Artur Ernst Rutra: Das Weltbild meiner Generation
Artur Ernst Rutra: Das Weltbild meiner Generation (1928)
Im folgenden versucht Artur Ernst Rutra, der Autor der Tragödie Vom Kronprinzen, deren Erstaufführung im Burgtheater bevorsteht, die Grundlagen aufzuzeigen, auf denen das Weltbild der Generation zwischen Dreißig und Vierzig sich aufbaut, und die zugleich der geistige Hintergrund sind, vor dem sein Werk sich abspielt.
Natürlich liegen alle Hintergründe eines Werkes, das Bestimmtes zu sagen sich vornimmt, in dem Weltbild beschlossen, das sich in dessen Urheber in den Jahren und Jahrzehnten gebildet hat, die er sehend, denkend und leidend erlebt hat. Sie liegen hier, im besonderen Falle, im Blickfeld einer bestimmten Generation, der Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen, in deren Mitte ich stehe, von der ich im allgemeinen sprechen zu dürfen glaube, wie selbstverständlich ein jeder aus ihr, der sich geistig mit der Zeit auseinandersetzt. Ich bin mir dessen bewußt, daß meine Betrachtung nur einen Ausschnitt aus einer mannigfaltigen darstellen kann, aber ich glaube, daß viele zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sein müssen.
Nach einer Zeit von zehn Jahren alter Welt, die mit dem Kriegswahnkollaps ihr Leben beschloß, und nach zehn Jahren des Zusammenbruchs und verfluchter Aufbauarbeit suchen wir uns Rechenschaft zu geben über diese zwei Jahrzehnte, die gerade in unserem Leben deutlichere Spuren eingezeichnet haben, als in irgend einem anderen gegenwärtigen vor oder nach uns. Die Jugend, die nachkommt, hat es leichter, und die heutige gerade, die sich manifestiert, macht es sich zuweilen, wenn auch hoffentlich nicht in ihren gültigen Vertretern, besonders leicht; sie operiert bereits mit dem Vorwurf an die Adresse der Alten und nimmt bedenkenlos die alten Formen auf, um sich nicht besser zu bewähren, als es den gescholtenen Vorfahren gegeben war. Eine merkwürdig alte Jugend mit zuweilen vergreisten, gewiß jedoch fertiggestellten Zügen, sehr bewußt, aber auch sehr geschickt, ohne Elan, doch von unleugbarem Talent in der Verwaltung des Sprachguts, ohne Einfälle – aber auch ohne Einfalt. Ein Geschlecht von Mechanikern und Konstrukteuren, das stolz darauf ist; es mögen die Vordringlichen sein, die es eilig hatten, denn es tauchen bereits die Anzeichen auf, daß andere, verantwortungsbewußtere, sie abzulösen sich anschicken. Die Generation vor uns: die einen haben es schwerer, weit schwerer als wir, und werden sich nie mit dem Verlorengegangenen abfinden können, oder sie haben so viel Boden unter ihren Füßen hinübergerettet, daß sie unangefochten und unbekümmert darauf stehen können. Sie sehen die Abgründe, die sich aufgetan haben, aber ihr Blick ist elastisch genug, darüber hinwegturnen zu können, oder er kehrt befriedigt zu sich selbst zurück. Vereinzelte Gipfel sind da, um die es gewittert, und solche, auf denen es der Sonne gut geht, die sie bescheint.
In jeder Reihe von Generationen ist immer eine, die vom Fluch des Wissens getroffen ist. Sie hat nicht Gott, noch Götzenbild, sie hat nicht einmal sich selbst. Die eine, die es diesmal im Ablauf der Folgen ist, ist das Geschlecht des Krieges. Was ihr blieb von sich selbst, ist das Geschenk einer furchtbaren Gnade, die ihrem Leben das Mal von Toten auf Urlaub eingebrannt hat; aus dem Leben fraß es sich in Denken und Fühlen und in die Gestalten und Erscheinungen der Phantasie. Diese Generation schleppt auf ihrem Rücken ihre Toten mit sich, und vor sich sieht sie die lächerliche Fratze der Wohlfahrt, die um das eigene Wohlergehen besorgt ist. Sie sieht die Lüge, die hinter dem trainierten Muskel, der Schönheit oder Geste bedient, die Geste hinter der Tat, und keine Tat im Tun. Diese Generation, der kein Pardon gegeben wurde, ist nicht geneigt, Pardon zu gewähren. Sie kennt nur ein Gebot, klar zu sein und gerecht, und nur eine Verantwortung: die vor sich selbst. In einer Reihe von Büchern der letzten Zeit, die ich las, finden sich, jedes in seiner Art, die Bekenntnisse dieser Generation. Ich nenne einige Verfasser, die solche Bücher schrieben, die Beispiele von Klarheit, Unerbittlichkeit und gegebener Rechenschaft sind: Josef Roth, Schneider-Schelde, Gläser, von der Vring, Eisenrohr, Sochanczewer. Es sind Werke, die auch Gegner finden mögen, die aber wertvolle Zeugnisse und Dokumente dieser Generation bleiben.
Ich habe es versucht, in meiner ersten Tragödie Der Kronprinz Erkenntnisse der letzten Jahre Gestalt werden zu lassen, die Zeugnis ablegen wollen, soweit ein Einzelner sich Abgabe eines Zeugnisses anmaßen darf.
Wenn Gestalten der Phantasie, die das Leben gereicht hat, einmal Leben gewonnen haben, ist es um vieles leichter, ein Drama zu schreiben, als einen Roman. Im Roman darf man die Gestalten Leben gewinnen lassen, oder ein Drama, in dem der Dargestellte nicht von Anfang an lebt, ist kein Drama. Also ist es wieder um das Drama schwerer bestellt als um einen Roman. Das Drama lebt von der Sparsamkeit, es muß auf vieles verzichten, was der Roman gestattet, der sich im Reichtum entfaltet.
Ich habe in der Tragödie vom „Kronprinzen“, die vor fünf Jahren zum erstenmal sich mir formte, versucht, einer Welt die Gerechtigkeit der letzten Konsequenz widerfahren zu lassen, die sie sich selbst versagt hat. Das Erlebnis des Verfalls einer historischen mündete in das Gebilde einer phantastischen Welt, die heroische zugrunde geht in einer Zeit, die keinen Platz mehr hat für den Helden antiker Begriffswelt. Diese phantastische Welt hat sich den Tod ersiegt, nur bleibt sie im Bilde und dient ihm und der Legende. Mittelalterliche Welt, die jedoch als unzeitgemäße, in die Gegenwart gerückte Historie, ihren sinngemäßen, heroischen Untergang findet. Eine altgewordene Welt, die den Glauben verloren hat und niemals Liebe hatte. Eine neue Welt und löst sie ab. Sie ist jung und: „sie will Liebe und, um zu reifen, – Fehler und Geduld.“