Berl Locker: Was ist Poale-Zionismus? (1933)

Berl Locker: Was ist Poale-Zionismus? (1933)

                                                                                 III.

Wir sind Zionisten. Zunächst um des Zionismus selbst willen. Freiheit, uneingeschränkte Möglichkeit der Entwicklung aller schöpferischen Kräfte für ein jedes Volk, insbesondere auch für unser Volk, ist uns Selbstzweck. Stellen wir uns einen Augenblick vor, der Sozialismus sei schon verwirklicht. Es existiere keine wirtschaftliche Not des arbeitenden Menschen. Der jüdische Mensch sei tatsächlich gleichberechtigter Bürger der neuen Gesellschaft. Auch nationaler Unterdrückung sei er nicht unterworfen. Aber das Volk sei zerstreut, atomisiert geblieben, losgerissen von der Natur, gehemmt in der Entfaltung seiner schöp­ferischen kulturellen Energien. Dann erst recht würden wir das Unglück und Unrecht der Heimatlosigkeit fühlen. Und wir würden der sozialistischen Ge­sellschaft erklären: Wenn der Sinn des Sozialismus in der höchsten Entfaltung der Lebenskräfte aller Teile der Menschheit besteht, so ist er solange nicht völlig am Ziel, als das jüdische Volk als einziges in der Welt noch heimatlos ist. Gerade in der sozialistischen Gesellschaft kann unser Volk die Heimatlosigkeit nicht vertragen. Jetzt erst recht müssen wir mit allen Kräften danach streben, das nationale Zentrum in Palästina aufzubauen. Mit anderen Worten: Sozialisten brauchten wir nicht mehr zu sein, Zionisten würden wir bleiben.

                                                                                 IV.

Wir sind Kämpfer für die menschlichen, bürgerlichen und nationalen Rechte des jüdischen Volkes in den Ländern seiner Zerstreuung. Wir streben danach, ihm die höchstmögliche Entwicklung überall zu sichern. Auch dieser Kampf, auch dieses Streben trägt seinen Wert vor allem in sich selbst. Nehmen wir für einen Augenblick den tragischen Fall an, wir seien zu der Überzeugung gelangt, daß der Sozialismus eine Illusion sei und der Zionismus ein leerer Traum. Dann würden wir uns sagen: Wenn das Leben überhaupt noch lebenswert ist, ist es gerade jetzt unsere Pflicht, mit allen Kräften das erreichbare Maximum an Produktivität, Selbständigkeit und Schönheit im Leben unseres Volkes zu erstreben.

V.

Kurz: Wir sind Sozialisten – und wir wären Sozialisten auch dann, wenn der Sozialismus für uns nicht der Weg zur Verwirklichung des Zionismus wäre und die einzige Garantie der Gleichberechtigung unseres Volkes in den Ländern der Diaspora.

Wir sind Zionisten – und wir wären Zionisten auch dann, wenn der Zionismus nicht der Weg der vollkommensten Verwirklichung des Sozialismus im jüdischen Leben wäre und das Grundmittel für die Gesundung unseres Volkes.

Wir sind Kämpfer für die Emanzipation und nationale Entwicklung in allen Ländern und wir wären es auch dann, wenn wir nicht überzeugt wären, daß, je gesünder das Volk in den Ländern der Diaspora, desto fester sein Wille zu vollem nationalen Leben; daß es umso reichlicher die Mittel, umso besser das Menschenmaterial für Palästina; umso würdiger auch die Rolle dieses Volkes im sozialistischen Umbau der Welt.

In Wahrheit jedoch sind diese drei Elemente so eng zusammengewachsen, daß es unmöglich ist, sie voneinander zu trennen und auf verschiedene Linien und Flächen zu verteilen. Sie bilden eine organische Einheit. Wir sind nicht nur Sozialisten an sich, Zionisten an sich und Kämpfer für die Diaspora-Emanzipa­tion an sich. Jede dieser drei Bestrebungen wird durch die beiden andern vertieft und vervollkommnet.

In: Der jüdische Arbeiter (Wien), 13.1.1933, S. 4.