Anton Böhm: Die neue Jugend in der Volksgemeinschaft

Anton Böhm: Die neue Jugend in der Volksgemeinschaft (1931)

             Die Jugend ist nicht die Erfüllung des Lebens. Jene Bereiche der Reife liegen noch vor ihr, in denen sich die tiefsten Erlebnisse des Daseins erschließen. Sie ist erst im Anstieg zum Gipfel der Kraft und der Klarheit.  Das Jugendalter kann daher nicht die vollkommenste Epoche des Menschenlebens sein. Daran hat die Jugendbewegung, hier im weitesten Sinn verstanden, nichts geändert – wenn es auch abwegige Richtungen gegeben hat, die der Jugendbewegung gerade den Sinn zumaßen, das Jugendalter in Volksgemeinschaft und Kultur führend zu machen, die „Diktatur der Greise“ zu brechen, ein Zeitalter der Jugend herauszuführen. Das kann die Aufgabe der Jugend in der Volksgemeinschaft niemals sein, ein solches Bestehen wäre frevelhafte Umkehrung der Wesensordnung. Aber die Jugend ist auch nicht eine leere Zwischenzeit, eingeschoben zwischen Kindheit und Mannestum. Sowenig es der Jugend gemäß ist, in Volk und Kultur zu herrschen, ebensowenig ist es ihr gemäß, ohne eigenen Lebensstil, ohne eigenes Recht, ohne eigenen Sinn nur nach dem Schema der Gewohnheiten, Allüren, Ziele der Erwachsenen zu leben: d.h. sie im Äußerlichen nachäffen, ohne doch ihre Reife, Kraft, Lebenserkenntnis zu besitzen. Gerade die Zeit, aus der die Jugendbewegung erwuchs, die Jahrhundertwende, hatte (von vorausschauenden Erziehern abgesehen) praktisch vergessen, daß es neben Kind, Mann, Greis noch den Jüngling als selbstständigen Typ der Lebensalter gibt. An seine Stelle trat der „kleine Erwachsene“. Daran nun hat die Jugendbewegung wohl Entscheidendes geändert. Sie hat die Jugend zum Selbstbewußtsein ihres Eigenwertes gebracht, der freilich höheren Werten untergeordnet sein muß, aber deswegen doch nicht in seiner Besonderheit beeinträchtigt wird; sie hat die Anerkennung dieses Eigenwertes durchgesetzt: Die Jugend erhielt ihr Recht.

             Das ist zugleich auch die erste große Leistung der Jugendbewegung für die Volksgemeinschaft. Denn die Volksgemeinschaft kann ihre volle Entfaltung und Kraft nur dann erreichen, wenn alle Lebensalter in harmonischem Verhältnis stehen, wenn jede Stufe der menschlichen Reife ihr Lebensraum und ihre natürliche Leistung zugemessen wird: Es gibt eine organische „Ständeordnung“ der Lebensalter, die nicht gestört werden darf.

             Die Jugend ist noch ganz Aufstreben, ohne kraftgehaltenen Stillstand, ohne Verfall. Daß sie reifendes Leben ist, aber Leben, das zur vollen Selbstverantwortung erwacht ist, bestimmt ihre Art. Darum ist ihre Zeit vorwiegend die Epoche der Gestaltung, der Erziehung. Aber eine Jugend, die zum Bewußtsein ihrer Eigenberechtigung erwacht ist, will Anteil an diesem Werk der Erziehung, sie will Selbstgestaltung. In diesem Willen mag sie manchmal übers Ziel geschossen haben; aber es ist ein dauerndes Verdienst, daß die neue Jugend dem (an sich uralten) Gedanken wieder zum recht verholfen hat: Die Vollendung und Krone der Erziehung ist die Selbsterziehung. Sie ist durch keine Bemühung, des Erziehers, durch kein System, durch keine „Atmosphäre“ ersetzbar. Es ist von bestimmender Bedeutung für die Volksgemeinschaft, daß die Jugendbewegung fort in der gesamten Jugend den ehrlichen Willen zur Selbsterziehung geweckt hat. Die Gruppen der Jugendbühne sind heute nur mehr zum geringsten Teil bloße Organisationszellen (nicht einmal in den Jugendvereinen der Parteien), sondern Gemeinschaften der Selbsterziehung. Die Jugend hat sich einen eigenen, ihrem Wesen gemäßen, einen jugendlichen Lebensstil geschaffen, der längst nicht beschränkt bleibt auf die Jugendbewegung im engeren Sinn, sondern Allgemeingut geworden ist oder wird, und der zum Ausdruck kommt in Gemeinschaft, Fest, Beratung, Heim, enthaltsamen Leben, strenger Schlichtheit in allen Dingen, vor allem in der „Fahrt“, im Hinstreben zur Natur. Das ist Leistung für die Volksgemeinschaft – denn da Jugend die Zeit der Reife und Erziehung ist, ist es die erste große Pflicht der Jugend in der Volksgemeinschaft, das Ihrige zu tun, um durch Selbsterziehung zur starken, arteigenen Gestaltung des Jugendlebens zu kommen. Die Errichtung des „Jugendreichs“ ist die wichtigste Leistung der Jugend für das Gesamtvolk!

             Aber die Jugend kann noch weit über den Bereich der Selbstgestaltung hinaus der Volksgemeinschaft dienen. Die Jugendbewegung, das allgemeine Erwachen der deutschen Jugend aller Staaten zu bündischen Zusammenschluß, zu Selbstbewußtsein und Formwillen kam aus den Tiefen des Volkstums. Deutsche Art – nicht im Phrasensinn des nationalen Stammtisches – wollte sie wieder finden und erwecken. In der glücklicheren Vergangenheit volkhafter Kultureinheit fand sie Güter unverlierbaren Wertes. Sie hat verschüttetes, mißachtetes Volksgut wieder lebendig gemacht und der Volksgemeinschaft neu geschenkt: sie sang wieder die alten Volkslieder, tanzte die alten Reigen, spielte die alten ernsten religiösen Volksspiele, erlebte die Dichtung der Vorzeit, die sonst nur als Schuldgegenstand zur Kenntnis genommen wurde. Und sie fand von dem Geist dieser überlieferten Schätze wieder den Weg zu neuem Schaffen. Der Wert dieser Leistung ist hoch anzuschlagen: Hier ist ein Ansatz zu innerer Erneuerung der Volkskultur, heute freilich bedroht durch das wilde Aufwuchern zivilisatorischer Entartung, aber doch entwicklungsfähig. Die neue Jugend selbst hat die neuentdeckten Werte der Volksgemeinschaft weitergegeben. Sie ging zuerst zu den Bauern, in dem richtigen Gespur, daß im bäuerlichen Bereich, wo das hundertjährig Überlieferte am längsten seine Kraft bewahrt, im Grund am meisten Bereitschaft zur Neuaufnahme alten vergessenen Besitzes zu finden sein muß. Sie zog mit ihren Spiel- und Singscharen ins gefährdete bäuerliche Gebiet, das bedroht ist von der Überflutung durch die Großstadtzivilisation, die im tiefsten bauernfeindlich, weil wurzellos ist. Zuerst ohne Bindung, auf willkürlichen Streifzügen, romantischen Entdeckungsfahrten, dann mit erwachender Verantwortung, mit dem erstarkenden Willen zur Leistung. Neben Spiel, Lied, Tanz tritt das Bestreben nach bewußter volkserziehlicher Wirkung. Die Gruppen finden den Entschluß zur Bindung – es ist für junge Menschen gewiß kein leichter; sie arbeiten vielfach mit den staatlichen Volksbildungsstellen zusammen; sie bauen oder mieten sich „Landheime“, die dann für einen bestimmten Umkreis Mittelpunkt volksbildnerischer Kleinarbeit werden.

             Früh schon beginnt die neue Jugend, zu den deutschen Siedlern an den Grenzen des Volksgebietes, in die deutschen Sprachinseln des Ostens, Südostens, Südens zu ziehen. Auch hier ist es zuerst ein dunkler Wanderdrang, bindungslos; aber bald wandelt sich die Romantik zur bewußten Verantwortung: Heute ist die neue deutsche Jugend Hauptträger der praktischen Grenzlandarbeit und das Neuaufleben der Erforschung der deutschen Minderheiten ist ohne die Jugendbewegung ganz undenkbar. Jahr für Jahr ziehen Jugendgemeinschaften ins Grenz- und Sprachinselland, bringen gesamtdeutsches Volksgut zum Neuaufleben, nehmen sich der Kinder an, helfen, wo es geht, unter Bedrängnis manchmal; Jahr für Jahr wächst die Kenntnis vom Deutschtum außerhalb der Grenzen, wächst das Bewußtsein der tiefen Verbundenheit, der kulturellen Einheit. Nur die wandernde Jugend konnte solches leisten, nicht der Staats- und Kulturpolitiker; nur die volksnahe Gemeinschaft, die sich wirklich einfügt in das Leben des deutschen Bauern draußen, die ihn aus seinem Tagesmühen heraus versteht. Hier wurde ganz im Stillen ernste, unersetzbare Volkstumsarbeit geleistet.

             Die Jugendbewegung – und allen voran die katholische, seit Anbeginn! – ist „völkisch“ nicht nur im Sinn nationaler Erweckung. Sie ist es vor allem im Sinn sozialer Erneuerung. Die neue Jugend weiß, daß heute jeder nationale Appell, sei er politisch oder kulturell gemeint, sinnlos ist, wenn er nicht gerechtfertigt ist durch das gleichzeitige Bemühen, die Volksgemeinschaft wirklich wieder herzustellen. Sie existiert heute nicht; sich auf sie zu berufen wie auf eine vorausgesetzte Tatsache, ist wie unbewußter Hohn – so lange es ein Proletariat in der heutigen Bedeutung des Wortes gibt. Es liegt nun freilich nicht in der Macht der Jugend, eine durchgreifende soziale Reform zu setzen. Aber es ist schon, für ihren Bereich, genug getan, wenn sie sich, so weit sie selbst nicht proletarisches Schicksal erlebt, verstehend erlebt, ergreifen läßt von der tiefen Volksnot, dem menschlichen Elend, das in dieser unseligen „Ordnung“ sich unerträglich aufhäuft; wenn sie aus dem Verstehen dieser Not den Willen in sich bildet, das Lebenswerk der Mannesreife der Lösung dieser Not zu schenken. Die neue Jugend hat diese Haltung, diese soziale Aufgeschlossenheit. Sie will die satte Selbstzufriedenheit meiden, die sonst den Willen zu helfender Liebe lähmt. Für sie gibt es keinen bürgerlichen oder akademischen Standesdünkel und die Gefahr des Erlöser- und Führerwahns hat sie erkannt und bekämpft sie. Aus der tiefen Erschütterung durch das Mitleid will sie wieder den Weg finden zur entschlossenen Brüderlichkeit mit allen, zuerst den Unterdrückten. Trotz den von vornherein geringen Aussichten auf „Erfolg“, trotz der Unzulänglichkeit der Kraft hat katholische Jugend immer wieder versucht, von der neuen sozialen Haltung und von der geistigen Schulung an den sozialen Problemen zur Leistung zu gelangen. Von der Mitarbeit in Vinzenz- und Elisabethkonferenzen, in der „Frohen Kindheit“ usw., von der sozialen Hilfe im Rahmen der Pfarrkaritas abgesehen – in Wien ist zum Beispiel der Gedanke der Gottessiedlung“ zuerst von der Jugend, von „Neuland“ verstanden, erfaßt und verwirklicht worden. Hier sollte apostolisches Wirken und soziale Hilfe ganz eng verbunden sein, so wie im Erlebnis der Jugend der Ruf nach sozialer Hilfe als Anruf Gottes verstanden wurde. Diese grundsätzliche Verbindung ist erst das volle Wesen der Gottessiedlung, nicht bloß die Errichtung einer Notgottesdienststätte. Mangel an Arbeitskräften und Mitteln ließ das Werk nicht zur vollen Entfaltung kommen; aber der Gedanke lebt und wird nicht mehr vergessen werden.

             Die praktische Politik gehört nicht in den Bereich der Jugend. Aber die neue Jugend ist nicht anarchisch, unstaatlich. Sie erlebt das Staatliche als die Ordnungsform der Volksgemeinschaft neu; sie erkennt seine Weite und tiefe Bedeutung. Die neue Jugend erkennt das Staatliche in ihren Bünden und Gemeinschaften; sie vergleicht sie, nicht nur des Bildes wegen, sondern aus einer bewußten Wesensverwandtschaft gern mit dem Staat; sie erlebt ihre Gemeinschaft als ihren „Staat“: als die objektive Ordnung ihres Zusammenlebens; sie gelangt zum Verständnis des Wesens und der Aufgabe der Autorität, der Führerschaft. So wird ihr der Staat ganz konkret nah und lebendig, freilich nicht die willenlosen Gebilde des Überdemokratismus. Lebensnähere „politische Bildung“ läßt sich wohl kaum denken!

             Vom Erleben der Jugend her wird das Mannesalter bestimmt. Die erste Generation der Jugendbewegung ist zum Mannestun, zur Frauenschaft gereift. Ihr Lebenswerk wird fortsetzen, was die Jugend an Grunderkenntnissen aufleuchten ließ. Die Jugendbewegung weitet sich aus zur Kulturbewegung; die engen Grenzen der Bünde müssen bedeutungslos werden, das Wirken geht auf das Ganze. Hier stehen wir erst an einem Anfang. Aber manches ist auch hier schon getan. Was die neue Jugend als Grundlinie ihrer Selbsterziehung erarbeitete, gehört heute zum Wesentlichsten der pädagogischen Erneuerung in der Gegenwart (die freilich nicht mit jeder beliebigen „Schulreform“ sich deckt). Sie wird zum größten Teil von Menschen aus der Jugendbewegung: von der jungen Generation, geistig und praktisch, getragen. Zeugnis dafür sind – auch durchaus nicht allein – die neuen katholischen Schulwerke: Laacher See, Drachenburg usw. – und die Grinzinger Schulsiedlung. Die neuen Fortschritte der Volksbildung in der allgemeinen Zielsetzung und Methode, wie in der praktischen Verwirklichung sind zum guten Teil das Werk von Männern und Frauen aus der jungen Generation, die Landerziehungsheime, die modernen Bauernschulen, die Gemeinschaftswochen für Arbeitslose in Deutschland sind ohne ihre Arbeit oder Vorarbeit nicht denkbar. Die allmähliche Schaffung eines auch ordnungsmäßigen Zusammenhanges aller Teile des deutschen Volkstums baut auf der Grenzlandarbeit der Jugend auf. Und die junge Generation ist es, die den Kampf um eine neue soziale Ordnung ausfechten wird, geistig und praktisch; sie wird die überalteten Fronten durchbrechen. Und es wird auch die Zeit kommen, da sie reif sein wird, sich in politischer Tat für die Volksgemeinschaft, an Zielen, die sie aus ihrer Grundhaltung heraus als richtig erkannt hat, zu bewähren.

In: Reichspost. Beilage: Die Quelle, 31.5.1931, S. 25.