Rudolf Jeremias Kreutz: Robert Hohlbaum: Die deutsche Passion. (1926)

Der Epiker Robert Hohlbaum ist eine stete Hoffnung, die unaufhaltsam nach Erfüllung drängt. In jedem seiner Bücher spürt man gleichsam ein tiefes, leidenschaftliches Atemholen: fleißig trainierte, geschmeidige, wenn auch nicht athletische Kraft strafft sich zum Sprung nach dem Erfolg. In jedem seiner Romane sind Ansätze zum Erzähler großen Stils, in jedem aber auch drohen Grenzen, türmen sich Schranken. Die deutsche Welt, Von ihm in heißer Seele umschlungen engt ihn, gerade weil sie ihn allzu innig beglückt. Die Objektivität im Goetheschen Sinne, jene kühle, scharfäugige Liebe zum Objekt – in Hohlbaum lodert sie allemal in Verliebtheit auf. Dies mag vom Standpunkt des tendenzdeutschen Schriftstellers ein Vorzug sein, dem Werke des Dichters geschieht naturnotwendig Abbruch. Wohl gehört Hohlbaum keineswegs zum Kreise jener germanischen Infallibilitätsherolde, deren lehrhaftes Pathos nur noch von ihrer abgründigen Langweiligkeit übertroffen wird, doch zeigt eine Einstellung zur Problematik deutschen Wesens öfter das begeisterungsdurchglühte Gesicht eines Couleurstudenten, als das Antlitz eines Mannes, der sein Volk auch dort kennt, wo es weniger liebenswürdig ist. Aus solcher Einseitigkeit erwachsen Vorzüge und Mängel seiner Werke. Immer steht ein junger Fant im Mittelpunkte der Handlung, ein frischer, herzfroher Geselle, dessen anmutiger Entwicklung wir mit aufrichtiger Anteilnahme folgen. Stets rankt sich um das Schicksal der Hauptperson episodistisches Beiwerk, das Folie bleibt für den ewigen Lenzkampf des Helden, den er gegen feindliche Gewalten erfolgreich ausficht. Liebe, Leid, welsche Tücke, zuweilen ein schwarz gemalter Widersacher aus eigenem Stamm – aus solchem Quellgebiet ergießt sich eine Fülle Jugend über uns: helläugig, rein, köstlich wohlgemut, aber auch befremdlich voraussetzungslos. Dieses gefühlsmächtige Strömen aus eigener Jugend zu ähnlicher Jugend hin, dieses unbedenklich innige sich Verstreuen ist Hohlbaums stärkste Kraft. Sie bezeugt den geborenen Erzähler. Mühelos, spielerisch – das fühlt man – fügt sich ihm Bild zu Bild. Der Lust zum Fabulieren gesellt sich eine beträchtliche Plastik der Formgebung, insbesondere dort, wo ein Milieu geschildert, der Hintergrund eines Schicksals gezeigt wird.

Nicht auf gleicher Höhe steht die Schicksalsgestaltung selbst. Selten nur springt eine Individualität scharfen Profils aus dem Rahmen. Die Menschen gleiten farbig, aber wenig körperhaft an uns vorbei. Hohlbaum erfaßt deutsche Vergangenheit kulturhistorisch ungemein geschickt, der Ausdruck der Zeitepoche ist sprachlich verblüffend echt getroffen. Diese virtuose Fähigkeit museale Garnituren zu beleben, gab dem Dichter wohl auch Ansporn und Mut zu einer Trilogie deutschen Leidens, Kämpfens und Werdens. Ein Stoff von bedrückender Größe, gemessen nicht nur an der Kühnheit des Vorwurfes, deutsches Schicksal vom Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bis in das achtzehnte Jahrhundert episch zu gestalten, sondern vornehmlich durch die Schwierigkeit, Menschen glaubhaft lebendig in das historisch Gegebene zu stellen. Den Milieuteil der Aufgabe, ihren dekorativen Prospekt gleichsam, löst1 Hohlbaum in der Deutschen Passion auf das glücklichste. Und das will nicht wenig sagen angesichts des Umstandes, daß jenes von allen guten Geistern verlassene Deutschland der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bisher überhaupt kaum einen Schilderer gefunden hat. Der törichte und unfruchtbare Kampf zwischen Luthertum und Katholizismus, die Rohheit entlassener Kriegsknechte, der Seelenpferch des Ghettos, die öde Lebensgier der besseren Stände, die »Affenschande der à la Moderei“ – das alles zieht in farbenglühenden Wandelbildern an uns vorüber. Die Menschen freilich erscheinen der Mehrzahl nach als Statisten im gewaltigen Panorama. Sie agieren in ihrem Charakterellen schemenhaft wenngleich sie in Sprache und Gehaben vortrefflich dem Bilde eingefügt sind. Sie stellen weit mehr Figurinen dar als Individuen, sie fesseln durch die Echtheit ihrer Kostüme, ohne menschlich sonderlich zu interessieren. Zwei nur treten schärfer konturiert aus der Menge: Michel Moschewin, der Vorbilddeutsche, in die chaotische Tragik seines auf blutigen Irrwegen taumelnden Volkes als ein „Held Unverzagt“ gestellt, und Schmul Kurtzhandel, der Jude. In diesen beiden – Pol und Gegenpol – stecken, von der mitunter allzu grellen Weiß- und Schwarztechnik und seiner wohl unbewußten Verbeugung vor gewissen völkischen Instinkten abgesehen, kräftige Ansätze zur Charakterformung. Moschewin = Baldur und Kurtzhandel = Loki leben, haben Fleisch und Blut. In ihnen glimmt etwas von dem „dreimal glühenden Licht“, das dem Künstler leuchten muß, auf daß er den aus dem Handgelenk spukendem papierenen Geist des Schreibtisches überwinde. Insbesondere in einzelnen Ghettoszenen gewittern Spannungen geheimnist ein Grauen, das stilistische Findigkeit nie vermitteln kann. Hier tritt ein ander[e]s hinzu, unwägbar, kostbar und selten im Reiche des Schaffens: Sparkunst am leeren Wort — Wirkung des Dichters. Robert Hohlbaum, der Dichter, ist des fruchtbaren Schriftstellers wesentlicherer Teil. Auch Die deutsche Passion erweist dies wieder, seinen vielen Freunden zum Wohlgefallen

 In: Neue Freie Presse, 13.6.1926, S. 32.

Rudolf Holzer: Neue Romane (H. Mann – Wassermann – Stehr) (1919)

In nicht großen Abständen sind in letzter Zeit drei umfangreiche Romane erschienen, die, abgesehen von ihrer ästhetischen Bedeutung, wahrhaftig Spiegelungen und Dokumente der gegenwärtigen Zeit sind. Der künftige Kultur- und Literaturhistoriker wird aus ihnen einst unsere Geistesverfassung, unser menschliches Sein in diesen Tagen, unseren Anteil an den Forderungen der ewigen Entwicklung lesen können. Unabhängig von ihrem literarischen Werte darf man die drei Romane auch als Schöpfungen dreier bedeutender Schriftsteller, an sich als charakteristische Erscheinungen bezeichnen. Heinrich Mann, Hermann Stehr, Jakob Wassermann sind so sehr schöpferisch, daß sie kraft ihrer Naturen und Begabung nicht leere Abschreiber des Tages, sondern Träger der latenten Ideen und Konflikte sind.

Im Stile und Realismus des platten, politischen, tendenziösen Pamphlets ist Heinrich Manns Roman Untertan gehalten; er enthüllt angeblich das Abbild des Deutschlands Wilhelms II. Am Scheitel des Bogens schwebt, entrückt der Alltäglichkeit und dem Dutzendgeschmack, das literarische Gebilde Wassermanns Christian Wahnschaffe; jenseits ruht der Bogen verdichtet in Hermann Stehrs Roman Der Heiligenhof, im deutschen Neumystizismus, in einem Sozialismus, der an Urchristentum anknüpft.

Der Roman Heinrich Manns Der Untertan[1] wurde kurz vor dem Kriege beendet; er erschien zuerst in einer Wochenschrift im Frühjahr 1914, wurde aber als eine geschmacklose Verletzung der Stimmung bald nach Kriegsausbruch abgebrochen. Heute feiert er – leider! – als zu wahrhafter Satire geworden, eine Auferstehung; er nimmt sich — leider! — geradezu als ein historisches Kulturwerk aus; er segelt heute als Sittengeschichte des Deutschen Reiches zu Ansang des 20. Jahrhunderts in die Öffentlichkeit. Nun, zu dem Anspruch, ein wirkliches Bekenntnisbuch zu sein, fehlt ihm Objektivität und Unbefangenheit. Mit Haß und Hohn ist man niemals ein gerechter Zeuge. Heinrich Mann vermeint, die Psyche des braven, gehorsamen Untertanen enthüllt zu haben. Sein bürgerlicher Kleinindustrieller Diederich Heßling, dieses Muster eines Nationalgesinnten, beweist nur leider nichts, denn Mann bildet ihn als Ausbund der Einsichtslosigkeit, Dummheit, Charakterlosigkeit. Nach einem kurzen, in

Berlin verlaufenden Vorspiel, wohin der junge Diederich gelangt, um Chemie zu studieren, setzt sich die eigentliche Handlung in einer typisch preußischen Stadt, nicht allzu weit von der Reichshauptstadt gelegen, um die Zeit der Neunzigerjahre fort. Heßling wird zum Träger angeblich neudeutscher Kultur, die nach Manns Darstellung nichts anderes ist als knechtische Unterordnung und Bewunderung des preußischen Militärstaates. Der „Untertan“ Diederich Heßling, Fabriksdirektor und Unternehmer, wird als Typus des Geschäftssinnes und der Schneidigkeit des preußischen Staatsbetriebes gekennzeichnet. Bald stößt er natürlich mit den politisch Freisinnigen der Stadt zusammen; namentlich mit dem klugen und menschenfreundlichen Achtundvierziger Buck. Die Gutheißung der Erschießung eines Arbeiters durch einen militärischen Posten, eine Denunziation wegen Majestätsbeleidigung, eine vom Gerichtshof und den Zeugen liebedienerisch durchgeführte Verhandlung, zweifelhafte Kompromisse mit anderen politischen Strömungen, eine Reichstagswahl, die Errichtung eines Kaiserdenkmals, das sind die einzelnen Szenen der Handlung, die immer nur Gelegenheit gibt, Diederich Heßling als lächerlichen und widerlichen Gesellen zu kennzeichnen. Er wirkt durchaus als Karikatur. Der offizielle Geist der vergangenen Jahre wird mit beißender, höhnischer Laune dargestellt, wird als am Staate nagendes Gift, als Produkt der Fäulnis geschildert, des in seinem hohlen, geschmacklosen Protzentum, seinem stets die Ideale der Nation im Munde führenden Materialismus den Staat dem Abgrund entgegentreibt. Mann weidet sich an dem bekannten Pathos der Reden Wilhelms II., die Adel und Bürgertum Deutschlands einlullten. Aber in Heßlings Munde werden sie zu unausstehlichen Trivialitäten, zu fürchterlicher Satire. Der gehorsame und getreue „Untertan“, der keinen anderen Ehrgeiz kennt, als seinem kaiserlichen Herrn zu dienen, wird bei Mann zu einer verzerrten und lächerlichen Kopie des Monarchen. Seinem Charakter nach ein hohler, eitler Komödiant und Streber, schwindelt und bramarbasiert sich Heßling in der Kleinstadt zu Einfluß, und Macht empor, spielt dort den nationalistischen Scharfmacher, bedrückt seine eigenen „Untertanen“ – die Angestellten seiner Fabrik – macht zweifelhafte Geschäfte, liegt vor jeder höheren Macht im Staub, ist aber brutal und rücksichtslos nach unten und findet endlich seinen Ehrgeiz als Generaldirektor, anerkannter Patriot und Festredner bei einer Denkmalsenthüllung gekrönt.

Mit dem Rechte des Satirikers hat Mann den Diederich Heßling zu einem Zerrbild des Untertanen im Zeitalter des preußischen Imperialismus gemacht. Durch Verzerrungen hebt er die Schäden der Zeit schonungslos ins grellste Licht. Die kleine Stadt, Netzig, in der Heßling das große Wort führt, ist beherrscht und belebt von Anhängern des Imperialismus. Offiziere, Staatsbeamte, Pastoren, Industrielle, Oberlehrer, Frauen der bürgerlichen Welt, Damen aus der Halbwelt sind benebelt und berauscht von patrio-// tischen Gefühlen, die in Wahrheit der Ausfluß krassesten Egoismus sind. Es ist Mann kein Vorwurf zu machen, daß er in der Wunde seiner Zeit wühlte, es berührt jedoch nicht angeehm, daß er seinen Witz ausschließlich an Begriffe knüpfte, die dem nationalen deutschen Empfinden bisher achtenswert waren. Seine Schilderungen der Berliner Korpsstudenten, der politischen und moralischen Verhältnisse der Netziger Bürger sind überaus scharf und geistreich gesehen. Die Charakterlosigkeit und Feigheit, mit der sich Heßling der Militärpflicht entzieht, gleichzeitig aber mit seiner patriotischen und militärfreudigen Gesinnung flunkert, um später Aufnahme und Einfluß im Kriegerverein zu finden, das bürgerliche Leben, seine und die Liebesangelegenheiten der Netziger sind in dem Buche zu virtuosen Episoden verwertet. Der schärfste und reinste Niederschlag des Buches kommt aber in einer mit der Handlung gar nicht zusammenhängenden Analyse des Wagnerschen Lohengrin zum Ausdrucke. Da entgleitet dem Verfasser endgültig die Maske. Da verrät er sich endgültig als politischer Pamphletist, als – nach dem von Thomas Mann geprägten Ausdrucke – Zivilisationsliterat, als Parteigänger der undeutschen Empfindung, als Schriftsteller, dem für deutsches Fühlen und Denken nicht nur die Organe fehlen, sondern der allem Deutschen mit Hemmungen gegenübersteht. Um später einmal etwa als „historischer“ Roman zu gelten, fehlt dem Buche die einwandfreie Objektivität, aber Mann hat uns, was nicht zu leugnen ist, ein ironisches Werk von aufreizender Grausamkeit und Schonungslosigkeit gegeben. Daß das Buch vor dem Kriege entstanden ist, macht es ethisch einzig und allein erträglich; heute geschrieben, müßte man es als Ausdruck krankhaften Flagellantentums bezeichnen.

Jakob Wassermann, der zu Anfang des Krieges mit seinem Roman Das Gänsemännchen der neueren deutschen Literatur eine Dichtung von außerordentlicher Tiefe schenkte, legt jetzt in zwei Bänden die seltsames Seelengeschichte eines jungen Deutschen, Christian Wahnschaffe, vor. Sie fußt in einer Weltanschauung, in Gedankengängen, einem Stoffkreise, die auf die Anfänge aller Dichtkunst zurückgreifen. Wassermanns neues Buch ist die nach dem Himmel, nach der Erlösung anblickende Legende des Menschen und der Welt von 1919; es ist die modernste, aus der ursprünglichsten Gegenwart hervorwachsende Dichtung vom leidenden, durch irdische Entbehrung und Demut zu seelischer Befreiung und Erhebung strebenden Menschen von heute. Wer würde nicht durch den Helden des Romans, durch den mit allen glänzenden Vorzügen und Tugenden der Kultur, der Bildung, des Reichtums, der Lebensführung ausgezeichneten Christian Wahnschaffe an die Helden der alten lateinischen, deutschen, englischen Mysterienspiele und Moralitäten, an die der späteren Klosterspiele erinnert werden. Auch Christian ist ganz im Sinne lehrhafter Legenden eine Gestalt mit doppeltem Antlitze: jenem der Lebenslust und jenem der Askese, jenem der sieghaften Schönheit und dem des scheußlichen Lasters, dem der heidnischen Sinnenlust und dem der entsagenden religiösen Selbstkasteiung. Die geistige und literarische Verwandtschaft führt dann weiter über die großen psychologischen und moralisierenden Romane der Russen: über Dostojewski und Tolstoi, bis er in einem Neobuddhismus unserer Tage eine Art Glaubensbekenntnis formuliert.

Christian Wahnschaffe ist der Sohn eines jener unbegrenzt reichen Industriellen, in denen die Macht und Größe Deutschlands vor dem Kriege ihren eigentlichsten Ausdruck erhielt. Von der Natur verschwenderisch begabt, mit allen Vorzügen eines Lebemannes und Dandys ausgestattet, bildet er zunächst das Ideal eines jungen Mannes der großen Welt aus den paar führenden Familien Deutschlands. Es gibt keinen Genuß, der ihm nicht zugänglich, und keine Laune, die für ihn nicht einlösbar wäre. Sein Leben spielt sich in einem Stil ab, der bestimmt wird von unbegrenzten Einkünften, erlesenem Luxus, kultiviertester Schönheit. Dementsprechend tritt er auch kaum aus einer Umgebung, die anders empfindet. Eines Tages schießt ein Arbeiter auf seinen Vater, den Geheimrat Wahnschaffe. Dieses für sein äußeres Leben ohne weitere Folgen bleibende Geschehnis bringt ihn in Beziehung zu einem russischen Revolutionär, in weiterer Folge zum Proletariat. Vom Hochzeitsfeste seiner Schwester wandert er in die armselige Wohnung des wegen des Attentates verurteilten Arbeiters. Das menschliche Elend, das er kennen lernt, wirkt auf ihn derartig mächtig ein, daß er sich seines Vermögens entäußert, in freiwilliger Armut lebt und seinen Besitz mit Armen, am Leben Leidenden teilt. In einer elenden Matrosenschenke Hamburgs findet er die verkommene, halb vertierte Dirne Karen Engelschall. Er widmet sich ihrer Pflege und weicht bis zu ihrem Sterben nicht mehr von ihrem Lager. Christian nimmt mit diesem Leidenszug gleichsam das Kreuz auf sich, um sich selbst von dem Verbrechen seines Reichtums zu entsühnen. Er wird auch zum ruhelosen Sucher nach dem Mörder eines armen, einem Lustmorde zum Opfer gefallenen Mädchens, findet dann aber keineswegs in der Überantwortung des Mörders an die irdische Gerechtigkeit Befriedigung, sondern führt den Verworfenen zu seelischer Läuterung durch ein Geständnis, zu einer – vom Dichter allerdings bloß angedeuteten – Selbstsühne hinan…

Agitatorischer, fast inbrünstiger Trieb zum Bekennen der Menschenliebe und Menschengüte durchzieht dieses Buch; es ist in seiner Art ein Evangelium der Menschenliebe. In flammenden Worten predigt es die //Verwerflichkeit der Macht, des Reichtums und der Genußsucht. Wem noch irgend Zweifel bleibt über den Charakter von Wassermanns Buch als einem einer neuen, zeitgemäßester Sittlichkeit, der sei auf Christians Ende verwiesen: es ist eine Art „Himmelfahrt“, indem Wassermann Christian sich in Geistigkeit, im Fluidum sittlicher Reinigung einfach auflösen läßt; in dem der Dichter Christians kargen Rest von bürgerlicher Existenz im Namenlosen verschwinden läßt.

[…]

In: Wiener Zeitung, 31.1.1919, S. 2-4.


[1] Verlag von Kurt Wolff, Leipzig.

E. Guglia: Neue Romane (1919)

Thaddäus Rittner kennt man bis jetzt nur als Dramatiker. Er hat zwar einen Band Novellen veröffentlicht, aber das ist schon zwanzig Jahre her und vergessen. Dagegen sind seine Erfolge auf dem Theater, nicht zwar rauschende, aber tiefgehende, in frischer Erinnerung, sie reichen bis in die neueste Zeit. Das wird seinem vor kurzem erschienenen ersten Roman Das Zimmer des Wartens schon eine lebhafte Nachfrage sichern. Und er wird den Freunden seiner Dramen keine Enttäuschung bereiten. Er besitzt dieselben oder doch ähnliche Vorzüge: große Spannungen, starke, grelle Effekte wird man ja nicht erwarten. Aber alle die Feinheiten, die jene auszeichnen, sind da. Das Zimmer des Wartens, in dem wir am Beginn der Geschichte die Kinder mit einem Onkel so wie in E. T. A. Hofmanns Nußknacker und Mausekönig vor der Bescherung am Weihnachtsabend beisammenfinden, ist ein Symbol des Lebens für den Knaben zunächst, der der Held der Geschichte wird – aber darüber hinaus noch für viele, deren Leben sich in einem ewigen Warten verzehrt. Die harmlose Stimmung des Wartens im „Nußknacker“ verfliegt sofort: Onkel Theodor schlägt vor der verschossenen Tür, die ins Zimmer führt, wo der Christbaum angezündet wird, das tragische Motiv des Romans an: „Wie wäre es, wenn ihr sitzen und warten müßtet?“ Den Knaben ergreift ein Vor­gefühl seines Geschickes: er erschrickt tief in sich hinein. Der Dichter zeigt ihn dann aus einigen Stationen seiner Lebenspilgerschaft – es sind zart abgetönte Federzeichnungen mit melancholischen Arabesken. Wir heben drei davon heraus. Der Knabe kommt in eine „Anstalt“, in der wir sofort das Theresianum erkennen, dessen Zögling auch Rittner einmal war. Hier hat also der Roman einen autobiographischen Hintergrund. Wir werden mit dem Leben in einer sogenannten Kamerate bekannt gemacht, mit dem Präfekten, genannt Kamel, der sie beherrscht, mit verschiedenen Zöglingen, von denen fast jeder einen be­zeichnenden Spitznamen trägt: mit dem „Zuckerl“, dem „Hampelmann“, dem „Storch“, dem besten Springer Zilgitz, mit einem ewig büffelnden Ungarn, der in das  Geplauder der Kameraden über das Leben draußen und seine Verheißungen sein monotones Paradigma wirft: Cado, cadere, cecidi, casum, wir wohnen den Vigilien für Kaiser Karl VI. in der Kapelle bei, wo ein schwarzer Vorhang mit weißem Kreuz dem Knaben ein ähnliches Geheimnis zu bergen scheint wie einst die ver­schlossene Tür im Zimmer des Wartens. Wir lernen das Glück der Krankenabteilung kennen, in der man nicht zu lernen braucht und  ganze Tage ruhen und träumen darf. Auch ein Professor der Mathematik, Silius, tritt auf, der stark porträthafte, aber ins Phantastische gesteigerte Züge trägt. Dem fallen Hefte des Knaben in die Hand, in der dieser, ein früh­reifes Dichtertalent, versucht hat, Töne, Ge­rüche, Gedanken zu beschreiben: „Mensch, wach auf!“ sagt Silius zu dem Knaben. »Hörst du nicht den ersten Hahnenschrei? Das Leben be­ginnt. Und ich sage dir aus Erfahrung, sobald das Leben begonnen hat, ist es auch bald zu Ende… Du wirst nie den heutigen Tag loben, denn du bist dazu verdammt, stets den gestrigen wiederzukäuen.“ Dies ist das zweite Leitmotiv für das Leben des Helden, für den Roman. Das erste, das Warten auf etwas, das nie kommt, oder wenn es kommt, dort nicht die Erfüllung bringt, die man daran geknüpft hat, nimmt im Theresianum den breitesten Raum ein: die Zöglinge warten immer auf das Ende der Stunde, das Ende des Tages, das Ende der Woche, dos Ende des Jahres, das Ende der Zeit, die sie in der Anstalt zu verbringen haben. Aber immer ist – wenigstens für den Helden – das Erwartete nur ein vorläufiges, das Anlaß zu neuem Warten gibt. Nach der Matura darf der Glückliche nach Venedig und verbringt dort, zum Ärgernis seiner Ver­wandten, nichtstuend ein ganzes Jahr. Venedig ist übrigens die einzige Station im Leben des Helden, wo nicht bloß gewartet wird, wo er etwas erlebt, sich in ein halbwüchsiges Mädchen verliebt, der er auf Wunsch ihres Vaters, eines Spielwarenfabrikanten, Stunden in Geographie und andern Wissen­schaften gibt. Aber nach Wien zurückgekehrt, öffnet sich ein Zimmer des Wartens nach dem andern. Am längsten sitzt er in dem, das man gemeiniglich mit dem Namen „Amt“ oder „Beruf“ bezeichnet, es ist ein Zimmer gegenüber von einer großen Mauer: wenn die Sonne daraus scheint, ist es, „als wenn ein blutarmes Gesicht zu lächeln versuchte“. Das Kapitel, das von diesem Zimmer erzählt, ist betitelt: „Tausend Jahre Zwangsarbeit“ – so // empfindet es der zuerst noch junge, dann allmählich und doch blitzschnell, wie es der Professor Silius vorausgesagt hat, alternde Mann. Ein Kollege, jener Zilgitz aus dem Theresianum, der der beste Springer war, er­hängt sich, weil er in die Provinz versetzt werden soll, und als der Held vom Begräbnis wieder in sein Bureau kommt, sagt er zur Mauer: „Du bist immerhin besser als der Tod. Vielleicht fliegst du eines Tages wie ein Vor­hang in die Höhe. Und die Freiheit bricht an.“ Ja, der Vorhang fliegt wirklich zuletzt in die Höhe, die Freiheit bricht wirklich an. Aber das ist zugleich die Stunde des Sterbens. Er erlebt sie in demselben Zimmer des Wartens, in dem er als Kind auf die Christbescherung gewartet hat: „Einen Augenblick war es still, dann läutete es aber ganz hell und heiter. Die Tür sprang auf…“

In: Neues Wiener Tagblatt, 9.5.1919, S. 2-3.

A.W.: Kurt Sonnenfeld: Eros und der Wahnsinnige. Ein Großstadtroman. Mit einem Geleitwort von Felix Salten.

Bruckners Verbrecher finden hier ihr episches Gegenstück. Nicht nur das Stoffliche, auch das Formale berechtigt den Vergleich. Wie in jenem Drama mehrere Themen parallel geführt werden, so bilden gleichsam drei Novellen den Roman. Die erste klagt den Paragraphen 144 an, die zweite erzählt von dem vom Strafgesetz fast er­zwungenen Bund von Anomalie und Erpressung. Die letzte der drei Novellen aber ergänzt die beiden vorhergehenden. Der gespenstische Unmensch, der in diesen im Hintergrund lauert, schattenhaft, unfaßbar, steht in der dritten Erzählung im Mittelpunkt, hell beleuchtet durch eine an Freud geschulte Psychologie. Diese Geschichte eines Klingsor oder Alberich, bei dem Eros sich darin erfüllt, daß er nachspürt fremdem Eros als ein Denunziant, ihm nachspürt, um ihn zu vernichten, diese Geschichte ist wohl die psychologisch interessanteste des gewiß nie langweiligen Buches. Ungemein geschickt ist das Ganze gestaltet, stets auf Spannung bedacht. In manchem mag Thomas Mann erlauchtes Vorbild gewesen sein. Etwa in gewissen distanzierenden Skeptizismen und Ironien von Redewendungen oder in der Art, den oder jenen Satz ge­wissermaßen als Leitmotiv oder Refrain zu verwenden. Schon diese behutsame und kultivierte Darstellungsweise wehrt die Gefahr ab, daß die Kraßheit des Stoffes übermächtig werde. Und vollends bewirkt dies der geistige Unterbau. Soziologie und Philosophie fundieren. Über die eigentlichen Themen hinaus versucht Sonnenfeld Wien zu zeichnen, das Wesen dieser Stadt von den letzten Vorkriegsjahren an bis in unsre Zeit. Ein Bild entsteht, inhaltlich interessierend, markant und scharf. Und was die Philosophie betrifft, ist Schopen­hauer vermutlich nicht nur der Lehrer einer der Personen des Buches, sondern auch der des Autors selbst. Düsterster Pessimismus beherrscht den Roman. Er rennt sich wund den verschiedenen sozialen Systemen und den Erkenntnissen der Psychoanalyse entlang. Dieser bittere Ernst erhebt das Buch weit über eine Sensation, wie sie wohlfeil und ohne viel Mühe krasse Themen erzeugen. Felix Salten schrieb dem Roman ein warmherziges Vorwort und bezeugte mit seinem angesehenen Namen den Wert dieses Buches.

In: Neues Wiener Tagblatt, 7.6.1929, S. 27.

Walter Angel: Ein Roman aus Oesterreichs Frühzeit (1923)

(Emil Scholl: Der letzte Herzog)

Der historische Roman, durch die gegenwärtigen konjunkturellen Rücksichten, die ein von jeder Bedachtnahme auf Publikumswünsche und Verlegervorsicht völlig unbeschwertes, nur dem Gestaltungswillen dienendes Schaffen fast nicht mehr dulden, noch vernachlässigt, hat in dem Wiener Emil Scholl, der sich bereits in seinen früheren Romanen, im Roßtäuscher vor allem, als ein Abseitiger erwiesen hat, einen gediegenen und ernst zu wertenden heimatlichen Er­neuerer gefunden. Sein jüngst erschienener Babenberger-Roman Der letzte Herzog, obwohl etwas breit geraten und des stärksten Schwunges, der mächtigen und einheitlichen Be­wegung, wie sie der Stoff darbot, entbehrend, obwohl in den Einzelheiten gelungener als, in der Gesamtkomposition, hat Vorzüge, die ihn weit über eine Durchschnittsleistung erheben und das Werk eingehenderer Betrachtung würdig erscheinen

lassen: Stärke des Einfühlungsvermögens, unterstützt von vertrauter Kenntnis des historischen und kulturgeschichtlichen Materials, eindringliche Modellierung der Hauptfigur, seelischen Tiefblick, sprachliche Sorgfalt.

Schon die Wahl des Sujets zeigt, daß sich Emil Scholl die Arbeit nicht leicht macht. Friedrich den Streitbaren, gewiß eine der fesselndsten Persönlichkeiten der altösterreichischen Ge­schichte, eine ihrer kompliziertesten jedoch auch, eine Gestalt

von absonderlichstem und verwirrendstem Zuschnitt, schwer zu erfassen und noch schwerer künstlerisch zu fassen in ihrer be­gabten und geistreichen Unberechenbarkeit, der Zwiespältigkeit der Neigungen, dem Wechsel der Haltung, der Gesinnung und der Interessen, gerade diesen Babenberger, den letzten und degenerierten Sproß uralten Blutes, hat Scholl zum Helden seines Buches erwählt. Mit modern-psychologischem Apparat trachtet er dem Wesen des Babenbergers beizukommen, in mancher Deutung von Friedrichs Art vielleicht von der histori­schen Linie abirrend oder diese absichtsvoll verlassend, doch eben dadurch, daß er das Licht neuester Seelenanalyse auf den Herzog fallen läßt, ihn unserem Verständnis und- damit unserer Teilnahme näher rückend.

Friedrich, von der Geschichte der Streitbare geheißen, lag während einer nicht allzu langen Regierung (von 1230 bis 1246) ständig im Felde, mit den Nachbarn, den Böhmen und Ungarn, mit dem Hohenstaufen Kaiser Friedrich II., mit aufständischen Dienstmannen, mit den Tataren. Auch den Bürgern von Wien war er übrigens, zumal in den ersten Jahren seiner Regentschaft, keineswegs wohlgesinnt… Als händelsüchtig typischer Raufbold seiner Zeit, lebt er in der Historie fort, gleichzeitig als brutaler Schürzenjäger, als Lüstling arger Sorte. Emil Scholl unternimmt es nun, Charakterzüge und Geistigkeit dieses Babenbergers, der

gleichzeitig ein Mann von Schärfe des Verstandes, von Großmut, von hoher Bildung und ein Freund der Künste war, aus einem harten und ungewöhnlichen Schicksal zu erklären. An Friedrich, als dritten Sohn Leopold des Glorreichen, ist nämlich die Herrschaft gleichsam unrecht­mäßig, durch eine Verkettung unglückseliger Zufälle, ge­kommen, weil die beiden älteren Brüder frühzeitig, noch in den Knabenjahren, starben. Für das Kloster mag der Drittgeborne ursprünglich bestimmt gewesen sein, nie hat der Vater, den Verlust des eigentlichen Erben nicht ver­schmerzend, den Jüngsten als Nachfolger innerlich anerkannt, nie ihn zum Mitwisser seiner Pläne, zum Genossen seiner Taten gemacht. Einen verbitterten, beiseite geschobenen und zur Untätigkeit verurteilten Prinzen stellt der Autor anfangs vor, uns hin, einen Unglücklichen, der sich aus Trotz in das Leben eines Schlemmers und Wüstlings flüchtet, dabei aber wohl wissend, daß er für töricht, verspielt, regierungsunfähig

gehalten wird. Da ruft den Neunzehnjährigen der un­erwartete Tod des Vaters auf den Thron. Die Zufällig­keit einer solchen Herrschaft bedrückt Friedrich und stachelt ihn an, mit dem Schwert sich sein Erbe erst zu erwerben. An Widersachern innerhalb und außerhalb der Grenzen // fehlt es nicht; glaubt Ritterschaft doch wie mancher Nachbar, mit dem verweichlichten Knaben leichtes Spiel zu haben. Ein anderer jedoch, als der, den man zu kennen vermeint, setzt der junge Babenberger sich den Herzogshut aufs Haupt, und nachdem er zuerst Verblüffung und spöttisches Staunen erregt hat, verbreitet er bald Schrecken und erzwingt sich, in Konsequenz seines Entschlusses Gelegenheiten ausschlagend, durch Unterhandeln seine Macht zu befestigen, mit Waffengewalt die Sicherung seines Besitzes. 

So hätte also der Autor für die eine Seite von Fried­richs Charakter eine psychologisch durchaus glaubwürdige Motivierung gefunden. Es obliegt ihm nun, auch die Laster­haftigkeit des Babenbergers oder was für eine solche nach äußeren Merkmalen gemeinhin gehalten werden muß, aus höher zu qualifizierenden Triebmomenten abzuleiten, um für Friedrich jenes Maß menschlichen Begreifens zu ge­winnen, das auch verabscheuungswürdiger Untugend noch Verzeihung gewährt. Hier wartete des Autors die schwierigere Aufgabe — aber er hat auch diese gelöst. Sein Babenberger, ein Mann, der mit neunzehn Jahren die dritte Gattin hatte — die beiden ersten Ehen waren vom Papst ge­löst worden — der in Bürgerhäuser einbrach, um sich die Tochter zu holen, der die Hand nach eines Halbbruders

Frau ausstreckte und nach einer blutjungen Nichte, wirkt nicht abstoßend. Denn allmählich wird uns Einsicht in Friedrichs Herz gestattet: in das zerrissene, ewig ruhelose Herz des Kinderlosen, dem jeder Machtgewinn den Kummer, des Erben seines Besitzes zu entbehren, nur vermehrt, der immer gieriger das Weib sucht, das ihm den Sohn schenkt, und der endlich in düsterste Verzweiflung sich verkriecht, weil er sein Leben zwecklos verrinnen sieht, sich fluchbeladen glaubt….

Weit im Vordergrund, in monumentaler Einsamkeit, steht Friedrich von Babenberg. Eine Gestalt, die ein Dichter über die Jahrhunderte hinweg blutlebendig gemacht hat. Der Abstand, in dem die übrigen Figuren sich gruppieren, schwächt bereits ihre Deutlichkeit. Und der verschwenderische Reichtum an Farbe, mit dem die eine Gestalt bedacht, läßt die Farben der anderen erst recht matt erscheinen. Einzig der Diplomat des Hofes, Adalbert v. Justingen, ein beweglicher, geistreicher, verschlagener Kopf, und die hin­gebungsvolle Dietmut, das Bürgerskind, das dem Herzog zur linken Hand angetraut wird, sind mit schärferen Konturen und lebhafterer Schattierung gepinselt. Es sei indes die Vernachlässigung der Nebenfiguren nicht geradezu als störender Mangel bezeichnet, weil ihnen der Anlage des Werkes nach kaum mehr als Episodenrollen zugedacht sind. Dem Hintergrund hingegen, dem Bild der Stadt Wien, ist liebevollste Kleinmalerei gewidmet, Gassen und Plätze und Märkte des mittelalterlichen Wiens Mit ihrem Gewimmel von Handwerkern und Bürgern, Bauern und Soldaten sind zu buntestem und bewegtestem Dasein erweckt.

Zusammenfassend kann gesagt werden: ein von reicher Begabung erfülltes, vielerlei Anregung bietendes und zumal für den Österreicher, dem es ein Stück ziemlich dunkler, heimatlicher Geschichte erhellt, interessantes Buch.

In: Neue Freie Presse, 15.4.1923, S. 27-28.

L. Andro [= Therese Rie]: Fräulein Else und Annette (1924)

Fräulein Else, die neunzehnjährige Tochter eines Advokaten von Rang, hat jene Erziehung genossen, wie sie in den neunziger Jahren den meisten jungen Mädchen des angesehenen Mittelstandes zuteil wurde: Das Endziel aller Bestrebungen, der eigenen und der elterlichen, war eine möglichst vorteilhafte Heirat, und da der Prince charmant in der Regel nicht kam oder höchstens um den Preis enger Verhältnisse oder gesell­schaftlicher Deklassierung zu haben gewesen wäre, landete man schließlich in einer Vernunftehe und ent­wickelte sich zu einem neuen Mitglied der unabsehbar großen Gilde der unverstandenen Frauen. Auf großen Bällen oder in fashionablen Sommerfrischen wurde man möglichen Bewerbern vorgeführt, prächtig gekleidet, aber zuweilen mit fadenscheiniger Lingerie, denn es bürgte für die Anständigkeit des Mädchens, daß man sich für dergleichen noch nicht interessierte; die übrige Zeit verbrachten Fräulein Else und ihre Schicksalsgenossinnen mit ein wenig Tennis und Flirt, mit Klavierspiel, Deckchensticken und der Erlernung fremder Sprachen; damit waren sie für die Zukunft, die Ehe und den Lebenskampf hinreichend ausgerüstet.

Diesen tragischen Typus des unberührten Mädchens, unberührt darum, weil sich niemand die Mühe gab, in seiner Seele etwas aufzurühren, stellt Schnitzler mit der letzten Vollendung hin. Genau wie im Leutnant Gustl, als dessen Gegenstück diese Monolognovelle wohl auch formal gedacht ist, greift er aus der großen Masse ein unbeträchtliches Geschöpf heraus, das nur von seiner Kaste lebt, nur in dieser möglich ist. Und nun zerbricht eine Feder dieses sorgsam geölten Gesellschaftsmechanismus: Um das un­bedeutende Einzelwesen rauscht das Schicksal mit schweren, schwarzen Flügeln: das arme Menschen­kind sieht sich mit einemmal in schauerlicher Einsamkeit, auf sich selbst angewiesen, alles, was ihm Halt geben konnte, existiert nicht, mehr. Aus einem Typus wird es blutende, leidende Kreatur, seine arme, eingeschnürte Seele wird plötzlich hellsichtig. Erschiene ihm jetzt, in seiner Schicksalsstunde ein Retter, es könnte sogar vielleicht noch ein Mensch werden. Wie oft aber kommen Retter zur rechten Zeit? Den Leutnant Gustl erlöst im letzten Augenblick noch ein Zufall; für diearme kleine Else kommt er nicht, und ihr könnte wohl auch kein Zufall helfen.

Dies ist ihr Schicksal, daß sie eines Sommerabends, als Gast reicher Verwandter in eurem Dolomitenhotel weilend, einen Brandbrief von daheim empfängt: der Vater hat Mündelgelder unterschlagen, leider nicht zum erstenmal, aber diesmal ist die Katastrophe unabwendbar. Nur Else kann helfen, indem sie einen zufällig im gleichen Hotel wohnenden Bekannten, einen reichen älteren Lebemann, um das Geld bittet.

Die törichte Mutter, die diesen Brief schrieb, hat sicherlich nicht gewußt, was sie damit forderte; ob der kluge Vater, der ihn diktierte, ahnungslos war, bleibt dahingestellt. Der jungen Else soll jedenfalls rasch genug Klarheit werden. Denn der freundliche Don Juan erklärt sich herzlich gern bereit, dem schönen Mädchen das Geld zu überlassen, nur knüpft er eine ganz kleine Bedingung daran: daß sie sich in seinem Zimmer eine Viertelstunde lang unverhüllt seinen Augen darbiete. Er ist bescheiden, nur den Augen. Und an der Notwendigkeit dieses Opfers, das durch ein neuerliches dringendes Telegramm unabweisbar wird, geht das kleine Mädel zugrunde.

Mit rasender Hast, jagt das Schicksal sie ihrem Untergange zu. Man liest kein Buch mehr, man erlebt mit versagendem Atem das Absterben eines Menschen. Nicht, daß sie ihren Körper fremden, kühl abschätzenden Augen schmachvoll preisgeben muß, schmachvoller, als wenn er in wilder Glut genommen würde, ist das Schlimmste; sondern vielleicht die Erkenntnis eigener dunkler Wünsche, geheimnisvoller Wirbel, die sie unbekannten Abgründen zutreiben können, wie es ja auch der andern Heldin Schnitzlers, der Aurelie in der Komödie der Verführung, ergeht. Keiner ist da, ihr die Rätsel ihres Temperaments gütig zu deuten. Das junge Mädchen Else ist im Grunde in diesem Augenblick schon getötet worden; was dann noch vor sich geht, daß sie, wie Monna Vanna, einen Mantel um den nackten Leib schlägt und sich vor der versammelten Hotelgesell­schaft enthüllt, geschieht eigentlich schon in einem andern Leben. In eine fingierte Ohnmacht sinkend, sieht sie plötzlich Welt und Menschen so klar und unbarmherzig scharf, wie nur Sterbende sie sehen. Daß sie dann noch zu dem längst vorbereiteten Glase mit Veronal greift, ist letzten Endes nur das äußere Symbol eines vor Stunden schon erfolgten Todes.

Vielleicht stammt auch diese ganze Problemstellung aus den neunziger Jahren. Viele junge Mädchen von heute, gewöhnt, im Schwimmanzug viele Stunden lang an der Seite junger männlicher Gefährten zu ver­bringen, werden vielleicht die Achseln zucken über die Geschichten, die da wegen ein paar Zentimeter Stoff ge­macht werden; manche von ihnen würden wahrscheinlich, ironisch lächelnd, dem alten Lüstling das Vergnügen machen, der in unsern Tagen freilich eine ähnliche Zumutung nicht zu stellen brauchte, da er schon aus der gewöhnlichen Straßenkleidung in der Lage wäre, genaue Schlüsse auf die Reize eines bewunderten Wesens zu ziehen. Neugierde in dieser Hinsicht ist kaum ein Laster unsrer Zeit, wo die Antworten früher erfolgen, als die Fragen gestellt worden sind. Aber die junge Else steckt noch körperlich und seelisch eng eingepreßt in dem Fisch­beinpanzer, den man der Frau damals anlegte.

Die Schmerzen dieser armen kleinen Rhodopenseele, die zu jung, zu schwach, zu zerbrechlich ist, um eine Schuld auf sich zu nehmen und sich von ihr erhöht zu fühlen, legt Schnitzler mit einer Eindringlichkeit und Zartheit bloß, welche völlig an das Blendende seiner Technik vergessen läßt, die sich zu immer atemraubenderem Krescendo steigert. Voll Mitleid ist dieses. Buch und — vielleicht— auch voll Sehnsucht nach einer Zeit, die vermutlich nicht besser war als die unsre, in der aber das Wort Hebbels, des tiefsten Deuters aller Keuschheitsprobleme, noch Bedeutung hatte: „Man muß nicht immer fragen: was ist ein Ding? Zuweilen auch: was gilt’s?“…

Es ist ein Zufall und ist doch keiner, daß diesem zarten Pastellbild des Mädchens von gestern von einem andern großen und reinen Dichter, Romain Rolland, in einem gewaltigen Triptychon das Bild der denkenden, kämpfenden/ leidenden Frau von heute gegenübergestellt// wird: in der Vorrede zu seiner „Verzauberten Seele“, von der bisher zwei Bände vorliegen, sagt Rolland: „Wenn ich einen Roman schreibe, wähle ich ein Wesen, mit dem ich Gemeinsamkeiten fühle, oder vielmehr, es wählt mich. Sowie das Wesen einmal erwählt ist, lasse ich es ganz frei und habe wohl acht, daß ich nichts von meiner Persönlichkeit hineinmische. Eine Persönlichkeit, die man seit mehr als einem halben Jahrhundert trägt, ist eine schwere Last. Die göttliche Wohltat der Kunst besteht darin, uns von ihr zu befreien, indem sie uns gestattet, andre Seelen aufzutrinken, uns in andre Existenzen einzuhüllen. Unsre indischen Freunde würden sagen: andre von unsern Existenzen…“

Annette Rivière erlebt ihre erste große Zuneigung und Enttäuschung an ihrer Halbschwester, der kleinen Schneiderin Sylvie, von deren Existenz sie erst nach dem Tode ihres Vaters erfährt und für die in ihr nach an­fänglicher Eifersucht die leidenschaftlichste schwesterliche Liebe ausblüht. Aber Sylvie, ein richtiges Boulevard-Pflänzchen, leichtsinnig und berechnend, schmiegsam und selbständig. Zärtlich und kühl, denkt gar nicht daran, ihr eigenes Dasein mit dem ihrer patrizischen Schwester zu vereinigen, und auch aus eine gelegentliche nette, kleine Perfidie, der großmütigen Annette gegenüber, kommt es ihr nicht an. So sieht sich diese mit ihrer großen Liebes- und Leidensfähigkeit bald wieder allein. Ein Mann tritt in ihren Kreis, sie glaubt ihn zu lieben, aber ihre Klugheit bleibt wach, und sie fühlt, daß es nur ein Strom von Sinnlichkeit ist, der sie zueinander reißt, daß ein wirkliches Zusammenleben mit ihm nicht denkbar ist. Dennoch kommt die Stunde, wo ihr Blut sie überwältigt; sie gibt sich ihm und stößt ihn dann von sich, weil sie spürt, daß er ihrer Seele verderblich wird; sie ruft ihn auch später nicht mehr, da sie fühlt, daß sie Mutter werden wird. Sie will ihr Kind in Freiheit zur Welt bringen und es allein besitzen.

Der Kampf um die soziale Vollwertigkeit der un­verehelichten Mutter mutet in deutschen und skandinavi­schen Ländern nicht mehr so neu und fremdartig an wie in romanischen, wo sich das junge Mädchen vom Schlage Fräulein Elses weit länger konserviert hat. Wir ahnen schon, daß Annette durch alle Demütigungen hin­durchgehen muß, welche die Gesellschaft zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für Menschen übrig hatte, die gegen bestehende Sittengesetze anrennen. Der Kampf wird härter, da Annette ihre materielle Sorglosigkeit einbüßt, welche sie vom Urteil ihrer Mitmenschen unab­hängig machte; nun erst beginnt der ergreifendste Teil des Werkes. Jetzt erst lernt Annette den erbittertsten Krieg kennen, der je geführt wurde: den der Arbeitenden gegen die  Arbeitenden, die Konkurrenz, das Weg­schnappen des kleinsten Stückchens Brot. Nun lernt sie begreifen, daß Gedanken, Gefühle, Weltanschauungen ein Luxus sind, nur dem erreichbar, der weiß, daß er morgen zu essen haben wird. Sehr drollig steht nun im Gegensatz zu ihr ihre Schwester Sylvie, die als Besitzerin eines gut gehenden Schneiderateliers. bürgerlich ge­worden, solide verheiratet und Annette somit in jeder Weise überlegen ist.

Sie kämpft für ihr Kind, aber auch um das Kind: denn dieses kleine Geschöpf, das sie den ganzen Tag andern Leuten überlassen muß, um seinen Unterhalt zu verdienen, empfindet die Zärtlichkeitskatarakte, mit denen es abends von der heimkehrenden Mutter über­schüttet wird, als durchaus unangenehm. Was zum Teufel will diese fremde exaltierte Frau? Im Schneideratelier der Tante Sylvie, wo es als Hauskatze der munteren Nähmädchen herumläuft, ist es viel netter. Mit unbarm­herzigen Augen sieht es seine Mutter an, sieht alle ihre seelischen und physischen Schwächen. Dieses Kind, für das sie alles hingegeben hat, liebt sie kaum; mindestens hat es andre lieber. Noch will die verzauberte Seele es nicht wahrhaben; langsam muß sie es begreifen lernen.

Vor der Liebe hat sie Angst. Wer seine Kräfte für den Lebenskampf braucht, darf sich nicht verlieren. Der schöne, gesunde Körper der blühenden Frau will sein Recht, aber sie kennt sich und hat Furcht vor sich selbst. Dennoch kommt die Liebe; sie kommt, wie es bei einer starken Frau fast selbstverständlich ist, in Gestalt eines schwachen Mannes, der sich in ihre Kraft verliebt und den sie doch erschreckt. Wie traurig, zu wissen, daß man den Geliebten um Haupteslänge überragt! Es ist ein trostloses Hin- und Herzerren, dem sie endlich ein Ende macht. Ihr ganzes Leben ist ein Kampf um ihre Seelen­kraft, die jeder, der in ihre Nähe kommt, zerbrechen will. Und sie braucht sie doch so nötig. Häusliches Ungemach bricht über sie herein, nichtssagend bei Leuten, welche Geld haben, zerschmetternd bei solchen, die mit jedem Groschen rechnen müssen. Sie entzweit sich mit der in sorglosen Verhältnissen lebenden Schwester und steht nun ganz allein, mesquinen Sorgen preisgegeben, wissend, daß ihr heranwachsendes Kind den ganzen Tag unbehütet und allein bleibt. Mit der Hand des Meisters legt Rolland die Seele dieses einsamen kleinen Jungen bloß, des verbitterten, grübelnden, frühreifen Kindes, das seiner Mutter beobachtend, kritisch, kühl gegenübersteht. Er gehört nicht in die bürgerliche Gesellschaft, er gehört nirgends hin. Er ist stolz darauf, daß diese Frau ihn nicht kennt, die äußerlich ihm gegenüber alle Rechte hat und die ihn doch nie besitzen wird. Der ewige tragische Kampf der zwei Generationen hebt an: doppelt tragisch da, wo die Mutter dem Kinde alles geopfert hat.

Noch ein letztes Mal, da Annette schon fast an der Schwelle des Alters steht, kommt die Liebe: diesmal als Elementarkraft, gegen die keine andre Gewalt nützt. Der Mann, ein berühmter und gewissenloser Chirurg, der von unten kommt und den Lebenskampf noch besser kennt als sie, zerbricht sie beinahe. Sie muß durch alle Höllenstrafen durch, welche die Liebe einer freien Frau zu einem verheirateten Manne mit sich bringt, und als sie sich endlich befreit, scheint ihr nur der Tod zu bleiben. Da geschieht das Wunder: die verstümmelte, geknickte, verzauberte Seele findet sich noch einmal. Noch einmal kommt ihr die Kraft, stark zu werden, sich zu reinigen und zu erheben. Irgendwo kritzelt sie dann ein wunder­volles Gedicht hin — ein seltener lyrischer Ausbruch bei Rolland —, ein Gedicht der weiblichen Demut:

„Du kamst — deine Hand erfaßt mich —, ich küsse deine Hand,
Mit Liebe, mit Entsetzen küß‘ ich deine Hand.
Du warst mich zu vernichten, Liebe, mir gesandt.
Ich weiß es wohl — schlag zu! —, ich küsse deine Hand.“

Die verzauberte Seele ist gerettet. Sie weiß nicht, daß ihr Sohn zu gleicher Zeit seine schmerzliche Liebeskrise überwindet — wann wissen Menschen, die eng zu­sammen leben, jemals voneinander? Sie selbst hat den Weg zur Einheit mit sich gefunden und ahnt noch nicht, welche Schrecken sich über ihrem Haupte zusammenziehen, daß der Krieg auf dem Wege ist, der ihr das mühsam gezimmerte Asyl über dem Kopf zertrümmern wird.

Der letzte Band wird erst in einigen Jahren er­scheinen, und er wird vermutlich den Leiden der Frau im Kriege gehören. Die gütigsten Menschenaugen, die je geblickt haben, werden auf der namenlosen Pein der Seelen und den erniedrigendsten Quälereien des Alltags mit dem gleichen grenzenlosen Mitleid ruhen, und unter ihrem Blick wird sich ein Bild des Frauenlebens formen, wie es kaum je erschöpfender gestaltet worden ist. Wer Menschenleid so verstehen kann, ist ein guter Mensch; wer es so gestaltet, ein Künstler.

In: Neues Wiener Tagblatt, 24.12.1924, S. 2-3.