Else Feldmann: Die Stätte des Grauens

Else Feldmann: Die Stätte des Grauens. (1920)

             Mitten unter Gärten ein riesiger Palast, weiß und blank mit prachtvollen Steinfliesen, alles voll Sonne, Sauberkeit, wohin man blickt, die Hälfte der Wände ist getäfelt, alles andere mit Ölfarbe gestrichen, weiße Lackmöbel in den großen Sälen; hier ist allen „Anforderungen der Neuzeit“ Rechnung getragen, ein Schaustück moderner Einrichtung, wie überhaupt modernen Wesens, ein „Triumph der Hygiene des XX. Jahrhunderts“ mit seiner weißen Helle: das ist Lainz, die Stätte des Grauens; denn wenn man näher hinsieht – und das Nahehinsehen auf die Dinge erscheint mir erste Menschenpflicht, erster Weg der Erkenntnis zum Unterschied von der „Wegschau-Theorie“, die von ganzen Ländern und Staaten geübt wird – mit welch traurigem Erfolg, wissen wir – wenn man näher hinsieht, bemerkt man, daß dieses weiße Glänzen wie ein Symbol auf diesem Riesenhause mit seinen 5800 Einwohnern liegt – es ist ein einziges weißes Totenlaken.

Versorgungshaus – Siechenhaus, welche Grausamkeit schon in den Namen! Wenn keine andere Qual an den Seelen dieser Unglücklichen zehrte, sie hätten allein damit genug: es ständig zu fühlen und zu wissen, daß sie sich im Siechenhause befinden.

Die Ideen großer Menschen von Plato bis Popper-Lynkeus beschäftigen sich mit den Fragen: Wie verringert man die Leiden der Menschen? Wie stellt man es an, die Menschen glücklicher zu machen?

In Lainz wird nach der umgekehrten Methode vorgegangen.

Es gehörte das Genie der Brüder Goncourt dazu, zu schildern, wie an wehrlosen, alten Menschen Grausamkeiten begangen werden. Ich kann auf dem kleinen Raum einer Tageszeitung heute nicht mehr als einige Stichproben geben von dem, was ich gesehen und erlebt habe.

Da ist zunächst der Belag. 4000 Menschen haben Platz. Seit den letzten Jahren ist ein steter Überbelag von 1800, im ganzen sind es also 5800 Menschen, daher sind in jedem Zimmer, in jedem Saal die Erdlager. Die alten, kranken Menschen liegen auf einer Matratze am Fußboden — eine Sterbende sah ich dort liegen, sie hatte die Hände gefaltet und sah mich mit verglasten Augen an; sie war ein Menschenskelett mit weißem Haar: eine Verhungerte. Es sterben täglich (an Normaltagen) zehn bis fünfzehn Personen; dafür werden täglich fünfzehn bis zwanzig neue eingebracht, manchmal auch dreißig bis vierzig. Seit die Not in Wien so groß ist, werden die alten Leute, die vor dem Krieg ruhig in den Familien ihr Leben zu Ende leben konnten, in Lainz abgegeben. — Es ist begreiflich: ein Mensch mehr kann heute in einem armen Haushalt ein Verhängnis ein — wie erst ein Mensch, der alt, krank und pflegebedürftig ist, teure Arzneien braucht. Man entledigt sich der alten Leute, man gibt sie nach Lainz, um wieder seine zwei Hände frei zu bekommen. Daher die Überzahl und Erdlager.

In zweiter Reihe steht die Ernährung. An dem Tage, an dem ich draußen war, gab es zu Mittag Wassersuppe, Haferreis mit Bohnen; an einem andern Tag war Gerstel mit Bohnen; die Schwerkranken bekommen Milchreis, aber von Milch ist nicht die Spur; ich habe es gekostet, es schmeckt so ekelhaft und abscheulich, daß einem davon schlecht wird. Die Bohnen waren hart, der Haferreis stach wie Nadeln, das ganze war pappig, ohne Fett und roch angebrannt. Um 11 Uhr rollten die Fahrküchen durch die Säle, um 12 Uhr kamen sie die Teller holen, ein Rieseneimer holte die übriggebliebenen Speisen; aus einem Saale mit vierzig Kranken kam ein voller Eimer heraus; die Kranken hatten fast alles stehen gelassen — mancher Teller war nicht berührt und so wanderte das Essen sofort zu den Schweinen in den Stall, die dick und fett werden. Begreiflich — ein alter, schwacher Magen kann harte Bohnen und stacheligen Hafer nicht vertragen; auf diese Weise bleiben die alten und siechen Leute selbst ohne dieses Minimum Nahrung. Sie gehen an Entkräftung zugrunde. Man soll es nicht glauben, wie zähe so ein altes Leben sein kann; so ein Sterben dauert oft Wochen, ja Monate. Wenn nie an Sterbehilfe gedacht werden kann, hier könnte wirklich daran gedacht werden, und es wäre nur eine Tat der Menschlichkeit. In Lainz, in diesem Riesenpalast, drängt sich einem der Gedanke der Sterbehilfe auf, wie nirgends sonst.

Ich muß mich damit begnügen, das Körperliche erzählt zu haben — und dann muß man, wie gesagt, auch ein Goncourt sein…

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Die ergreifende Schilderung unserer Mitarbeiterin, deren Zuverlässigkeit wir erprobt haben, läßt leider keinen Zweifel daran aufkommen, daß auch das sozialistisch-republikanische Regierungssystem unfähig ist, den Ärmsten der Armen einen lebenswürdigen Unterhalt zu gewähren. Mit Erstaunen wird man schließlich fragen, wo bleiben die nach Hunderten von Millionen Kronen bewerteten Liebesgaben der fremden Missionen, wenn die gebrechlichen, schwer leidenden Greise des Siechenhauses Hungers sterben müssen?

In: Neues Wiener Journal, 11.4.1920, S. 6.