Emil Reich: Die Fußballstadt Europas

Emil Reich: Die Fußballstadt Europas. Wien wieder in Führung (1924)

Wien ist die Fußballstadt des europäischen Festlandes. Das steht seit mehreren Jahren fest und wird von niemandem, selbst nicht von unseren erbittertsten Rivalen, angezweifelt. Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Es gibt keine andere Stadt auf dem Kontinent, die so viele Fußballvereine mit so viel Spielern besitzt wie Wien. Aber das ist nicht ausschlaggebend. Es kommt auf das Interesse an, das der Fußballsport in den breiten Massen findet, die sich nicht aktiv betätigen. In Spanien zum Beispiel, ist Fußball zum Nationalsport geworden, der die Stierkämpfe allmählich verdrängt. Gewiß, Barcelona oder Madrid zählt nicht so viel Einwohner wie Wien, aber auch verhältnismäßig genommen lockt dort der interessanteste Wettkampf nicht solche Zuschauermengen an wie bei uns. Man nenne eine Stadt in Europa außerhalb Englands, die auf 80.000 Zuschauer verweisen kann. Das ist jene Höchstziffer, die ein Wettspiel in Wien erreichte, wobei man, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen, behaupten kann, es wären an jenem denkwürdigen Tage im Frühjahr 1923, an dem Österreich Italien gegenübertrat, über 100.000 Menschen auf der Hohen Warte zusammengeströmt, wenn die dortigen Anlagen einen größeren Fassungsraum gehabt hätten. Und welche Stadt sieht Sonntag für Sonntag selbst bei wenig einladendem Wetter zumindest 40.000 bis 50.000 Zuschauer auf allen Sportplätzen versammelt? Wo noch interessiert sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung für den Ausgang der Wettspiele, so daß man in den Abendstunden auf der Straße, in der Elektrischen, in den Gast« und Kaffeehäusern, im Kino und fast jeden zweiten Menschen von den Ergebnissen der Meisterschaftsspiele und von den Aussichten der Klubs in den nächsten Kämpfen sprechen hört? In dieser Beziehung hat Wien allen europäischen Städten den Rang abgelaufen, mag man das nun als einen Vorteil oder einen Nachteil betrachten.

Die Fußballkenner des Auslandes geben dies unumwunden zu, aber sie haben sich damit zu trösten versucht, daß sie sogleich, wenn sie von dem Rieseninteresse der Wiener Bevölkerung für Fußball sprachen, hinzuzufügen pflegten, der Fußballsport sei bei uns zwar in die Breite gegangen, aber nach der Höhe habe er sich nicht entwickelt und deshalb müsse sich Wien, was das Fußballkönnen betreffe, mit dem zweiten oder dritten Platz bescheiden. Dieser Trost war uns zwar von den Nachbarländern, der Tschechoslowakei und Ungarn, nicht leicht abgekauft, aber doch für diese sehr angenehm, zumal er aus den Tatsachen geschöpft wurde. Vor etwa drei Jahren machte sich eine wesentliche Verbesserung des tschechoslowakischen Fußballs geltend, soweit dies in Resultaten zum Ausdruck kam. Es soll damit gesagt sein, daß die Tschechen damals nicht etwa viel höheres Können an den Tag legten als in der Vorkriegszeit, aber in den internationalen Spielen, zu denen sie nach dem Umsturz viel mehr Gelegenheit hatten als früher, bewährten sie sich überraschend gut, und es gab eine Zeit, in der man sie für unbesiegbar hielt. Es war dies die Blütezeit des Athletikklubs Sparta, die durch einen rauhen Frost unterbrochen wurde, als die Amateure ihren herrlichen 5: 3-Sieg auf der Hohen Warte gegen die Sparta errangen. Dieser Erfolg wurde damals als ein Wunder angesehen, das nur durch das beispiellos schöne Spiel der Violetten zustande gebracht werden konnte. Aber noch immer galten die Sparta und die Slavia als die Fußballmatadore Europas, man dachte an das Sprichwort von der Schwalbe, die noch nicht den Sommer bringt und sagte: „No, haben wir nicht recht gehabt, als die Wiener Vereine in späteren Kämpfen gegen Prager Vereine wieder Niederlagen erlitten.“ Ungarn konnte in dieser Epoche nicht so blendende Erfolge erzielen wie die Tschechen, da sich die Abwanderung zahlreicher Spieler von Sonderklasse fühlbar zu machen begann, doch Österreich gegenüber schien es in Klubkämpfen noch immer überlegen zu sein. Man räsonnierte in Budapest über die Aufnahme ungarischer Fußballer in Wiener Vereine, doch auch dort hatte man einen Trost bei der Hand: Seht die Ergebnisse der Spiele mit den Wiener Vereinen.

Es war vielleicht gut, daß die Nachbarn üppig wurden und unsere erstklassigen Vereine etwas bescheidener. Dadurch wurden diese gezwungen, nicht bloß die Wirkung in die Breite, das heißt die Wirkung auf die Massen und den Kassenerfolg im Auge zu behalten, sondern auch auf die Hebung der Spielkraft bedacht zu sein. Jetzt zeigt sich, daß Wien auch, was das Fußballkönnen anbelangt, im Begriffe ist, die Fußballstadt Europas zu werden. Seit dem Beginn der Herbstsaison feiern unsere Klubmannschaften einen Sieg nach dem anderen, ob sie nun mit unseren Nachbarn in der Heimat oder in der Fremde kämpfen. Die Vienna schlägt U.T.E. in Budapest 4:2 und den M.T.K. zuerst in Wien 6:4 und dann in der ungarischen Hauptstadt 2:1, die Amateure besiegte M.T.K. hier 2:0, in Budapest triumphieren Rapid und Hakoah über F.T.C., die Hütteldorfer 3:1, die Blauweißen 2:1. Das ist eine erfreuliche Auslese aus den Spielen mit den führenden Budapester Vereinen. Die Begegnungen unserer Klubs mit den hervorragendsten Mann­schaften der Tschechoslowakei bringen jenen ebenfalls Erfolge. Es muß vorausgeschickt werden, daß es auf dem Prager Boden aus­wärtigen Gegnern stets schwer fällt, Siege zu erringen. Die Schiedsrichter tun dort ihr möglichstes, um den Spielen eine ihrem patriotischen Empfinden entsprechende Wendung zu geben, was erst jüngst das Match Amateure — D.F.C. bewiesen hat, das 1:1 endete. Deshalb ist dieses Ergebnis als ein Sieg der Wiener zu werten und ebenso das gleiche Resultat des Kampfes der Violetten gegen die Slavia, in dem der Schiedsrichter zwar ausnahmsweise ein­wandfrei amtierte, zu dem aber die Wiener, ermüdet durch das Spiel gegen den D.F.C. am Vortag, die Slavia-Mannschaft dagegen frisch antrat, da sie entgegen der Vereinbarung das Meisterschaftsspiel, das sie am vorhergehenden Tage hätte austragen sollen, im letzten Augenblick abgesagt hatte. Am letzten Feiertag spielten die Amateure in Wien die Sparta in Grund und Boden, und wenn nicht der Sparta-Tormann so glänzende Abwehrarbeit geleistet hätte, würde das Ergebnis für Sparta nicht 1:4, sondern weit schlimmer gelautet haben. Auch das Resultat 3:4, das Wacker in Prag gegen die Sparta erfocht, ist ein Triumph der Wiener Klasse, denn man darf nicht vergessen, daß Wacker gegen Sparta zum erstenmal spielte und in Kämpfen mit ausländischen Gegnern noch nicht die Erfahrung besitzt, wie etwa die Amateure oder Rapid. Schließlich muß noch erwähnt werden, daß die Admira in Brünn gegen den kräftigen Sportklub Zidenice mit 3:2 Sieger blieb und daß sogar der derzeit zweitklassige W.A.F. einer so routinierten Mannschaft wie dem Blue Star-Brünn ebenfalls in Brünn ein unentschiedenes (0: 0) Ergebnis abzuringen vermochte.

Morgen stehen einander die Vienna und Sparta sowie Hakoah und Slavia in Prag gegenüber, während Admira gegen den III. Bezirk-Turnverein in Budapest kämpft. Wie immer diese Wettspiele enden, die Tatsache, daß die Wiener Fußballklasse gegenwärtig die von Prag und Budapest überholt hat, wird, sollten auch unsere Mannschaften keine Erfolge erzielen, nicht um­gestoßen werden. Verlieren die Wiener, dann gilt jetzt für die Gegenseite das Sprichwort, daß eine Schwalbe noch keinen Sommer macht.

In: Neues Wiener Journal, 15.11.1924, S. 17.