Bundeskanzler Dr. Seipel über die Tage der Revolte

Bundeskanzler Dr. Seipel über die Tage der Revolte. (1927)

Die Erörterung der Vorgänge im Nationalrat.

Bundeskanzler Dr. Seipel hielt heute im Nationalrat sofort nach der Eröffnung der Sitzung durch Präsident Miklas folgende Rede:

Gestern in der ersten Sitzung des Nationalrates nach den traurigen Ereignissen, die in den Tagen vom 15. Bis 18. d. vorgefallen sind, hat uns die Trauer den Mund geschlossen. Wir sind, nachdem unser Präsident die Trauer unseres ganzen Landes über die erwähnten Vorkommnisse und ihre Opfer zum Ausdruck gebracht hatte, schweigend in dieser Trauer auseinandergegangen.

Heute müssen wir uns aber erinnern, daß unter den Verwundeten— Gott sei Dank, nicht unter den Toten— auch die österreichische Republik ist.

Mit dieser Verwundeten müssen wir uns heute beschäftigen, ihr zuliebe müssen wir auf die traurigen Ereignisse zurückkommen, untersuchen, wie es zu ihnen gekommen ist, wie sie verlaufen sind, und vor allem, was wir in Zukunft tun können, damit sie nicht wiederkehren und damit die österreichische Republik von der Wunde, die ihr geschlagen worden ist, gesunde. In dieser Absicht habe ich mich heute zum Worte gemeldet, um Ihrer aller Aufmerksamkeit auf diese eine eine hohe Verwundete hinzulenken.

Wohl kaum ist je ein Land und eine Regierung un­schuldiger in blutige Wirren hineingestoßen worden als diesmal wir. Nicht irgendeine Regierungsverfügung, nicht irgend ein Streitfall, der das Parlament beschäftigt hätte, hat eine blutig ausgehende Volksbewegung aus­gelöst, sondern ein Schwurgerichtsurteil ist es gewesen, auch nicht das Urteil von Berufsrichtern. Das Schwurgericht war in diesem Fall gewiß kein Klassengericht; die Hälfte der Geschwornen gehörte dem Arbeiterstande an. Es ist allerdings diesem Schwurgericht vorgearbeitet worden, wie ihm hätte nicht vorgearbeitet werden dürfen.

Die Ereignisse, über die dieses Schwurgericht, dieses Volksgericht zu urteilen hatte, sind vorher in der Öffentlichkeit erörtert worden— was an sich selbstver­ständlich ist — aber sie sind in einer Weise erörtert worden, daß man daraus schon gesehen hat: hier werden

Leidenschaften aufgepeitscht. Ein Teil der Presse hat, bevor das Schwurgericht ein Urteil fällen konnte, schon das Urteil gesprochen und immer wieder das harte Wort „Mörder“ gebraucht. Auf der anderen Seite wurde da­gegen Einspruch erhoben, wurde die Tat, über die das Schwurgericht urteilen sollte, anders dargestellt. Ich wundere mich gar nicht, daß die schlichten Männer aus dem Volke, die Geschwornen, bei ihrer Verhandlung das Wort „Mörder“ im Gedächtnis hatten und sich nun die Angeklagten nur daraufhin anschauten, ob sie denn Mörder seien. Und weil sie gefunden haben, sie sind es nicht, so haben sie ihr Urteil gesprochen. Es ist nicht meine Aufgabe, an dem Urteil eines Gerichtes Kritik zu üben. Aber da nach diesem Urteil in einer Weise, wie es noch nie dagewesen ist, gegen die Volksrichter vorgegangen wurde — einer oder der andere von ihnen mußte sogar flüchten; es wird sich kaum mehr jemand trauen, bei einem großen Prozeß das Amt des Geschwornen oder auch nur des Schöffen zu übernehmen — so muß ich doch ein Wort über die Art sagen, wie dieser

Prozeß zu einem solchen gemacht wurde, daß auf ihn ein leidenschaftlicher Volksausbruch folgen konnte. Von einem der sozialdemokratischen Partei angehörenden Anwalt wurde verlangt, daß ein Teil der Geschwornen als befangen abgelehnt werde, und der Staatsanwalt hat diesem Verlangen Rechnung getragen. Die Geschwornen, die übrig geblieben sind, konnten daher gar nicht anders denken als: Hier handelt es sich um eine politische Sache.

Wenn die Ablehnung eines Teiles der Geschwornen aus politischen Gründen nicht erfolgt wäre, das Urteil hätte auch nicht anders ausfallen können als es ausgefallen ist.

Ich hätte mir wohl vorstellen können, daß man nach einem solchen Schwurgerichtsurteil, das übrigens gar nicht vereinzelt dasteht — seit langem beobachten wir sehr merkwürdige Freisprüche vor den Geschwornengerichten —, daß man sofort ins Parlament gegangen wäre und den Antrag gestellt hätte, die Schwurgerichte abzu­schaffen oder sie umzugestalten oder einzu­schränken oder sie für irgend eine Zeit, bis man wieder

mehr Vertrauen zu dieser Art von Gerichtsbarkeit haben kann, zu suspendieren.

Ich sage Ihnen im Namen der Regierung, wir würden einem solchen Verlangen keinen Widerstand entgegensetzen. Ich bringe heute nicht etwa eine Regierungsvorlage ein, die sich in der angegebenen Art mit den Schwurgerichten beschäftigt, aus dem einfachen Grunde, weil ich glaube, eine so wichtige und große Angelegenheit soll nicht durch eine Gelegenheitsgesetzgebung geregelt werden; man soll nicht im Augenblick der Leidenschaft, der Erbitterung eine Institution abschaffen wollen, an der viele von uns, wenigstens in der Vergangenheit, sehr stark festgehalten haben. Ich rechne mich zu diesen. Aber wenn man aus der Initiative des hohen Hauses heraus oder vielleicht gar, was ich am liebsten hätte, durch ein Zusammenwirken aller dazukommt, der Regierung einen Vorschlag zu machen, wie sie das Gerichtswesen in Zukunft ordnen soll, damit es der Leidenschaft mehr entrückt werde, als es leider in der Gegenwart der Fall ist, so verspreche ich jetzt schon jede Beihilfe der Regierung.

In diesen Tagen hat man auch sehr über die Tätigkeit der Presse, in diesem Fall der Parteipresse, geklagt. Ich bringe heute auch keinen Preßgesetzreformentwurf ein, aus denselben Gedanken heraus, die ich soeben geäußert habe. Aber ich mache das hohe Haus aufmerksam, daß ein Preßgesetzreformvorschlag, das frühere Parlament beschäf­tigt hat, ein Initiativantrag der Abgeordneten Seipel, Dinghofek usw., die damals noch nicht durch Regierungs­ämter gehindert waren, in diesem hohen Hause Anträge einzubringen, ein Preßgesetzreformentwurf, der gewiß nicht alles das betrifft, was wir im Augenblick von einer solchen Reform erwarten möchten, der aber doch viele Sympathien auf beiden Seiten dieses Hauses gefun­den hatte, aber dennoch nicht erledigt werden konnte,

weil eben das Parlament — nicht erst das gegen­wärtige, sondern auch das vergangene — schon an der schleichenden Krankheit litt, unter der das Parlament am allermeisten in den letzten Monaten gelitten hat und der es das Parlament verdankt, daß es in Zeiten einer wirklichen Krise der Republik nicht jenes An­sehen besitzen konnte, das es im Interesse der Staats­autorität besitzen müßte.

Aber man ging nicht ins Parlament, dafür brachen am Freitag der vorigen Woche in der Frühe die Unruhen aus. Es sind teilweise — nicht in allen Wiener Betrieben — Arbeitsniederlegungen vorgekommen und auf­geregte Arbeiter, die in ihrem Urteile im Innern dem Schwurgerichte vorgegriffen hatten und in den Frei­gesprochenen trotz dem Gerichte „Mörder“ sahen, sind durch die Straßen der Stadt gezogen; wie wir alle glaubten, um zu demonstrieren. Wir hofften, in kurzer Zeit diese Demon­stration vorübergehen zu sehen. Aber in wenigen Stunden schon mußten wir es merken, daß aus dieser Bewegung mehr als eine bloße Demonstration wurde. Es kam zu Angriffen auf die Sicherheitswache, die damals nicht mit Gewehren be­waffnet war und daher auch nicht aus ihnen schießen konnte.

Durch zwei Stunden sind, wie uns die Vorsteher unserer Kliniken sagen, nur verwundete Polizeiorgane eingeliefert worden und noch keine verwundeten Demonstranten.

Es sind Privatgebäude, die der Sitz von viel­genannten, in der Zeit vor und während des Prozesses vielgenannten Zeitungsunternehmungen sind, gestürmt worden, es ist eine Wachstube gestürmt und ausgebrannt worden; man ist in den Justizpalast eingedrungen, der wahrlich nur eben durch den Namen „Justiz“ zum Objekt dieser Stürme gemacht wurde, denn er hat mit den Geschwornengerichten nichts oder fast nichts zu tun.

Unsere Polizei war während dieser ganzen Zeit auf dem Platze auf sich allein gestellt. Als man noch in den Vormittagstunden des Freitag gesehen hatte, welche Dimensionen diese Bewegung annahm, da hat der Polizeipräsident in Erfüllung seiner Pflicht vom Landeshauptmann von Wien verlangt, daß er Militärassistenz in Anspruch nehme. Der Landeshauptmann und Bürgermeister von Wien hat dies abge-//lehnt. Er wird es natürlich von seinem Standpunkt aus nicht als einen Vorwurf empfinden, wenn ich sage, nach meiner,

nach unserer Überzeugung wären viele Opfer nicht gefallen (lebhafte Zustimmung), wäre viel Blut nicht geflossen (sehr richtig!), wenn der Landeshauptmann von Wien die Militärassistenz angesprochen hätte.

Es vergingen Stunden, während dieser Stunden sind die Ausschreitungen immer ärger geworden, sind Todes­opfer gefallen. Da mußte nun der Polizeipräsident in seinem eigenen Wirkungskreise vorgehen; er hat bestimmte Abteilungen der Polizei mit Gewehren bewaffnet. Erst seitdem ist ein Umschwung eingetreten; jetzt war der Zeitpunkt, in dem die Ordnungsgewalt wieder Herr werden konnte über die nicht nur demonstrierenden, sondern plündernden, brandstiftenden und gegen die Wache tätlich vorgehenden Massen. Es ist dann die Militärassistenz durch den Polizeipräsidenten auf seine eigene Verantwortung zu einem bestimmten Zweck herangezogen worden, um nämlich den Hauptkampf­platz, die Gegend um das Parlament und den Justizpalast, abzusperren.

Die Befürchtung, die wahrscheinlich den Herrn Landes­hauptmann von Wien geleitet hat, als er die Anforderung der Militärassistenz abgelehnt hat, daß durch das Aufziehen des Militärs die Erregung noch mehr wachsen könnte und daß die Soldaten allzu früh schießen könnten, hat sich Gott sei Dank gar nicht bewahrheitet.

Seitdem das Militär den Hauptkampfplatz besetzt hatte, haben hier die Exzesse aufgehört; das Militär brauchte nicht einen einzigen Schuß abzugeben Gerade aus dieser Beobachtung heraus haben wir die Überzeugung geschöpft, daß vielleicht die Hälfte der Blutopfer vermieden worden wäre, wenn das Militär rechtzeitig zum Schutz der Polizei herangezogen worden wäre.

Es hätte nicht zu schießen brauchen, es hätte nur durch die Straßen marschieren müssen. (Zustimmung. — Zwischenrufe.— Seitz: Überlassen Sie das uns Wie­nern, wir verstehen das besser! — Ruf: Sie haben nichts verstanden! — Dr. Waber: Sie sind der Schuldige! — Abg. Dr. Bauer: Die eigentliche Schießpartei, die Großdeutschen!) Die Maschinengewehre wirken besser als die Waffen, die die Polizei hatte; die Maschinengewehre wirken, ohne daß ein Schutz aus ihnen abgegeben werden muß, durch ihren bloßen Anblick und die Polizei hätte dann nicht mit Gewehren bewaffnet werden müssen und hätte nicht von diesen Gewehren Gebrauch machen müssen.

Dieser erste Fehler hat sich beim Landeshaupt­mann von Wien später auch noch in einer anderen Weise gerächt. Er wurde weiter gedrängt. Als am zweiten Tage, nicht mehr im Zentrum der Stadt, aber draußen in den äußeren Bezirken, lebhafte Unruhen waren, Stürme auf Polizeikommissariate und Wachstuben unternommen, als Wachebeamte durch Schüsse niedergestreckt wurden in einem Augenblick, da sie selbst gar nicht zur Waffe griffen— da hat der Landeshauptmann und Bürgermeister von Wien gespürt, was ihm abgeht, weil er die Militärassistenz nicht requiriert hat. Sonst, in anderen Zeiten, konnte die Polizei, ohne Gewehre tragen zu müssen, vor dem bewaff­neten Militär einhergehen, warnen, die Demonstranten auf die Gefahr aufmerksam machen, in der sie sind, jene, die zufällig aus den Straßen sind, wegschicken und bergen. Jetzt, da die Polizei selbst aus den Gewehren schießen mußte, war niemand da, der so vor ihr hergehen konnte.

(Unruhe.)

Es wäre noch immer die Militärassistenz zu haben gewesen, von der man bereits gewußt hat, daß sie zur Ordnung hält und für Exzesse nicht zu haben ist. Aber der Bürgermeister von Wien ist einen anderen Weg gegangen, um dieser Gemeindeschutzwache die Funktionen der Polizei zu geben.

Ich bin der letzte, der etwa dem Bürgermeister von Wien daraus einen Vorwurf macht, daß er, ohne zu fragen, ob er von den zuständigen Körperschaften eine Bewilli­gung hat, in einem solchen Falle vorgegangen ist und das getan hat, was er für gut befunden hat. Ich würde es in einem solchen Falle auch so machen, in einem Falle, in dem man nicht lange fragen und sich nicht lange Deckungen holen kann. […]

In: Reichspost, 27.7.1927, S. 1-2.