Gina Kaus: Die erotische Freiheit

Gina Kaus: Die erotische Freiheit. (1925)

Nein, es ist immer noch nicht weit her damit. Meine paar Laster zum Beispiel werden stän­dig durch böswillige Vorurteile gestört.

„Hören Sie mal! Wenn Sie schon nicht die Frau sind, die alle Freiheiten genießt…?“

Nur schön langsam. Sehen Sie, eine meiner geheimen Leidenschaften ist es, an milden Abenden allein und langsam spazieren und meinen Gedanken nachzugehen. Diese Gedanken — ganz gleich was für Bedeutung sie allgemein haben mögen — sind für mich bezaubernd und wichtig; nach einer solchen einsam verbum­melten Stunde fühle ich mich wie von einer chronischen Vergiftung befreit, rein gespült, mutig — kurz, wie ein Mensch, der sein Laster genossen und der es zu genießen verstanden hat.

Aber ach, wie selten wird mir solche Stunde der Lust zuteil! Zeit? Oh, für sein Laster hat man immer Zeit. Ich hätte schon Zeit, so von zehn bis zwölf Uhr nachts über die Ringstraße oder durch den Stadtpark zu gehen. Ich fürchte mich auch nicht im mindesten vor den gemeinen Dieben, denn erstens trage ich nichts Wert­volles bei mir und dann vertraue ich dem Dieb, daß er es schon so geschickt einrichten wird, daß ich das Fehlende erst zu Hause als abwesend und nicht ihn im Park als anwesend bemerken werde.

Aber ich kann nicht anders, als den Strolch im Paletot zu bemerken, dessen Schatten schon seit zehn Minuten recht auffallend neben den meinen auf den erleuchteten Weg fällt, in meinem Ohr verstummt das intime Flüstern der Baumkronen und es ertönt das Wort des Menschen:

„Verzeihen Sie, Fräulein…“

Nein, ich verzeihe nicht. Ich sag’s Ihnen nicht, weil Sie es nicht verstehen, aber ich ver­zeih Ihnen nicht. So wenig, als Sie verzeihen würden, wenn Sie gerade bei Ihrem geliebtesten Mädchen wären und der Zimmerkellner ohne anzuklopfen einträte, um „verzeihen Sie, die Fenster zu öffnen“ Denn diese Sphäre des Stundenhotels ist wohl die einzige, in der Sie verstehen, was „Stören“ bedeutet, nicht wahr? Wie sehr Sie meine Nerven geschädigt haben, können Sie nicht wissen und wenn ich, um sie zu schonen und Ihrer  Anwesenheit ein Ende zu machen, „Nein“ antworte, dann bleiben Sie zurück mit dem Gefühl der schmerz­lichen Verwunderung, daß es trotz Frauenrecht und Revolution noch immer Mädchen gibt, deren Sittenkodex ihnen verbietet, mit fremden Herren zu promenieren.

„Warum denn nicht? Weil wir uns nicht kennen. Aber was tut das? Denken Sie sich, wir hätten uns bei einer Freundin…“

In diesem Fall tue ich genau dasselbe, was das Mädchen, dessen Sittenkodex  verbietet, sich von fremden Herren ansprechen zu lassen, täte, wenn ihre Tugend in Gefahr ist: ich laufe ein­fach davon.

Der Zwischenfall hat drei Minuten gedauert. Ich könnte weiter meinen Weg gehen, wäre ich nicht streitbar geartet, so daß ich, wenn ich, wie in diesem Fall, meine Ansichten nicht an den Mann bringen kann, um den Mann nicht näher an mich zu bringen, verflucht bin, ein­sam mit ihm zu streiten. Wenn er, der glück­liche leichte Schäker, schon längst, die kleine Niederlage vergessend zu einem anderen weib­lichen seinen parallelen Schatten wirft, plag‘ ich mich noch damit, ihm zu erklären, daß ich weder Fräulein noch sittsam sei, daß aber die Freiheit, die ich mir heute abend nehmen will, die ist, von ihr, die ich in weit größerem Maße besitze, als er sie einer ihm nahestehenden Frau einräumen würde, keinen Gebrauch zu machen. Unmöglich kann einer das verstehen, der es ein anderes Mal mit der Formel versucht:

„Warum so allein?“

Eine Welt von Mißverständnis in drei Worten. Abgesehen davon, daß er annimmt, der Grund meines Alleinseins liege außerhalb meiner Person, in der Nichtbeachtung, die sie, ihn ausgenommen, bei anderen findet — er tut auch ganz harmlos, als habe er ein Recht auf Beantwortung dieser Frage, wenn merk­würdigerweise ein anderer Grund vorliegen sollte. Nicht streiten! Vorwärtseilen, vergessen, — aber an das entsetzte Ohr trägt der Wind noch die Worte:

„Eine so schöne, junge Dame, wie Sie…!“

Jetzt bin ich versorgt. Eine Stunde lang habe ich damit zu tun, dem Esel zu erklären, daß er einer sei: „Herr, glauben Sie denn wirklich, ich wüßte nicht, daß ich „schön“ bin?

Seit 15 Jahren — denn so jung bin ich nun wieder nicht— seit 15 Jahren habe ich es täg­lich gehört und meist bei ähnlich unpassenden Anlässen. Wenn ich kein Geld hatte und um Arbeit fragte, sagte man mir: „Eine so schöne, junge Dame, wie Sie…!“ Wenn ich in einem

Geschäft den Preis einer Ware, die mir gefiel, zu hoch fand: „Eine so schöne, junge Dame, wie Sie…!“ Wenn ich in Gesellschaft trotz bester Vorsätze mich in eine Debatte einließ: „Eine

so schöne, junge Dame, wie Sie…!“ Längst weiß ich, daß dieses, von mir gewiß nicht bestrittene Faktum, den anderen weit öfter zur Waffe gegen mich dient, als mir zur Waffe gegen die anderen. Und in allen diesen Fällen wäre das Ende dieses Satzes (wenn es nicht seine Bestimmung wäre, kein anderes als..! zu haben) eine Beleidigung oder ein ebenso grober Denkfehler. Sie zum Beispiel, mein Herr Esel, wollen ja gar nicht sagen, eine „so schöne, junge Dame“ schulde jede Stunde ihres Lebens der Menschheit, sondern sie wollten sich wundern, daß die Menschheit ihr eine Stunde schuldig blieb. Sie wissen also nicht einmal aus Er­fahrung, daß nichts auf der Welt so minder ist, daß es nicht einen geeigneten Partner fände, und daß keinen solchen zu haben, den Gedanken nahe legt, man sei nichts als sich selbst zu suchen in den Park gegangen.

„Aber alle diese Geschichten sind überflüssig. Wenn eine Dame sehr schnell geht und mit unnahbarem Gesichtsausdruck — “

Halt! Ich sagte doch eingangs, daß ich langsam spazieren gehen will, eben nicht wie eine Dame, die gezwungen ist, einen Einkauf zu machen, sondern wie eine, die zu ihrem Vergnügen spazieren geht. Ich will nicht schneller gehen, als meine Lunge atmet, denn nur so kann ich zum Bewußtsein des Geruches der Luft kommen, der in jeder Jahreszeit anders ist. Und ich will im Takte meiner Gedanken gehen, die unregelmäßig sind und manchmal gerne lächelnd oder traurig bei irgend was verweilen. Ich bin auch manchmal sehr müde nach einem Tag der Arbeit. Und dann will ich eine Viertelstunde in eine schöne Auslage sehen können, ohne zu wissen, was drinnen ist, und ich will einen Baum ansehen und nachdenken, woran er mich erinnert und ich will die Sterne ansehen dürfen. Wissen Sie, daß eine alleingehende Frau niemals gründlich die Sterne ansehen darf? Aus Angst, daß sich wieder ein Lausbub findet, der fragt:

„Fräulein, haben Sie dort oben was ver­loren?“

Dies geschah, als ich 15 Jahre alt war. Seither — und es ist lange her, obwohl mir jene Sorte noch immer „Fraulein“ sagt — denke ich über eine passende Antwort auf diese rhetorische Frage nach.

Mit dem Schnellgehen ist es also nichts, und was das „unnahbare Gesicht“ betrifft, so würde es mich weit mehr stören, als die anderen (so wie ich mich auch nie entschließen kann, Sal­miak gegen Mücken zu benützen, weil ihnen der Geruch keinesfalls unausstehlicher sein kann als mir). Ich verlange das Recht jedes Staats­bürgers, den meiner jeweiligen Stimmung // entsprechenden Gesichtsausdruck durch die Straßen tragen zu dürfen. Bitte, sagen Sie nicht, ich dürfe ja, müsse aber dann gegenwärtig sein, denn das ist ja genau das, was ich sage: daß ich eben nicht darf, solange jene dürfen.

„Aber Sie unterbinden den Zufall. Glauben Sie nicht, daß man auf diese improvisierte Weise die angenehmsten Bekanntschaften — “ erstens, ich glaube es nicht. Denn die paar Menschen, die ich angenehm finde, würden kaum eine Dame ansprechen, aus Rücksicht auf diese und auf die eigenen Nerven, mit denen sie ungern den Zufall ein Tänzchen wagen ließen. Diese Menschen suchen auch gar keine Aben­teuer, sondern leben wie ich im Kampfe mit der Überfülle des Abenteuerlichen, das dem fühlenden Menschen jeder Lebensaugenblick zu­trägt. Und in diesem Sinne zweitens: ich suche gar keine angenehmen Bekanntschaften. Das wundert Sie wieder, denn Sie dachten, ich sei eine „freie Frau“. Und nun glauben Sie, ich habe doch irgendwo verborgen jenen Sittenkodex, der verbietet — aber was erlauben denn Sie? Sie geben Freiheit mit der Ver­pflichtung, sie dauernd zu genießen, immer zu genießen, zu genießen. Ich aber halte diese „Genüsse“ nur für kleine Freiheiten, die man sich nehmen muß, wenn man die wirkliche, die einem aber auch Ungestörtheit sichern soll, nicht hat. Das glauben Sie aber nicht, denn seit Sie die Frauen nicht mehr für keusche Heilige hal­ten, warten Sie stündlich darauf, daß der Urwald einbricht, und sind überzeugt, daß der entfesselten Bestie keine Gelegenheit zu schlecht ist, sie zu ergreifen.

Meine Herren, wenn Sie wüßten, wie be­scheiden die Tigerinnen sind! Sie ergreifen bloß, was sie ergreift oder was sie zu fressen gewillt und imstande sind. Nur die Wanzen und die Eitelkeit sind unersättlich.

In: Der Tag, 14.8.1925, S. 4-5.