Ernst E. Stein: Leo Perutz

Ernst E. Stein: Leo Perutz (1925)

(Eine Betrachtung über den historischen Roman.)

Der Dichter muß die kleinen Einzelheiten der Geschichte und des Lebens mit größter Treue studieren und wiedergeben, doch nur zu dem Zweck, um dadurch die Echtheit des Ganzen glaubhaft zu machen und selbst die fernsten Winkel seines Werkes mit jenem kräftigen Leben zu erfüllen, durch das seine Gestalten und seine Katastrophen an Wahrscheinlichkeit gewinnen.

Viktor Hugo.

Das Historische ist nicht das Einmalige. Es ist das typische und ausgeprägt Ewig- Menschliche, das immer wiederkehrt; die Atmosphärilien jedes Zeit­ alters können sich in einem andern wiederholen und mit ihnen alle Größe und alles Geschehen der Vergangenheit. Und kein Augenblick, kein Geschehnis ist historisch in einem andern Sinne zu nennen als in dem, daß es beispielgebend für alle späteren Wiederholungen ist. Damit eröffnen sich nicht nur der vergleichenden Forschung neue Ausblicke und Möglichkeiten, sondern auch der Literatur, und diese neue Auffassung knüpft sich, vorläufig, an den Namen Leo Perutz und schafft seine Bedeutung. Sie läßt sich nicht besser illustrieren als durch einen Gedanken, der sein letztes Buch, den Roman Turlupin (Verlag Albert Langen München) einleitet, den poetischen Gedanken, daß die französische Revolution von 1789, die wir als ein Novum von einmaligen Dimensionen, als Ergebnis einer besonderen Konstellation politischer und sozialer Motive, Charaktere und Einflüsse zu sehen ge­wohnt waren, daß diese Revolution bereits anderthalb Jahrhunderte früher, unter dem Kardinal Richelieu, fällig war. Fällig, weil die Ereignisse von 1789, wie alle großen historischen Geschehnisse, allgemein menschliche Motive (hier die von 1642) wiederholten.

Ein andres Beispiel wird die Verwandtschaft, ja Gleichheit der geschichtlichen Momente endgültig er­läutern: Leo Perutz hat in einer Novelle von meister­hafter Knappheit und Unentbehrlichkeit jedes nieder­geschriebenen Wortes die Geschichte zweier Menschen aus den untersten Volksschichten geschildert, als deren Kinder der Antichrist geboren wird. (Die Novelle,die diesen Titel führt, ist im Rikola-Verlag erschienen.) Eine Erzählung von behutsamer Tragik und Spann­kraft spitzt sich zu einem paradoxen Aphorismus der Historie zu: der Name des Kindes wird uns bis zur letzten Seite nicht genannt und in scheinbarer sanfter Harmonie schließt das Buch mit der Prophezeiung, daß der Knabe dereinst in stillem und friedlichem Verlauf seines Lebens als Priester und Seelenhirt seine Ge­meinde auf den Weg des Guten führen werde – und dieser Knabe ist Cagliostro, der große Lügner und falsche Prophet, zu dem die Gläubigen aus aller Welt strömen, der sich als Haupt von Geheimbünden erhebt und dem Reich der christlichen Könige und der Kirche unnennbaren Schaden zufügt.

Schon die paradoxe Fähigkeit, eine historische Persönlichkeit, über die wir uns durch Zeitgenossen und Forschung völlig orientiert glaubten, in so neuem Lichte zu sehen und die gegebenen Fakten durch veränderte Auf­fassung neuzugestalten, ist ein Bruch mit der erstarrten Darstellungsweise und eine Verlebendigung der Geschichte von unabsehbarer Fruchtbarkeit für die Kunst des histo­rischen Romans. Sie wird es noch mehr durch die Überlegung, daß nicht gerade Cagliostro als Antichrist hätte aufgefaßt werden müssen, Wunder wirkend und die Seelen betörend, sondern daß den ewigen Widersacher Gottes und der Menschheit ebensogut – wie es der Dichter auch geplant hatte – Luther verkörpern hätte können, der wider den Papst sich erhob, oder Cromwell, der die Macht der Könige brach, oder der Advokatensohn aus Korsika, dessen apokalyptischer Machtwillen eine ganze Welt zwang. Und in solcher sozusagen intimen Beleuchtung bieten uns die Geschehnisse, die sich an diese Namen knüpfen, eine Fülle von Überraschungen, beinahe Offenbarungen; so im Kunstwerk festgehalten, ist die Geschichte nicht mehr „Material“ – sie wird zum Symbol aller Vitalität. Wir können das eine neue Kunst des historischen Romans nennen und werden ihr nicht mehr als gerecht, wenn wir sie als bedeutendsten Markstein, vielleicht als das Ziel seiner Entwicklung ansehen.

Als eine neue Kunst ebenso auch deshalb, weil sie eine neue Technik bedingt. Wir hatten bisher nicht viele historische Romane, sondern nur Romane mit „historischem Hintergrund“, in denen sich frei erfundene Fabeln vor den Kulissen der Geschichte abspielten und denen das zeitliche Kolorit durch gelegentlichen Bezug auf das historische Geschehen verschafft wurde; etwas Brokat und ein paar Dolche, Plaudereien aus der Schule Leonardo da Vincis und einige Terzinen, dann und wann rasselt die Rüstung eines Borgia vorüber, und ein Renaissanceroman war fertig. Nun, das geht heute nicht mehr; für den neuen historischen Roman, dessen Gesetze wir einstweilen nur den Romanen Leo Perutz‘ entnehmen können, dient die Gestaltung eines erfundenen Themas dazu, die Zeit zu gestalten: aus der Geschichte einer Arkebuse und der Lieb­schaft mit einem indianischen Mädchen erhebt sich das Problem der Unterwerfung Mexikos und der Reformation und des ungeheuren Reiches Karls des Fünften; die armselige Sehnsucht und Einfalt des Narren Turlupin, den eine Wahnidee vor sich her treibt, verhindert eine Revolution, die vielleicht größer geworden wäre als die Revolution von 1789. In diesen Romanen gibt es keine Nebenepisoden, das historische Geschehen fügt sich unlösbar in die Handlung ein und schließt sie ab, die erfundenen Vorgänge sind naturnotwendig mit dem ge­schichtlichen Ereignis verbunden. Historie und Fabel sind eins geworden.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.4.1925, S. 5.