Stefan Zweig: Der Weg Hermann Hesses (1923)
Jede erreichte Höhe wird immer Wiederkehr eines Anfangs: so ist gerade der berühmte, der allbeliebte Künstler ähnlich und vielleicht noch mehr als der unbekannte in eine Art von Anonymität eingeschlossen; er lebt umkrustet, petrifiziert innerhalb des glatt-handlichen Begriffes, den sich die Welt von seiner Eigenheit geschaffen hat, und seine tiefsten Wandlungen und Verwandlungen gehen unter dieser Fläche gleichsam geheimnisvoll und für die anderen unbemerkt vor sich. Die Öffentlichkeit starrt immer nur auf den Schatten, den der Frühschein ersten Erfolges von einem Dichter in die Welt geworfen hat, lange merkt sie es nicht, daß inzwischen der lebendige Mensch — bergan oder bergab — seiner einstigen Form entwandert ist. Eines der zeitgemäßesten Beispiele solchen ungenauen Sehens scheint mir die Wertung Hermann Hesses, über dessen allgemeiner, breiter, wohlgefälliger, ja bis ins Familienpublikum hineingewärmter Beliebtheit die merkwürdige, erstaunliche und bedeutende. Wandlung und Vertiefung seines dichterischen Wesens beinahe unbemerkt geblieben ist. Und doch weiß ich in der neueren deutschen Literatur kaum einen gleich sonderbaren, mit allen Windungen im letzten doch geraden Weg der inneren Entfaltung als den seinen.
Hermann Hesse hat vor etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren begonnen, ganz wie ein württembergischer Pastorssohn zu dichten beginnt: mit Versen, mit sehr weichen, versehnten Versen. Er saß damals als Buchhandlungsgehilfe in Basel, war bitter arm und allein: aber wie immer bei solchen sehnsüchtigen Dichtern, je bitterer das Leben, um so süßer die Musik und die Träume. […] //
Dann kam der Krieg, der — es brennt einem der Mund, ihm ein Verdienst nachsagen zu müssen — durch den Überdruck der Atmosphäre aus so viel Menschen das Entscheidende herauspreßte: er hat auch in Hesse den inneren Durchbruch gefördert. Sein ganzes Leben geriet damals aus einander: das eigene, helle Haus war längst verloren, die Ehe geendet, die Kinder in der Ferne; allein inmitten einer stürzenden Welt, zurückgestoßen in seiner zerschmetterten, romantischen Gläubigkeit an Deutschland und Europa, mußte er sich wieder wie ein Unbekannter, ein neuer Anfänger an das Werk stellen. Und aus einem prachtvollen Gefühl für diese tiefe Umackerung seines Wesens, für die vollkommene Erneuerung seines Schicksals, für den nochmaligen Lebensbeginn hat damals Hermann Hesse etwas getan, was seit absehbarer Zeit in Deutschland kein Dichter von Rang gewagt hatte (und jeder einmal in seinem Leben versuchen sollte): er hat das erste Werk seiner neuen Epoche nicht unter der gesicherten Flagge seines Namens, sondern in strengster Anonymität eines gleichgültigen Pseudonyms in die Welt geschickt. Plötzlich machte in literarischen Kreisen der Roman eines unbekannten Emil Sinclair Aufsehen: Demian hieß das sonderbar dunkle, tiefgründige Buch, das von einer Jugend in einer merkwürdig verästelten, bis in das Dunkel der Seele hinabgreifenden Art erzählte. Als ich es las, dachte ich an Hesse dabei, Mex ohne Vermutung, er könnte der //Autor sein: ein Schößling seiner Art schien mir dieser Sinclair, ein junger Mensch, der Hesse viel gelesen, aber ihn doch an seelischem Wissen, an seltener Aufrichtigkeit weit überwachsen hatte. Denn hier fehlte gänzlich dies Ausweichende, dies Zaghafte in der Psychologie, im Gegenteil, hier bohrte sich mit einer ahnungsvollen Überwachheit ein gesteigerter Sinn an das Geheimnisvolle des Lebens heran, die Wasserfarben der seelischen Erlebnisse, die früher mit zarten Pinselstrichen über die dunklen Schicksale hinzitterten, waren hier sinnlichen, warmen Tönen gewichen. Und mein Erstaunen war Respekt, als ich zwei Jahre später erfuhr, daß Emil Sinclair Hermann Hesse sei, aber ein neuer Hermann Hesse, der an sich selbst herangelangte, der wirkliche, der Mann Hermann Hesse, nicht der Träumer mehr.
Diese Grenze ist heute ganz deutlich und sie reicht tief hinab bis in das innerste Wurzelwerk seines Wesens. Nicht nur daß die Problematik des einst so sanften Betrachters eine tief hinabdrängende, dem Dunkel sich ansaugende geworben ist, daß von einem inneren Sturm seinen Menschen jeder sentimentale Hauch vom sprechenden Munde weggeweht ist – ganz im Unfaßbaren, im Schauen, in der Pupille waltet nun ein anderer, ein wissenderer Blick. Geheimnis umwaltet ja von je das unsichtbare Fortschreiten eines Künstlers in sich selbst hinein, dem Worte nicht beikommen: bei Malern ist es offenbarer, da sieht man geradezu sinnlich, wie ihnen mit einem Male – etwa, wenn sie nach Italien kommen oder zum erstenmal einen neuen Meister schauend erleben – nach langen Versuchen urplötzlich das Geheimnis des Lichtes oder der Luft oder der Farbe aufgeht, wie eine Epoche in ihrer Kunst beginnt. Bei dem Dichter ist solche Verwandlung minder tastbar, nur der Nerv kann sie erfühlen. Wenn Hesse heute einen Baum beschreibt oder einen Menschen oder eine Landschaft, so vermag ich’s eigentlich nicht zu erläutern, warum dieser sein Blick, sein Ton nun anders ist, voller, sonorer, klarer, vermag es nicht zu sagen, warum da alle Dinge um einen Grad wahrer und näher bei sich selber sind. Aber man lese doch selbst gerade jene ganz zufälligen Bücher nach Sinclair s Notizbuch (bei Rascher & Co., Zürich), und die Wanderung (S. Fischer), die beide mit seinen eigenen Aquarellen geschmückt sind und vergleiche sie mit seinen jugendlich-lyrischen Schilderungen. Hier ist alles Saft und Kraft in der Sprache und jene große Sparsamkeit, die sich nur die Fülle gestatten darf: noch wogt die alte Unruhe darin, nur jedoch gleichsam mit tieferem Wellengang. Aber das Reifste, das Reichste, das Eigenartigste, was dieser neue Hesse bisher gegeben, ist sein Novellenbuch Klingsors letzter Sommer (S. Fischer), ein Werk, das ich mit bewußter Wertung zu dem bedeutendsten der neuen Prosa zähle. Hier ist eine seltene Verwandlung erreicht: das Sehen ist magisch geworden, es schafft gerade im Dunkel einen zitternden phosphoreszierenden Schein aus eigener Seelenkraft, der das Geheimnis der wirkenden Kräfte erhellt. Nichts umfängt es mehr flächenhaft und lau, dieses geballte funkelnde Licht, ihm wird das Leben schicksalshaft und dämonisch, eine elektrische Atmosphäre, die aus ihren eigenen Kräften sich ein abgründiges Leuchten schafft. In dem Lebensbilde des Malers Klingsor sind bewußt Van Goghsche Farben in Prosa umkomponiert, und nichts zeigt deutlicher den Weg, den Hermann Hesse gegangen – von Hans Thoma, dem schwarzwäldischen, idealistischen, flachlinigen Malerpoeten zu jener besessenen Magie der Farben, zu dem ewig leidenschaftlichen Disput von Dunkel und Licht. Und je unfaßbarer, vielfältiger, geheimnisvoller, je magischer, verworrener und auflösender er nun die Welt empfindet, um so sicherer, um so klarer steht der Wissende nun in sich selbst; die merkwürdige Reinheit der Prosa, die Meisterschaft des Aussagens gerade dieser unsagbarsten Zustände gibt Hermann Hesse heute einen ganz besonderen Rang in der deutschen Dichtung, die sonst nur in chaotischen Formen oder Unformen, im Schrei und der Ekstase das Übermächtige zu schildern und zu reflektieren sucht.
Von dieser Sicherheit, dieser Sparsamkeit ist auch Hesses letztes Werk erfüllt, seine indische Dichtung Siddhartha (S. Fischers Verlag). Bisher hat in seinen Büchern Hesse immer über sich sehnsüchtig hinausgefragt in die Welt: hier versucht er zum erstenmal zu antworten. Seine Parabel ist nicht hochmütig oder weise-lehrhaft, sie ruht in einer gelassen atmenden Betrachtung: niemals war sein Stil klarer, durchsichtiger, unbeschwerter als in dieser beinahe sachlichen Darstellung der geistigen Pfade eines Menschen, der ungläubig-gläubig immer näher an sich selbst gelangt. Nach den düsteren Melancholien, den purpurnen Zerrissenheiten des Klingsor-Buches schwingt sich hier die Unruhe zu einer Art Rast: eine Stufe scheint hier erreicht, von der Ausschau weit in die Welt verstattet ist. Aber man spürt: es ist noch nicht die letzte. Denn das Wesentliche des Lebens ist nicht seine Ruhe, sondern seine Bewegtheit. Wer ihm nahe bleiben will, muß in ewiger Wanderschaft des Geistes, in ewiger Unruhe des Herzens verharren, jeder Schritt dieser Wanderschaft ist gleichzeitig ein Nahekommen zu sich selbst. Selten habe ich das im Umkreis unserer deutschen Literatur stärker bei einem gegenwärtigen Dichter empfunden als bei Hermann Hesse. Ursprünglich gewiß minder begabt im Sinn von Begnadung als andere und weniger durch eingeborne Leidenschaft an das Dämonische des Daseins hingedrängt, ist er allmählich durch diese tiefe Ruhelosigkeit näher an sich selbst, tiefer an die wahre Welt gelangt als alle Gefährten seiner Jugend, und weiter über seinen eigenen Ruhm, die allgemeine Beliebtheit hinaus: seine Sphäre ist heute noch nicht ganz zu umgrenzen und ebensowenig seine letzten Möglichkeiten. Aber dies ist gewiß, daß alles dichterische Werk, das heute nach solcher innerer, gleichzeitig entsagender und beharrender Verwandlung von Hermann Hesse ausgeht, Anspruch auf äußerste moralische Geltung und unsere Liebe hat, daß man hier einem mehr als Vierzigjährigen, bei aller Bewunderung für das meisterlich Getane, noch die gleiche Erwartung wie einem Beginnenden entgegenbringen darf und soll.