liebe mit der Tragik des Unverstandenen an sich, deren Lanzknechtkraft am Hasse derer zerschellt, die keinen Vätergeist verwalten, sondern nach eigenem mündigen Leben schreien. In parallelem Ablauf zu dieser Fürstentragödie vollzieht sich das Schicksal des großen Schiffsherrn, der auch keine Kompromisse kennt und sogar dem Volke selbst das Erbe seiner überkommenen Machtbestrebungen aufzwingen will. Hohn, Erpressung und die unlautersten Kampfesmittel sind die Antwort, sind sein Fall. Ein Chaos der wildesten Leidenschaft und widerstrebendsten Wünsche verschlingt die Erben – alle. Ein

großer Untergang, ein Schwefelregen Sodoms, ist das Ende, nach dessen vernichtender Gewalt als letztes Wort wieder nur eines übrig bleibt: „Lasset uns beten, da der Letzte gestorben ist, daß dir Ersten wiederkämen.“

In einer am Expressionismus vielfach geschulten Form sind in diesem Roman die Ideen in reiner Form gegeneinandergestellt, und durch ein starkes Herausarbeiten alles Intellektuellen stellenweise sehr starke Wirkungen erreicht. Das Problem der großen Umwälzung ist klar und rückhaltlos ergriffen und geformt.

Was dem einen ein Kreuzweg ist, kann dem anderen zum, nachdenklichen Spaziergang werden. Auch das letzte nachgelassene Werk Thaddäus Rittners [4]) beschäftigt sich mit dem Problem der sozialen Umgestaltung. Aber während Gregor die  frühere Ordnung der Dinge zu erfassen strebt, rückt Rittner in seiner ironischen Jules Verneiade Die Geister in der Stadt der unmittelbarsten Gegenwart an den Leib und führt sie liebenswürdig ad absurdum: „Die Zeit des Schaukelns ist vorbei.“ „Geld und Muskeln waren oben.“„Man wußte wohl, daß es sogenannte Intellektuelle gab. Doch beunruhigte das keinen Menschen; denn nach § 327 des Staatsgrundgesetzes sind mittellose Subjekte mit schwerem Kerker zu bestrafen.“ In diese erbauliche Stadt zaubert nun der junge Zyprian ein Theater – kein Kino, kein Varieté – ein Schauspielhaus, und noch dazu eines, in dem richtige Geister alle Theater-  und Dichterträume, seiner Kindheit ver- // wirklichen und durch die Ungewohntheit bald zur ersten Sensation machen. Er, von den Geistern reichlich mit Millionen versorgt, wird ein angesehener, umworbener Herr, der Bräutigam der Bürgermeisterstochter, und die Kunst gewinnt Kredit, so viel, daß ihn auch die Katastrophe des Geisterhauses nicht erschüttern kann; denn „wahrscheinlich hatten die Herren die Rentabilität solcher Unternehmungen eingesehen“. Siehe da, die sogenannten Intellektuellen gewinnen die Oberhand, wiegen sich im Bewußtsein unerschütterlicher Sicherheit, „bis eines schönen Tages im Mai…“ Damit  schließt das Büchlein. Das Rad der Zeit rollt weiter. Es hieße den schnurrigen Stil des Romans verkennen, wollte man von „über dem Leben stehen“, „Weltweisheit“ oder ähnlichem sprechen. Viel eher ist vom Geiste Wilhelm Busch etwas darin zu finden. Und das Übersinnliche, seit jeher Rittners Eigenheit, verwächst mit dem Humor zu einem niedlichen Mummenschanz, zu einer Marionettenbühne, auf der die Menschlein Theater, nichts als  Theater spielen.

Die entscheidende Bedeutung, die der Schaubühne in diesem öffentlichen Leben zugedacht ist, paßt auch ganz in den Ton leichter Satire hinein. Anders als lächelnd kann man doch  kaum an die Menschen heran, denen Kulissenluft und Garderobenzauber das Alpha und Omega des Lebens sind. Gewiß haftet jedem Theater ein romantischer Hauch an, sind  Konflikte und Abenteuer in dieser Sphäre häufiger; aber wenn Kory Towska in ihrem Prinzen von Hysterien[5]), den Schatten Josef Kainz‘ beschwört und ihm, als eine Art Gottmenschen, noch nach seinem Tode magische Kräfte zuschreibt, so ist das etwas anderes, als wenn Gregor das Problem eines Fürsten gestaltet. Ihm handelt es sich um menschliches, ihr um theatralisches Geschehen. Dabei steht die Verfasserin auch keineswegs über ihrem Stoffe, sondern sehr leidenschaftlich mitten darin, kämpft pro und kontra und verschont nicht rechts noch links. Ob die Personen nun ihre wirklichen oder erfundene Namen tragen, jeder nur einigermaßen Kundige weiß doch, woher die Elemente stammen. Das aber sollte nicht sein. Gewiß kann kein Schriftsteller ohne Modelle schaffen; aber das Rohmaterial des Lebens zu stilisieren und zu einem Kunstwert zu formen, ist eigentlich die Arbeit des Schriftstellers.

[…]

In: Wiener Zeitung, 23.10.1921, S. 3-5.


[1] [Originalfußnote] Verlag von Ed. Strache in Wien.

[2][Originalfußnote] Rikola-Verlag in Wien.

[3] [OFN] Verlag von Ed. Strache in Wien.

[4] Rikola-Verlag, Wien

[5] [OFN] Wien, Donau-Verlag.

Hermann Menkes: Neue Romane (1920)

Trotz der Abgeschlossenheit, in der wir leben, ist in unserer Zeit das Interesse für fremde Kulturen, Länder und Völker in verstärkter Weise wach geworden. Während des Krieges sind die Maler und Zeichner nach Polen, Rußland und in den Orient gekommen und haben da in einem farbigeren und volkstümlicheren Leben ihrer Kunst Verjüngung und neuen Reiz zugeführt. Den Schriftstellern offenbarten sich in der Fremde Sitten und Lebensanschauungen, die ihnen bisher verschlossen waren.

Der Roman „Menschen im Abgrund“ von Jakob Fingermann (Wien, R. Löwit Verlag) ist aus derartigen Erlebnissen entstanden. Ein zumeist jüdisches Milieu in einer polnischen Stadt wird vorgeführt, Menschen im Krieg mit einer heftigeren Lebensgier, einer zäheren Tragik. Ein Judenroman, aber keine der üblichen Gettogeschichten mit der schwermütigen Poesie des Verfalls. Eine- soziale Note ist in der Darstellung Fingermanns, etwas von bitterer Anklage. Er zeigt die seelischen Zerstörungen des Krieges, eine Anarchie der Empfindungen und eine sittliche Verelendung. Mehr noch als die menschlichen Physiognomien ist das Gesicht der Judenstadt Lublin gezeichnet mit ihren so grausamen Kontrasten von Elend und verschwenderischer Lebensführung, moralischer Fäulnis und Idealismus. Ein unsagbar korrumpiertes Europa gibt sich als Scheinkultur dieser Stadt, in der Brände der Leidenschaft emporlohen und hungrige Sinne nach Genuß lechzen.

In diesen Strudel hineingezogen sind die österreichischen Offiziere. Es ist eine glühende, sinnliche Atmosphäre in dem Buche, das mehr dramatisches als erzählerisches Temperament zeigt. Es ist hier nicht das am Geistigen hängende Judentum, sondern das merkantile und irgendwie in den sittlichen Abgrund geratene. Es sind auch nicht die stillen, leidvollen Frauen des Gettos, sondern Messalinanaturen, die bedenken- und seelenlos nur mit den Sinnen lieben. Die Stärke des Romans mit seinen wechselnden Bildern liegt in der Unmittelbarkeit der Darstellung, sein Reiz in dem fremden Milieu, seine Schwäche in einer gewissen Flüchtigkeit, die die Konturen nur andeutet und in einer an der Oberfläche haftenden Psychologie die Geschehnisse abbricht, aber nicht zu innerem Abschluß bringt. Trotzdem ist dieser Roman ein interessantes Zeitdokument von mancherlei schönen literarischen Qualitäten, das unsere Teilnahme bis zuletzt wachzuhalten versteht.

Als ein „fast heiteres Judenbuch“ gibt sich die Sammlung von Erzählungen und bekenntnisreichen Auseinandersetzungen, die unter dem Titel „An den Wassern von Babylon“ bei Georg Müller in München erschien. Jüngere deutsche Schrift­steller jüdischer Abkunft grenzen hier ihr Verhältnis zum Volke, dem sie entstammen und zum andern, in dessen Mitte sie leben und dessen Kultur zu ihrer eigenen geworden, ab. Damit berühren sie ein Problem, das einen tragischen Zug und Zwiespalt in das Empfinden des jüdisch-deutschen Kulturmenschen bringt. Die vier Dichter, die sich hier aussprechen,. sind Nach beiden Richtungen hin treu und wurzelstark. Sie finden einen harmonischen Ausgleich zwischen zwei Welten und meinen, daß gerade daraus etwas Neues und Wertvolles entsteht: ein weltmännisch orientiertes Deutschtum. Am schönsten und gefühlsmäßigsten gibt dem Hermann Sinsheimer in seiner Knaben­geschichte „An den Wassern von Babylon“ Ausdruck. Sehr sinnig ist das Sehnen eines Kindes nach dem Heimatlichen geschildert, das in seiner Phantasie mit der Urheimat seines Volkes ver­schmilzt. Lion Feuchtwanger läßt den ewigen Juden in moderner Fasson und mit ironischen Auslassungen über den Antisemitismus erscheinen. Auch Fritz C a s s i r e r s „Breviarium Judaicum“ ist eine Abrechnung mit nationaler Beschränktheit und blindwütendem Haß, während Paul Schlesinger allerhand jüdische Menschlichkeiten in einer Anekdotenreihe witzig beleuchtet. So ist aus dem Ganzen ein Buch der Verständigung geworden, das man auch bei persönlich abweichenden Anschauungen gutheißt.

In: Neues Wiener Journal, 27.5.1920, S. 3.